Wer war Christel Sonnenberg?
1985 hat Martha Jonas, Erzieherin im Kinderheim Sassnitz auf Rügen, gerade ihr Radio weggeschlossen, als sie ein Auto hört. Ein Mann trägt ein in Decken gehülltes Kind heimlich ins Haus. Hilde Trenkner, die stellvertretende Heimleiterin, erwartet den Neuzugang. Reichlich ungewöhnlich ist nicht nur, dass es mitten in der Nacht ist; normalerweise ist es auch die Polizei, die Kinder aus asozialen Familien oder solchen, die eine Gefahr für das politische System darstellen, bringt.
Marthe hört die zarte, weinende Stimme des kleinen Mädchens. Schön wie ein kleiner Rauschgoldengel erscheint sie ihr, wie sie ihr Monchichi festhält – ein Westspielzeug. Ihr Name sei Christel Sonnenberg, und sie möchte zu ihrer Mama. Sie habe kein Bett, darin liege schon jemand. Marthe begleitet Christel zur Schlafstatt Nummer 052. Das ist eigentlich Judith Keplers Bett, doch diese ist verschwunden, und nur ihre Pantoffeln und ein hässliches Stofftier erinnern an sie. Das muss Marthe klären.
Aber da steht schon Hilde Trenkner in Begleitung des fremden Mannes im Schlafsaal und beordert sie ins Büro. Man habe Judith, die schließlich unter Marthes Aufsicht stehe, mitten in der Nacht aufgegriffen. Marthe wagt kaum Einwände vorzubringen, als ihr das Dokument mit Christels Foto, aber Judiths Daten vorgelegt wird. Als der Fremde, Herr Stanz vom MfS, ihr politisches und pädagogisches Verantwortungsbewusstsein in Frage stellt, hat sie verstanden ...
Wenn wir erfahren, dass Jahre später Judith Kepler für ein Beerdigungsunternehmen arbeitet, fragt man sich natürlich, wer das wohl ist, die da als "Cleaner" gemäß dem Bundesseuchengesetz Wohnungen von Verstorbenen säubert und desinfiziert. Was ist mit der wahren Judith geschehen, und warum hat man Christel im Kinderheim zu Judith gemacht?
Ein interessantes Kapitel um die Erziehungsheime der ehemaligen DDR, deren Züchtigungen die Seelen der Kinder brachen. Die Autorin bringt sehr gut rüber, wie Marthe lavieren muss. Längst steht sie nicht mehr loyal zu dem politischen System. Sie scheint Kontakt aufnehmen zu wollen, denn sie hört hochkonzentriert den Wetterdienst. Der tote Briefkasten sei frei und könne belegt werden ... Womit? Und wie?
Hubert Stanz und seine MfS-Methoden entsprechen ganz dem Klischee. Nach psychischem Druck folgt vorgebliche joviale Großzügigkeit: Da Marthe nun gefügig ist, darf sie selbstverständlich Radio Luxemburg hören.
Ein Krimi, der ruhig beginnt; noch sind unsere Nerven nicht strapaziert. Elisabeth Herrmann wird schon noch einen Zahn zulegen, so dass es mit stetig steigender Spannung schwieriger werden wird, das Buch aus der Hand zu legen. Aber bald kommt ja Karneval, wo man sich für ein ruhiges Lesewochenende zurückziehen kann ...