Visionen eines Wahnsinnigen werden zu erschreckender Realität
Bei seinen Recherchen im Zionistischen Zentralarchiv in Jerusalem fand Alon Hilu das Tagebuch des Juden Isaac Luminsky aus den Jahren 1895 bis 1896 und, ihm beigefügt, Erzählungs- und Tagebuchfragmente eines arabischen Jungen namens Salach, Sohn der berühmten Familie Rajani aus Jaffa, aus derselben Zeit. Auf der Grundlage der beiden Quellen schuf Alon Hilu diesen Roman, der die Ereignisse in Palästina kurz vor der Jahrhundertwende aufschlussreich und reizvoll aus zwei konträren Perspektiven beleuchtet. Der Autor hat überdies versucht, den Originalen sprachlich so nahe wie möglich zu bleiben. Zu diesem Zweck hat er ausdrücklich den ursprünglichen eigentümlichen Sprachstil beibehalten. Wie schön, dass dies auch Markus Lemke gelungen ist, als er den Roman aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzte: Auffällig ist zum Beispiel der typische Satzbau, bei dem das Subjekt am Satzende, das Objekt mitten im Satz steht und Prädikate mit Hilfsverben (müssen, dürfen usw.) oft "verdreht" angeordnet werden. Mir hat diese sprachliche Authentizität gut gefallen, denn sie erleichtert es, in Zeit und Atmosphäre einzutauchen. Manche Passagen wirken geradezu wie Märchen aus tausend und einer Nacht ...
1895 wandert der frisch verheiratete Agronom Isaac Luminsky mit Ehefrau Esther nach Israel aus. Ein Tagebuch zu führen beschließt der Ehemann als Eigentherapie, um irgendwie mit seiner Verzweiflung fertig zu werden, die ihn fast um den Verstand und sein Leben bringt. Die Wurzel seines Leids ist seine schöne königinnengleiche Frau Esther, "gnädige Frau" gennant. Denn die Angebetete mit der Stimme eines Tautropfens entpuppt sich als Mogelpackung; sie entkleidet sich, lockt ihn mit ihren verführerischen Rundungen, um ihn dann aber mit immer neuen Ausreden abzuweisen.
In Jaffa angekommen, reist Isaac durch Israel, das gelobte Land, um sich ein Bild zu machen. Doch all die Verheißungen scheinen nur Lug und Trug gewesen zu sein. Unter agronomischen Gesichtspunkten ist das Land derart schlecht, dass in tausend Jahren nichts wachsen wird, und ebenso korrupte wie faule Kolonialisten leben vom Geld des jüdischen Komitees. Die Araber hingegen, die hier immer schon ansässig waren, leben auf bester Erde, die sie erfolgreich bestellen.
Auf dem Markt der Geldwechsler schaut Isaac, an eine Mauer gelehnt, dem quirrligen, lärmenden Treiben zu. Dabei schweifen seine Augen zu einem kleinen schwarzhaarigen Jungen, leicht ungelenk, nicht recht bei Verstand, in Begleitung einer jungen Araberin. Er grüßt, sie kichert leich verführerisch zurück. Dann entschwinden sie hinter einer Karawane, die durch die Gassen getrieben wird.
Einige Tage später erhält er von oben genannter Dame, Afifa Rajani, eine Einladung auf ihr Landgut, die sie auf Wunsch ihres Sohnes Salach ausspricht. Gern leistet Isaac Folge, denn ebenso wie die ungestillte Begierde (Schließlich ist die gnädige Frau nach wie vor unpässlich.) lockt ihn das Anwesen mit Obstplantagen. Jedoch haben die Pachtbauern mehr schlecht als recht gewirtschaftet, und Isaac erkennt, dass er hingegen hier ein Paradies erschaffen könnte.
Salach, von schüchterner Manieriertheit, ist melancholisch bis hin zur Todessehnsucht. Nur unter Frauen, ohne Kontakt zum Vater, der immer auf Reisen ist, und ohne Umgang mit anderen Kindern lebend, ist er ein einsamer Junge. Voller Phantasien und Visionen sitzt er gerne tagelang in seinem Zimmer. Und wie Isaac vertraut er sich seinem Tagebuch an, schreibt Gedichte und eine spannende Geschichte um Leila und Raschid.
Isaac kann Salach aus seinem Seelentief herausziehen; er spielt mit ihm Ball, klettert auf Bäume, schwimmt mit ihm, gibt ihm Freude daran, sich körperlich zu ertüchtigen. Von nun an wird Isaac zum "Guten Engel". Auch Mutter Afifa hat ihr Vergnügen mit ihm (Der Hausherr ist auf Reisen.). Mit großem Engagement treibt Isaac die Pachtbauern zur Arbeit an, und bald hat er das Anwesen der Rajanis in ein florierendes, ertragreiches Gut verwandelt.
Mit der Rückkehr des kränklichen Vaters und seinem Tod verändert sich Afifa. Sie wird in der Zeit der Trauer vom schlechten Gewissen ob ihres sündigen Lebens geplagt; schließlich ergreift sie der Wahnsinn. Damit wird für Salach aus dem guten Isaac ein böser, verderbter Engel, für den er nur noch Hass empfinden kann. Der Junge verfällt zusehends; seine alten Wahnvorstellungen, in denen er Realität und Fantasie nicht mehr unterscheiden kann, suchen ihn wieder heim. Er verflucht Isaac, gibt ihm Visionen auf den Weg, seine Frau werde ein Mädchen gebären, das schon nach zwei Jahren sterben werde. Sogar auf dem Marktplatz verkündet Salach seine Zukunftsvisionen: "Wenn die Völker Europas die Juden abschlachten, wird eine Welle von Juden kommen, um uns abzuschlachten und zu vertreiben. Mit List, Betrug und Hintergehung werden sie ihre Klauen in unsere guten Böden hineingraben, ihre kotenden Hintern daraufsetzen." Aber die Menge ist aufgebracht und vertreibt ihn mit Steinen.
Der Roman ist ein fantastisches Zeitdokument, das durch seine Bildhaftigkeit und durch die visionären Weissagungen des "verrückten" Salach beeindrucken – die ja leider zu noch viel grausigerer Realität wurden.
Das Stilmittel des Perspektivwechsels – die Beschreibung ein und derselben Situation aus der Sicht Isaacs und der Salachs – legt natürlich den Eindruck nahe, die Erzählung sei im Ergebnis objektiv aufbereitet. Dennoch wird sich der Leser für die weitere Handlungsentwicklung intuitiv für die eine oder die andere Sichtweise entscheiden müssen.
Was die Beantwortung der Frage nach historischer Wahrheit nur noch schwerer macht, ist, dass die beiden Darstellungen einander relativieren und korrigieren. So formuliert Salach seine Entschlossenheit, Isaac durch ein Gift im Getränk umzubringen und ihn zum Duell am Friedhof zu fordern; gemäß Isaacs Beschreibung ist er jedoch so schwach, dass er kaum das Bett verlassen kann.
Sehr ungewöhnlich finde ich, wie freimütig Isaac anno 1895 über seine sexuellen Begierden schreibt. Seine Ansichten von Frauen sind hingegen noch ganz im Zeitgeist gefangen. Das Gehirn der Frau, behauptet Isaac, sei klein, beengt, beschränkt, wie das eines Spatzen, und deshalb könne sie auch kaum über den Schnabel hinaus sehen und verstehen. Dabei hätte ihn doch ein (weniger durch die Probleme des Ehelebens beeinträchtigter) Blick auf seine Frau Esther eines Besseren belehren müssen: Sie hat wie er studiert; sie hat eine zahnärztliche Praxis eröffnet.
Alon Hilus Roman "Das Haus der Rajanis" ist etwas ganz Besonderes – ein Zeitbild voller Poesie, das es mutig wagt, Charakterzüge der Araber wie der Juden offenzulegen und ihr Verhalten zu beschreiben, welches Ursache für einen politischen Konflikt ist, der die Welt nach wie vor in Atem hält.