Zu hart am Wind gesegelt
Jason hat's versiebt. Die Kensington-Schule hat ihn gefeuert. Den Grund macht er lieber nicht publik. Nur sein Vater weiß Bescheid. Das Ende der Karriere bedeutet der Rausschmiss freilich nicht. Jedenfalls nicht, wenn man Prosper heißt. In dem Fall bekommt der Lebenslauf gerade mal eine Beule.
Prosper – der Name ist Programm. Jasons Eltern gehören zur finanziellen Oberliga der USA. Wer dort mitmischt, kann die Zukunft seines Sprösslings erkaufen, egal, wie der sich anstellt oder was er anstellt. Im Fall Jason heißt das: fürs letzte Schuljahr mit den Abschlussprüfungen in die Bellingham Academy umziehen, um dann die familiäre Tradition wieder aufnehmen und in Princeton studieren zu können. Der kleine Umweg hat keinen kleinen Preis: Mr Prosper hat seine Beziehungen spielen lassen und der Schule den Neubau zweier Wohnheime zugesagt.
In der Bellingham Academy ist Jason unter seinesgleichen – eine jeunesse dorée mit dunklen Flecken auf der Markenkleidung. Wegen »Diebstahls, Sex oder Kiffens« von besseren Schulen verbannt und kostspielig hierher entsorgt, sollen die Jugendlichen auf dem Campus der »Delinquenten« ihre letzte Chance ergreifen. Mit Drill und strengen Vorschriften braucht man ihnen nicht zu kommen, denn wer »Unschuld und Ehre« bereits verloren hat, darf mit Nachsicht rechnen, solange er »[sein] Zimmer nicht anzündete und [seine] Mitbewohner nicht vergiftete«. Auf eine handliche Formel gebracht: »Wer zahlte, blieb.« Jason lernte hierdurch »eine wertvolle Lektion: Der Verstoß gegen Regeln konnte zu größerer Freiheit führen.«
Wie mag es in einer solchen durch Geld und Entgegenkommen definierten Bildungsanstalt zugehen? In erster Linie hochglänzend (Architektur, Ausstattung, Angebote), in zweiter Linie spaßorientiert (Sport, Partys, Drogen, Mädchen), in dritter Linie freiheitlich (bloß keine einengenden Reglementierungen), in vierter Linie hierarchisch (populäre Schüler herrschen über Langweiler, alteingesessene über Neuankömmlinge). Lehrer und Unterricht gibt es übrigens auch.
Die Skala des Möglichen ist offen. Yazids Vater beispielsweise (ihm gehört Saudi-Arabiens größtes Traktorenwerk) hat mal eben ein Stück Brachland in Schulnähe gekauft und einen Flugplatz anlegen lassen, damit der Filius kommod an- und abreisen kann. Wenn er nach den beliebig verlängerten Winterferien im angenehm warmen Klima seiner Heimat wieder einfliegt, freut sich jeder auf die »Schischa-Partys« mit erstklassigem Haschisch in seinem Privatzimmer. Um nur keine Langeweile aufkommen zu lassen, hält man Ehrenkodizes hoch, deren sich schon die Väter gebrüstet haben, und auch die grausamen Initiationsrituale an jüngeren Schülern haben eine lange, kaum verhohlene Tradition.
Wie an wohl allen amerikanischen Schulen spielt der Sport, streng leistungsorientiert, auch an der Bellingham Academy eine herausragende Rolle, sowohl für das Image des Instituts als auch des Einzelnen. Eine Siegertrophäe kann das Ausbleiben mancher akademischer Punkte oder Dollars locker kompensieren. Jasons Trumpf ist das Segeln. Schon für Kensington hat er mit seinem damaligen Partner Cal mehrere bedeutende Regatten gewonnen. Immer am Limit, mitten hinein in stürmische Winde und tosende Wellen wollten die beiden engen Freunde segeln. Jasons neue Schule will ihn zu ihrem eigenen höheren Ruhm direkt ins beste Team aufnehmen. Dazu muss er nur einmal sein Talent unter Beweis stellen.
Aber da gibt es zwei Probleme: Der Captain des Bellingham-Segelteams, der ehrgeizige Race (der Name ist Programm), wird sich unterordnen müssen, wenn er mit dem Neuen als Skipper segeln soll. Und Jason, der immer leidenschaftlich gerne segelte, will nach einem schicksalhaften Ereignis eigentlich nie mehr aufs Wasser. Keine guten Vorzeichen also für den Testritt des Zweierteams über die wogenden Wellen. Es kommt zu einem Unfall, in dessen Folge Jason sich von Race und seiner Truppe zurückzieht, anonyme Rachedrohungen erhält und zum Außenseiter wird.
In dieser verfahrenen Lage findet Jason Verständnis und Vertrauen bei einer ebenfalls Ausgegrenzten. Von der rothaarigen Aidan weiß die Gerüchteküche, dass sie eine Schlampe sei und bereits eine Abtreibung hinter sich habe. Nachdem sich die beiden einander zärtlich annähern, sich heimlich am Strand oder in der Bibliothek treffen, eröffnet ihr Jason das entsetzliche Geheimnis, das hinter seinem Schulwechsel steht. Doch ehe Aidan für Jason eine Stabilisierung, eine zuverlässige Partnerschaft, gegenseitige Zuwendung und Liebe bringen könnte, trifft ihn erneut ein tragischer Schicksalsschlag ...
Amber Dermonts Roman »The Starboard Sea« hat bei mir einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen. Einerseits ist die Handlung einsinnig und vorhersehbar, das Weltbild schlicht und reich an Klischees. Die Autorin liefert ein flaches, allenfalls zwischenzeilig kritisches Porträt eines kleinen, aber – in meinen Augen – besonders unerfreulichen Segments der amerikanischen Gesellschaft, das sich durch hohlen Materialismus, Oberflächlichkeit, völligen Mangel an Empathie, Abwesenheit von Ethik, Moral, Kultur und Menschlichkeit auszeichnet und trotz dieser Defizite den Ton angibt. »In guten Kreisen«? In dieser Clique denkt jeder nur an sich, der einzig akzeptierte Maßstab ist der Dollar, der, so glaubt man, alles im Leben kaufen kann. Wer nicht dazugehört, muss dienen (beispielsweise die Lehrer, die »als Butler mit einem Kehrblech hinter euch Jungen herlaufen und euren Dreck wegfegen«) oder wird als underdog diskriminiert. Wer für sich eine andere Orientierung zu finden versucht, wie Jason, Cal und Aidan, grenzt sich selber aus.
Andererseits gestaltet Amber Dermont (übersetzt von Rainer Schmidt) ihre Geschichte sehr lebhaft. Jason, der Ich-Erzähler, ist durchaus ein intelligentes Bürschchen. Er erzählt mit viel Witz und einer Spur Selbstironie auf amüsante Weise, in teils coolem, teils sogar poetischem Tonfall. In den Segelepisoden schäumt das Gischtspritzer-Vokabular für Wassersportfans. Ein paar Krimi-Elemente sorgen für zusätzliche Spannung, der Schluss für Überraschung. Damit bietet das 440-Seiten-Buch reichlich flott zu lesenden Unterhaltungsstoff, ohne den Geist mit schwerer Kost zu belasten.
Wer gute Unterhaltung wünscht und dafür auf Tiefgang zu verzichten bereit ist, findet hier also das richtige Buch, um es auf einer Kreuzfahrt oder – noch besser – an Deck einer Segelyacht zu verschlingen.