Rezension zu »Die Middlesteins« von Jami Attenberg

Die Middlesteins

von


Belletristik · Schöffling & Co. · · Gebunden · 264 S. · ISBN 9783895612022
Sprache: de · Herkunft: us

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Zuviel Fett

Rezension vom 03.06.2015 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Edie Herzen ist der Dreh- und Angelpunkt ihres El­tern­hau­ses. Schon als Fünf­jäh­ri­ge ist sie »ein zement­artiger Klops«, so unfähig wie unwillig, sich zu be­we­gen. Nach ein paar müh­sam er­klom­me­nen Treppen­stufen lässt sie sich ein­fach hinplumpsen: »Ich bin müde ... Trag mich.« Ihr den Wunsch zu erfüllen fällt der Mutter nicht leicht, denn sie hat den Arm voller Einkaufstüten, die Wohnung der Familie liegt im vier­ten Stock, und das Kind bringt satte 28 Ki­lo­gramm auf die Waage.

Leider hat das Mädchen bereits gelernt, ihrem Wunsch nach Bequemlichkeit auch in solchen Situationen durch­zu­set­zen, in denen etwas Anstrengung und Einsicht den anderen und ihr nur gut täte. Sie lanciert ei­nen heftigen Brüller, es­ka­liert ihn zu einem Schreien wie am Spieß, öffnet dazu die Tränenschleusen und wiederholt ihren Imperativ mit emo­tio­na­lem Nachdruck. Leider hat die Mutter nicht gelernt, die Strategie (in der auch »ein winziger Funke Ge­mein­heit« aufblitzt) auf kluge Weise zu konterkarieren, sondern fährt im Gegenteil voll darauf ab. Sie drückt und herzt ihr schweres Schätzchen und fleht es an, doch endlich auf­zu­hö­ren mit dem schmerzlichen (und peinlichen) Wehklagen. Zur Belohnung und Versöhnung steckt sie ihrem Kind ein frisch gebackenes Stück Roggenbrot mit leckerer Le­ber­wurst ins Schnäbelchen, ehe sie es mit all den anderen Lasten auf ihre Arme hievt. Edi hat fürs Leben gelernt: »Es­sen war aus Liebe ge­macht und Liebe aus Essen.«

Natürlich hat Mutters Fürsorge einen Grund. Edies Vater ist ein paar Jahre zuvor aus der Ukraine einge­wandert. Aus sei­nem Vorleben dort weiß er, was es heißt zu hungern. Noch jetzt legt er am Familientisch instinktiv »zur Ab­gren­zung seines Territoriums einen Arm um den Teller« und schaufelt das Essen in sich hinein, ohne mit dem Kauen oder Atmen innezuhalten. Für ihn und seine Frau, die er in Chicago kennen­gelernt hatte, bedeutet Essen Überleben, und niemals soll ihre Tochter hungern müssen. Wen wundert es also, dass Edi ihr Leben lang wie triebhaft isst? Ob süch­tig oder krank, ändern kann sie ihr Verhalten nicht, nicht einmal für die Familie, die sie selbst gründet. Sie hei­ra­tet Richard Middlestein, einen Apotheker, be­kommt einen Sohn (Benny) und eine Tochter (Robin), arbeitet als Anwältin.

Edie Middlestein ist der Dreh- und Angelpunkt ihrer Familie, allerdings in einem negativen Sinn. Ihre Un­mäßig­keit ver­zehrt rasch alle Liebe, und nach wenigen Jahren läutet eine ihrer denkwürdigen Fress­atta­cken das Ende aller ge­mein­sa­men Familienmahlzeiten ein. Mit den beiden Sprösslingen (zwei und sechs Jahre alt) fährt Edie von einem Drive-In zum nächsten, stopft fröhlich in sich hinein, was der Laden bietet, gönnt Richard, der hungrig von der Ar­beit dazu kommt, seinen McRib nicht und zankt sich am Ende mit den Kleinen um die letzten Pommes. Die traurige Episode gipfelt in einem Streit der Eltern, an dessen Ende Richard seine Frau an einen anderen Tisch verweist, wo sie allein in den fettigen Fleischberg beißt.

Über vierzig Ehejahre schaut Richard hilflos zu, wie Edie, die zumeist Gift und Galle speiende Matrone, der fau­chen­de »Dragoner«, zu einem unansehnlichen Kloß mit schwarzen Zähnen im Mund verkommt. Selbst für ihre An­walts­kanz­lei wurde sie nach über dreißig Arbeitsjahren zu einer untragbaren Belastung, und man entließ sie in den vor­zei­tigen Ruhestand. Davon, sich ihrer zu entledigen, träumt auch Richard – und von einer Frau, die noch etwas mit ihm unternimmt, körperliche Liebe mit ihm teilt. Im Internet ist er bereits auf der Suche. Richard will die Scheidung.

Das ist in einer anständigen jüdischen Gemeinde allerdings ein unerhörtes Ansinnen. Sich nach so vielen Ehejahren aus dem Staub machen zu wollen, das gehört sich einfach nicht. Egal was vorgefallen war, jetzt muss auch das bit­te­re Ende gemeinsam durchgestanden werden. Der Rest der Familie ist umso empörter, als es Edie gesundheitlich schlech­ter denn je geht. Sie leidet unter schwerer Diabetes und Kreislaufpro­blemen. Wenn nicht alle an einem Strang ziehen, wird sie sich bald zu Tode gefuttert haben.

Der Familienrat tagt. Als erstes attackieren Tochter Robin und Sohn Benny mit Ehefrau Rachelle den Va­ter, zeihen ihn des Egoismus und strafen ihn, wo es ihn am meisten schmerzt: Er darf seine geliebten En­kel, die Zwillinge Josh und Emily, nicht mehr sehen. Dabei steht bald deren Bar-Mitzwa-Fest an, eine gi­gan­ti­sche Party, bei der der Groß­va­ter eigentlich nicht fehlen darf. Schließlich wird ein allumfassender Plan ent­wi­ckelt: das Sa­nie­rungs­pro­jekt Edie ...

Edie Herzen-Middlestein ist der Dreh- und Angelpunkt von Jami Attenbergs »The Middlesteins« Jami Attenberg: »The Middlesteins« bei Amazon (über­setzt von Barbara Christ). Das ist freilich kein Sach­buch, sondern ein Unterhaltungsroman, der sich des ernsten Themas auf hu­mor­vol­le, wohl auch ironische Weise annehmen soll. Doch so recht wollen Adi­po­si­tas und Komik hier nicht zu­sam­men­fin­den.

Als wäre Edie mit all ihrer Last nicht schwer genug, um einem Roman Gewicht zu verleihen und Struktur zu geben, stat­tet die Autorin auch eine ganze Reihe von Nebenfiguren üppig mit Sorgenpotenzial aus, an­statt sich auf eine tie­fer reichende, differenziertere Ausleuchtung der Protagonistin zu konzentrieren. Ro­bins Männer- und Al­ko­hol­schwie­rig­kei­ten, Rachelles Egozentrik und Hyperaktivität sowie Bennys Duck­mäusertum und Haarausfall – all das lenkt ab vom Zentralcharakter.

Herausgekommen ist unterm Strich das Porträt einer jüdischen Mittelklassefamilie am Rande Chicagos. Wir erleben lau­ter chaotische, eher bemitleidens- als liebenswerte und warmherzige Figuren, die um Edie kreisen, sich über Ri­chard echauffieren und einer Familienfeier entgegentreiben, die zu einem Desaster zu werden droht. Jami Attenberg erzählt das aus mehreren Perspektiven, stilistisch und erzähltechnisch ge­konnt (originell: Episoden, die mögliche Zu­kunfts­ent­wick­lun­gen projizieren), mit einigen satirischen Glanz­lich­tern, aber auch ein paar Schwächen (»Herzeleid«-Schmalz, frivole Sexszenen).

Im Handlungsgefüge belässt die Autorin Edis Adipositas mit all ihren unangenehmen Begleiterscheinun­gen lediglich in der Funktion eines Katalysators, obwohl sie doch in Wahrheit der Auslöser etlicher Kon­flikte sein dürfte. Damit spielt Jami Attenberg eine höchst fragwürdige gesellschaftliche Entwicklung mit immensen gesundheitlichen, psy­chi­schen, sozialen und finanziellen Folgen eher herunter, als sie zu the­ma­ti­sie­ren. In den USA, der Nation mit der welt­weit führenden Adipositasrate von rund 34 Prozent, war »The Middlesteins« ein Bestseller.

Fazit: Ein unterhaltsamer, aber unentschlossener, unnötig weitläufiger Roman, der ein individuell und ge­sellschaftlich bedeutendes Pro­blem unserer Zeit zu leichtfüßig abhandelt. Die Geschichte lässt uns eher ratlos als verständig, eher gleichgültig als betroffen und eher verwundert als amüsiert.


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