Solidarität und Verrat
Bis heute hat Ruth es nicht verwunden, dass sie die Anzeichen nicht richtig gedeutet hatte. Seitdem sie mit ihrem Ehemann Hans nach London emigriert war, hatte er sich verändert ...
Ruth Becker stammt aus einer oberschlesischen Fabrikantenfamilie. »In meiner Familie gab sich niemand je mit körperlicher Arbeit ab ...Wir gehörten zu Deutschlands aufgeklärten Juden, weltlich gebildet und preußischer als die Preußen.« Hans Wesemann kommt dagegen aus einem Pastorenhaushalt. Sein Leben »war einerseits geprägt von der ehrlichen, praktischen Notwendigkeit körperlicher Arbeit und andererseits von ihrer absoluten Sinnlosigkeit angesichts der kommenden Apokalypse«. Während Ruths Eltern die Verbindung nicht gerne sehen, bedeutet sie für die junge Frau eine Befreiung von der Last der bürgerlichen Werte und der Privilegien, die ihr allein durch die Geburt zuteil wurden. Die Hochzeit feiert man im Kreis politisch engagierter Freunde (Sozialdemokraten) in Breslau.
Die kurze Phase der Weimarer Republik nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ist in mancherlei Hinsicht eine Blütezeit. In der Weltstadt Berlin geht die Post ab. Die intellektuelle Bohème, zu der auch Hans und Ruth zählen, genießt die ›Goldenen Zwanziger‹. Doch im Land brodelt es. Das soziale Ungleichgewicht, Massenarbeitslosigkeit, Weltwirtschaftskrise, Inflation und eine schwach erscheinende Regierung lassen den Wunsch nach einem ›starken Mann‹ aufkommen, der wieder ›Ordnung schaffen‹ soll. Hitler und seine nationalsozialistischen Schlägertruppen setzen sich lärmend durch.
Hans Wesemann arbeitet als anerkannter Journalist bei der »Welt am Montag«. Seine satirischen Kolumnen, anfangs noch voller Humor, werden mit Hitlers Aufstieg aggressiver und bissiger. Nachdem 1928 während einer Hitler-Rede im Sportpalast das Mikrophon versagt hatte, ätzt Hans: »Da wurde die berühmte Brülltechnik des Großen Adolf geboren.« Besonders gern nimmt er den »unverkennbar semitisch aussehenden« Propagandaminister Goebbels aufs Korn. Der schlägt in der Parteizeitung »Der Angriff« drastisch zurück, dass »dieser edle Federheld die Provinz mit den Exkrementen seines kranken Gehirns« heimsuche. Den Prozess gegen Wesemann wegen Verleumdung verliert Goebbels allerdings.
Doch nach Hitlers Machtergreifung, dem Reichstagsbrand und der Gleichschaltung der Presse im Frühjahr 1933 bleiben keine Spielräume mehr für kritischen Journalismus. Hans und Ruth verlassen Deutschland wie so viele andere Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler (die »Emigrandezza«, witzelt man). In London fühlen sie sich sicher, doch politische Aktivitäten sind den Deutschen nicht gestattet. Scotland Yard überwacht sie alle, und jegliche Agitation gegen Nazideutschland hat die Ausweisung zur Folge. Kein Wunder, dass der einst vielbeachtete Journalist Wesemann sich jetzt für nutzlos hält, sein Selbstwertgefühl verliert.
Ebenfalls nach London geflüchtet war Ruths Cousine Dora Fabian. Schon als vierzehnjährige Jungsozialistin hatte sie 1915 vor den Krupp-Fabriktoren gegen die Rüstungsindustrie demonstriert, später war sie in der pazifistischen SPD-Abspaltung USPD aktiv und arbeitete schließlich im Untergrund an der Seite der sozialdemokratischen Journalistin Mathilde Wurm, um »die restliche Welt vor Hitlers Kriegsplänen zu warnen«. Dora, eine Jüdin, verfügt über geheime Kontakte bis hinauf zu Informationsquellen in Deutschlands Machtzentrale. Ihrer Cousine Ruth vertraut sie, aber gegenüber Hans hegt sie Misstrauen.
Am 1. April 1935 werden Dora und Mathilde leblos nebeneinander im Bett aufgefunden. Die britische Untersuchungskommission stellt einen Doppelsuizid fest. Diesem Befund widerspricht die australische Schriftstellerin Anna Funder (*1966) mit ihrem Roman »All that I am« , den Reinhild Böhnke übersetzt hat. Nach ihrer Auffassung handelte es sich um eine geplante Verschwörungstat mit Drahtziehern aus Nazideutschland. Hans Wesemann war demnach unter seiner Angst vor Ausweisung und in seiner verordneten Bedeutungslosigkeit (»Ich – bin – niemand.«) mürbe geworden, hatte sich kaufen lassen, war zum Verräter geworden.
Im Jahr 1985 lernt Anna Funder in Melbourne Ruth Blatt kennen. Zwischen der Schriftstellerin und der sechzig Jahre älteren Zeitzeugin (aus der im Roman die Protagonistin Ruth Becker wird) entwickelt sich ein reger Gedankenaustausch in persönlichen Gesprächen und Briefen. Dabei vertraut die einzige noch lebende Person aus der Gruppe der im Ausland agierenden Widerständler des Naziregimes der Autorin ihre Lebensgeschichte an. Indem Anna Funder sie zu einem Roman aufbereitet, schenkt sie den in Vergessenheit geratenen Helden ein neues Leben.
Die Ereignisse werden alternierend aus zwei Ich-Perspektiven erzählt: die der hinfälligen, leicht dementen Ruth Becker, die nach einem Sturz im Krankenhaus liegt und demnächst in eine palliative Betreuung entlassen wird, und die des deutschen Schriftstellers, Pazifisten und sozialistischen Revolutionärs Ernst Toller (1893-1939).
Als Kriegsfreiwilliger der ersten Stunde erlebt er das Grauen in den Schützengräben, kämpft tapfer, erleidet im Mai 1916 einen vollständigen Zusammenbruch, wird 1917 als für den weiteren Kriegseinsatz untauglich befunden und wendet sich dann der Literatur und der Politik zu. In München lernt er die junge Dora Fabian kennen, die seine Sekretärin und Geliebte wird. In der Münchner Räterepublik (1918) spielt er eine wesentliche Rolle, wofür er nach deren Niederschlagung eine fünfjährige Festungshaft verbüßen muss. Als Schriftsteller vollzieht Ernst Toller eine bemerkenswerte Entwicklung vom expressionistischen Ideen- und Stationendrama (»Die Wandlung«, 1919; »Masse Mensch«, 1920) zum modernen Avantgardetheater der Weimarer Zeit (»Hoppla, wir leben!«, 1927).
Schon vor Hitlers Machtergreifung flüchtet der prominente Sozialist und Jude Toller nach London und emigriert dann 1935 in die USA. Im Mai 1939 bewohnt er ein Zimmer im New Yorker Hotel Mayflower, das er, von Depressionen geplagt, ständig düster hält. Zusammen mit der Sekretärin Clara will er hier endlich seine Lebensgeschichte »Eine Jugend in Deutschland« fortführen, die zu schreiben er sechs Jahre zuvor abbrechen musste. Er hat festgestellt, dass seine Memoiren »auf subtile, beschämende Weise selbstverherrlichend« sind, indem er »jemanden ... nicht berücksichtigt« hat – Dora Fabian, »deren tapferer Tat ich die Rettung dieser Manuskripte verdanke« und »deren Leben traurig endete«. In der Ergänzung will er »Doras Stimme in meinem Ohr und ihren Geruch in der Nase« spüren, und »ich brauche das Präsens wie einen Zauber«, um »aus Dora keine schlechte Version ihrer selbst« werden zu lassen. Am 22. Mai 1939 aber erhängt sich Ernst Toller, ein tief enttäuschter Idealist.
Aus Tollers Autobiographie, die Ruth glücklicherweise noch zu Lebzeiten erreicht, und ihren eigenen Erinnerungen entsteht ein packender Roman, der tief in der Historie verwurzelt ist. Mutige Männer und emanzipierte Frauen folgten ihren Idealen einer friedlichen, gerechteren Welt und kämpften unermüdlich gegen Krieg und Totalitarismus. Ebenso beeindruckend ist, wie sie ohne Wenn und Aber füreinander einstanden und dafür ihr Leben aufs Spiel zu setzen bereit waren. Umso schwerer wiegt, dass mancher, der vertrauensvoll und geborgen in ihrer Mitte lebte, sie betrügen und verraten konnte.
Ernst Toller habe sich, so heißt es, »in völliger Verzweiflung über die Trägheit der demokratischen Welt« *) umgebracht. Seine Initiativen, die offizielle Politik gegen die totalitären europäischen Regime zu mobilisieren, waren kläglich gescheitert. In Funders Roman wird auch das oft äußerst fragwürdige Manövrieren der Weltmächte nicht ausgespart: Großbritanniens appeasement-Strategie verschafft Hitler Zeit und Anerkennung; die USA verbieten dem Flüchtlingsschiff ›St. Louis‹, in Havanna anzulanden, verweigern den jüdischen Passagieren an Bord Einreisevisa und erzwingen die Umkehr des Schiffs nach Europa ...
Anna Funders »Alles was ich bin« ist ein weiterer Beleg dafür, dass uns das Schicksal längst in Vergessenheit geratener Menschen tief berühren kann. Es bedarf nur begabter Autoren, ihnen wieder Leben einzuhauchen.