Rezension zu »Ganz normale Helden« von Anthony McCarten

Ganz normale Helden

von


Belletristik · Diogenes · · Gebunden · 453 S. · ISBN 9783257067941
Sprache: de · Herkunft: nz

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Flucht: Das reale Leben im Virtuellen leben

Rezension vom 24.09.2012 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Donalds Todestag jährt sich bald zum ersten Mal. Mit nur 14 Jahren starb er – der Titelheld in Anthony McCartens Roman "Superhero" – an Leukämie. Nun lässt uns der neuseeländische Autor in "Ganz normale Helden" ("In the Absence of Heroes", übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié) Einblick nehmen, wie Familie Delpe heute ihren Alltag bewerkstelligt.

Mutter Renata, Vater Jim und Jeff, der Erstgeborene, sind nicht mehr die, die sie einstmals waren. Bis heute haben sie Schmerz, Trauer und Verlust nicht überwunden. Nie waren sie in der Lage, ihren Absturz durch Trost, Liebe, Zuwendung, Anteilnahme oder Gespräche in Gemeinsamkeit zu verhindern oder aufzuhalten. Sie haben sich isoliert, sich in ihre Schneckenhäuser zurückgezogen, selbst ein vorsichtiges Beäugen oder Herantasten vermieden. Bloß nicht dem anderen seinen eigenen Schmerz zeigen, denn das könnte ihn zusätzlich belasten, und schließlich kann man sich ja selber kann noch etwas draufsatteln.

Jeff, 19, erträgt die familiäre Situation nicht mehr. Er igelt sich bei lauter Musik in seinem Zimmer ein und treibt sich – zum Missfallen des Vaters – stundenlang im schädlichen Internet herum. Wie aufgewühlt seine Seele ist, wie sehr ihm der Bruder fehlt, das interessiert ja sowieso keinen. Während Donald immer Mums Liebling war, ist er der Schulversager, der Lügner.

Übermutter Renata macht heute mehr denn je ihren Haushalt zum Mittelpunkt ihrer Bestimmung. Jeff geht sie mit ihrem Kontrollwahn so auf die Nerven, dass er nur auf den nächsten Ärger wartet, um endlich abzuhauen. Lange genug hat er ausgeharrt, nur um die Partnerschaft seiner Eltern noch zu kitten. Aber da ist nichts mehr; das Kartenhaus wird zusammenbrechen ...

Immer wieder nimmt Renata Anläufe, mit ihrem Mann Jim über ihre Gefühle zu sprechen, aber er nimmt sie nicht ernst: Sie sei depressiv, ein Fall für den Psychiater. Wem soll sie sich also anvertrauen? Sie flüchtet sich ins Web, stößt auf eine religiöse Internetseite und chattet mit einem Wildfremden, der für sie zur höchsten Instanz wird: Gern stellt sie sich vor, das sei "Gott", der da auf sie eingeht, wenn sie ihr Herz öffnet und Dinge ausspricht, die anscheinend anonym leichter über die Lippen bzw. Tasten gehen.

Jim arbeitet noch immer als Anwalt in einer Gemeinschaftskanzlei. Eine zweite Fluchtmöglichkeit bietet ihm sein neues Wochenendprojekt: ein Haus auf dem Land. Wenn alle Umbaumaßnahmen abgeschlossen sind, wird die Familie London verlassen und hier einen neuen Anfang machen. Einen Hund hat er auch schon mal eben gekauft. Natürlich macht er sich etwas vor, denn die unbewältigten Probleme sind mit all dem nicht aus der Welt. Kaum zu Hause, geht er allem aus dem Weg, besonders Renata, obwohl er sich nach deren Liebe eigentlich sehnt. Aber zwischen ihnen erhebt sich ein unüberwindlicher Wall an Schuldvorwürfen.

Nun ist Sohn Jeff verschwunden und nirgendwo mehr zu erreichen. Sein Handy hat er demonstrativ liegengelassen, eine Adresse nicht genannt. Renata kommt um vor Sorge, startet die absonderlichsten Suchaktionen, sprüht nachts auf eine Mauer an der Autobahn in riesigen Buchstaben "Jeff Delpe ruf mich an – Mum."

Zufällig hat Jim ein Telefonat seines Sohnes mit einem Fremden mitgehört: "Wir treffen uns auf Level eins ... Mein Avatar heißt Merchant of Menace". Dieser Spur muss Jim folgen. Sie führt ihn in ein Internet-Rollenspiel für Erwachsene, ein "Massive Multiplayer Online Role Playing Game" mit dem Titel "Life of Lore" ("LoL"). Mit Hilfe eines Kollegen erlernt Jim die Game-Sprache und meldet sich selbst auf der Plattform an; als seinen Spielernamen wählt er "AGI" (für "adjusted gross income", bereinigtes Bruttoeinkommen) ...

Nach und nach wird Jims virtuelles Leben zu seinem realen Leben. Mehr und mehr verliert er die Orientierung; in der Kanzlei unterlaufen ihm schwere Fehler. Jim wird süchtig, muss er doch die Aufgaben des Spiels schnellstmöglich bestehen, um von Level zu Level ganz nach oben zu kommen. Merchant of Menace, einer der ganz Großen, ist längst dort angekommen. Um ihn zurückzuholen, wird AGI (ebenso wie Jim, der Mann an der Tastatur) in seine eigene Horrorfratze schauen müssen ...

McCartens Roman ist schnell gelesen. Die Szenen einer Ehe, die daran scheitert, dass Kommunikation wie in zwei Parallelwelten aneinander vorbeiläuft, sind überzeugend und glaubwürdig. Renata und Jim sind zwei Ertrinkende, die ihre Schwimmreifen nur gegenseitig aufpusten müssten, aber die Kraft reicht kaum zum Atmen. Es tut weh, wenn man Renatas Hilferufe liest, die doch nur beim Pseudo-Gott im Web ankommen, sie aber immerhin vor dem letzten Schritt bewahren zu können scheinen.

Als Nicht-Gamer kann ich nicht beurteilen, ob LoL authentisch gezeichnet ist, aber das ist sicher ohnehin eher sekundär. Literarisch wechselt der Autor zwischen Action-Szenarien in gruseligen Welten und anderen Zeiten – bei Abschuss Rückkehr ins Reinkarnationszentrum zur Neuidentifikation – und Dialogen zwischen AGI und diversen Mitspielern. Wirklich mitgerissen wurde ich nie, und die Internet-Spielszene ist mir auch nach dieser Lektüre fremd geblieben.

Vielleicht passend zum Horror des Spiel-Genres gestaltet der Autor leider nicht minder detailliert allerlei Sexualpraktiken, insbesondere der Schwulen. Nach meinem Ermessen sind diese Passagen unnötig und primitiv, ja ekelerregend. Nicht jeder möchte das vorgesetzt bekommen. Nachdem in den Kinos gerade jetzt die "Superhero"-Verfilmung "Am Ende eines viel zu kurzen Tages" angelaufen ist, werden womöglich auch etliche Jugendliche zu diesem Nachfolge-Roman greifen – und ihr blaues Wunder erleben, was sie da noch an Steigerung erwartet ...

 

Interessant ist das Sujet einer surrealen Vater-Sohn-Beziehung im Internet allemal, und der Roman bietet genug Diskussionsanreize über die zunehmende Kontaktarmut unserer Gesellschaft, über die Suche nach Ersatz im Internet bei wahren und bloß virtuellen Freunden, über die Ablenkung von Alltagssorgen (bis hin zu deren Verdrängung) durch intelligente Second-Life-Games – und trotz seiner Qualitäten hinterlässt mich dieses Buch frustriert ...


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