Flucht und Suche auf der Schwelle des Erwachsenwerdens
Die 17-jährige Ich-Erzählerin wächst in London bei Dad und Stiefmutter Daphne auf. Nur Dad zuliebe hatten sich die Großeltern um sie gekümmert, bis sie verstarben. Für Daphne, die mit Dad ein kleines Café betreibt, ist die junge Frau lediglich das ungewollte Produkt ihrer damals erst 14-jährigen, unreifen Mutter Lily. Liebe erlebt das Mädchen nie. Wir werden nicht einmal ihren Namen erfahren.
Die Haut eines Menschen erzählt viel über seine Seele. So verwundert es nicht, dass der Körper der Erzählerin Kratzer, Narben, Schnittwunden aufweist. Sie ist durch Brombeerbüsche gekrochen, um wenigstens den Schmerz als Gefühl zu spüren, und hat sich durchs Leben geprügelt.
Über Lily spricht man nicht. Sie ist ein Tabu. Mit 17 hat sie sich davongemacht, ist nach Amerika abgehauen, hat sich nie mehr gemeldet.
Nun ist Lily tot. Jemand hat deshalb aus Los Angeles angerufen, und schon hat die Erzählerin Daphnes Kreditkarte geklaut, damit einen Flug dorthin gebucht und ihren Rucksack gepackt. Jetzt steht sie im Pink Hotel in Venice Beach, Kalifornien. Was mag hier abgegangen sein? Eine Mega-Party? In allen Etagen stinkt es nach Alkohol, Drogenhauch weht ihr entgegen, Leute hängen ihren Gedanken nach, sprechen über die Verstorbene. Sie kam immer zu spät; "selbst ihre eigene Beerdigung hätte sie verpasst".
Was hat die Erzählerin hier verloren? Sie ist auf der Suche, hat Sehnsucht nach etwas, was von ihrer Mutter geblieben ist. In der obersten Etage betritt sie deren private Wohnung. Sie konzentriert sich auf das Ambiente - Chaos überall -, nimmt die Raumdüfte wahr, lässt Wasser in die schmutzig besprenkelte Wanne einlaufen, denkt an Dad und Daphne, die in ihrem Café wütend über sie fluchen werden: die Kleptomanin, die Schulabbrecherin, der Nichtsnutz.
Eigentlich will die Erzählerin umgehend nach London zurückkehren. Lily wird sicher nichts dagegen haben, wenn sie ein paar Klamotten, Schuhe, Lippenstift, Sonnenbrille, Fotos, Briefe, Ansichtskarten in einen ramponierten roten Koffer packt, zwanzig Dollar mitgehen lässt und dann abhaut. Doch sie bleibt einen Sommer lang.
Anna Stothards Roman Pink Hotel, den Hans M. Herzog und Astrid Arz übersetzt haben, berührt auf ganz besondere Weise. Die Erzählerin schlüpft in die Kleidung, in die Haut ihrer Mutter, versucht sie irgendwie zu erspüren, biologische Gemeinsamkeiten zu entdecken. Lily war ein aufreizendes blondes Ex-Model. Nichts davon hat die Erzählerin: Sie ist burschikos, dunkelhaarig mit Basecap, unauffällig; in Lilys Stilettos und dem schlecht sitzenden roten Kleid stakst sie unbeholfen durch die Gegend. Sie passt nicht in Lilys Welt, deren glamouröser Glanz nur noch auf alten Werbefotos zu sehen ist. David Reed, heute ein Paparazzo, war damals Lilys Modefotograf, hatte mit ihr ein Shooting. Ob er sie geliebt hat?
David hat die Erzählerin beobachtet, als sie sich mit dem geklauten Koffer aus dem Hotel schlich, und sie später am Strand wieder entdeckt, wo sie auf einer Bank schlief. Bei ihm findet sie kurzzeitig eine Bleibe, und dort spürt die Erzählerin zum ersten Mal in ihrem Leben eine sexuelle Zuneigung zu einem Mann. David erwidert sie liebevoll, und er erzählt ihr ein wenig von Lily. So erfährt sie von einem tödlichen Motorradunfall ... Doch gänzlich unbegründet entzieht David sich ihr wieder, haut einfach ab. Warum? Hat sie ihn enttäuscht? Mit dieser Wendung im Handlungsverlauf erhält der Roman einen spannenden Drive - und wird ein Ende nehmen, das man nicht erwartet hat.
Anna Stothard wurde 1983 in London geboren und hat Literatur und später Drehbuch-Schreiben am American Film Institute in Los Angeles studiert. Dort wohnte sie in der Nähe des Pink Hotels. Nach "Isabel and Rocco" ist "Pink Hotel" ihr zweiter Roman. Er zeichnet sich durch einen sehr individuellen, jugendlichen Sprachstil aus. Nicht jedem Leser - vor allem Liebhabern traditioneller Literatur - wird der Zugang zu Plot und den Charakteren leicht fallen; die Urteile werden möglicherweise weit auseinander gehen. Auch ist musste mich erst eingewöhnen, habe etliche Textstellen zwei Mal gelesen - und war am Ende positiv eingestellt zu dieser Erzählung über eine Selbstfindung und das Erwachsenwerden, die auch eine Liebes- und eine Kriminalgeschichte ist.