Rezension zu »Amnestie« von Aravind Adiga

Amnestie

von


In Sidney geraten ein tüchtiger illegaler Billigarbeiter und ein Mörder in eine Zwickmühle gegenseitiger Abhängigkeit. Doch was hat den jungen Tamilen überhaupt nach Australien verschlagen?
Belletristik · C.H. Beck · · 286 S. · ISBN 9783406755514
Sprache: de · Herkunft: us

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Leben in der Unsichtbarkeit

Rezension vom 25.02.2021 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Nur einen einzigen Tag seines Lebens erzählt uns Danny. An seinem Ende haben wir mit ihm nicht nur sein aktuelles persön­liches Dilemma durch­litten, sein Schicksal durch Natur­katas­trophe, Bürger­krieg und Flucht nachvoll­zogen, seine Nöte in der Illega­lität miterlebt, sondern auch haut­nahen Einblick bekommen in die gewal­tigen Mecha­nismen, die die Globali­sierung in Gang gesetzt hat.

Danny heißt richtig Dhananjaya Rajaratnam, und er wurde 1990 als Tamile in Sri Lanka geboren. Damit hatte er kein Glückslos gezogen. Schon seit 1983 hatten sich Singha­lesen und Tamilen einen grausamen Bürger­krieg geliefert, der trotz einer Waffen­still­stands­verein­barung im Jahr 2009 mit unvermin­derter Bruta­lität weiter tobte. Als wäre »ein Fluch über ein Land« noch nicht genug, traf 2004 ein Tsunami auf Sri Lanka, kostete Tausende Menschen­leben und brachte unsäg­liches Leid. Dhanan­jaya hilft, wo er kann, sieht das Elend mit eigenen Augen, erlebt neue Unge­rechtig­keiten und Demüti­gungen, bis er inner­lich »die verdammte Pflicht abzu­hauen« verspürt. In seinem zerris­senen, zerstör­ten Heimat­land sieht er keine Chance auf Glück.

Gescheit, ehrlich und tüchtig, wie er ist, plant er einen Neuanfang in Austra­lien. Dazu gibt er sich zunächst einmal einen hand­licheren Namen und kauft sich ein Studenten­visum. Ein Zwischen­aufent­halt in Dubai soll »Danny« Geld bringen, endet aber in einem Verhör mit Folterung, weil er für einen Terro­risten gehalten wird. In Sydney lehnen die Behörden sein Asyl­gesuch dennoch ab. Weder die frischen Wundmale der Folter noch Dannys Armuts­behaup­tung können sie über­zeugen. So taucht er in die Illega­lität ab und schlägt sich vier Jahre lang in Sydney durch.

Das Studium hat Danny schnell geschmissen, als ihm klar wurde, wie bedeu­tungslos es für ihn ist, denn einer wie er bekommt auch mit College­abschluss keinen Arbeits­platz. Er muss Geld verdienen. Bald erringt er sich einen guten Ruf als stets gut gelaunter »legen­därer Putzmann«, und im Super­markt eines eingebür­gerten Griechen kann er Regale bestücken und den Laden sauber­halten. Am Abend hält der griechi­sche Ausbeuter die Hand auf und kassiert seinen Anteil an Dannys steuer­freien Einnah­men. Eine Hand wäscht die andere – zum Dank darf Danny im Lager­raum schlafen.

Dann bricht der Tag an, an dem sich alles entschei­den soll, und in Minuten­taktung wird nachvoll­zogen, wie unser armer Held in eine Mord­ermitt­lung hinein­gezogen wird. Wie jeden Morgen macht er sich auf den Weg zu seinen Stamm­kunden, auf dem Rücken sein Turbo-Staub­sauger wie ein Astro­nauten-Jet-Pack, in der Hand ein Beutel voller Arbeits­utensilien.

Um 8.57 Uhr legt er im Apartment des Anwalts Daryl los, steckt nach wie stets gewissen­haft getaner Arbeit die für ihn bereitge­legten Geld­scheine ein und will gerade die Wohnung verlassen, als ihn ein Polizist anranzt, ob er hier wohne. Gegenüber sei »was los«. Erleich­tert, dass es nicht um ihn geht , zieht sich der Putzmann in das sichere Apartment zurück. Lauschend erfährt er, dass im Gebäude gegenüber eine verhei­ratete Frau getötet wurde, und nun saugt ein gefähr­licher Strudel ihn ins Verderben.

Denn Danny hat seit ein paar Monaten auch bei der Ermor­deten geputzt und war für sie eine Art Maskott­chen geworden. Wenn Radha Thomas mit ihrem Lover, dem arbeits­losen Arzt Dr. Prakash, die Abende in Spiel­höllen ver­brachte, nahm sie Danny (Spitzname »Nelson Mandela«) zur Unter­haltung mit. Für Danny scheint die Sache klar: Er hielt Dr. Prakash, einen Inder, schon immer für verrückt, und nun wird er wohl gewalt­tätig geworden sein. Doch was soll er tun? Wenn er seine Vermutung der Polizei meldet, gerät er leicht selbst unter Verdacht, fliegt als Illegaler auf, wird ins grausame Inter­nierungs­lager gesteckt und abge­schoben.

Dummerweise meldet er sich ziemlich unge­schickt bei Dr. Prakash, der kein Problem hat, eins und eins zusammen­zuzählen. Nun haben sich auch diese beiden – der Illegale und der Mordver­dächtige – gegen­seitig in der Hand. Es beginnt ein psycholo­gisches Taktieren der beiden Männer, ein telefo­nisches Hin und Her, das uns über viele Roman­seiten beschäf­tigt und Danny zermürbt. Wer sich zuerst bewegt, zieht den anderen mit in den Abgrund. Dannys Gedanken kreisen ständig um Asyl, um Recht und Gesetz, um Armut und Reichtum, und wie nebenbei erfahren wir alles aus seiner Vergangen­heit und seiner Jetztzeit.

Der Mordfall liefert im Vorder­grund den span­nenden Handlungs­faden, der den Protago­nisten bis zum erlösen­den Ende voran­treibt. Wie die Sache ausgeht, ist den Medien nicht mehr wert als eine unschein­bare Kurz­meldung, die wir am Ende des Romans lesen dürfen. Was sie nicht berichten, ist das weite Feld, in dem sich Dannys Schicksal ent­wickelt. Auf beste­chende Weise breitet es der indische Schrift­steller Aravind Adiga durch die indivi­duelle Perspek­tive seines intelli­genten Erzählers aus. Es ist ein Mix aus feinen, poin­tierten Beobach­tungen der Umwelt, der bunt durch­mischten Bevöl­kerung – japani­sche Brasi­lianer, indische Aus­tralier –, aus Erzäh­lungen über seine Herkunft und seinen Alltag, aus perma­nentem Reflek­tieren, Hadern, Abwägen, Entschei­den, Verwerfen und optimis­tischem Neubeginn. Trotz der eigent­lich tragi­schen Grund­situation bewahrt sich unser moralisch auf­rechter Held eine selbst­bewusste, humor­volle Konsti­tution.

Ein maßgebliches Anliegen des Autors ist, den Lesern Mecha­nismen der Globali­sierung und deren Konse­quenzen für Menschen in Entwick­lungs- und Schwellen­ländern offen­zulegen. So sieht sich sein kluger Danny als Teil­nehmer an »großen inter­nationalen Welt­meister­schaften«. Bei diesen absurd anmu­tenden »Spielen« »rannten Menschen aus Ländern, die brannten, in Länder, die noch nicht brannten […], während eine andere Gruppe von Menschen versuchte, sie aufzu­halten, hinzu­halten, zu fangen oder zurückzu­schicken«. Lokal betrach­tet, halten Illegale die Wirt­schaft des austra­lischen Konti­nents am Laufen und sorgen für erhöhte Gewinn­margen. Global betrach­tet, sind sie Auf­steiger auf einer Art Roll­treppe des Wohl­stands. Beispiels­weise ernten Mittel­schichtler aus Malaysia (Journa­listen und Archi­tekten etwa) Obst und Gemüse in Austra­liens Sonnen­glut, weil sie damit mehr Geld verdienen als in ihren Berufen in der Heimat. (Weil sie sich dafür schämen, behaupten sie zu Hause, im Urlaub gewesen zu sein.) Gleich­zeitig rücken aus Bangla­desch bitter­arme Wander­arbeiter nach, um illegale Billig­arbeit in Malaysia zu verrich­ten. Wenn­gleich solche Exkurse den Unter­haltungs­aspekt des Krimi-Plots schwächen und für Nach­denklich­keit sorgen, ist es legitim, bei Belle­tristik-Lesern das Bewusst­sein dafür zu wecken oder zu schärfen, was die Globali­sierung, die wir Europäer aus dem Lager der Profi­teure betrach­ten können, mit den Menschen anderswo anrichtet.

In der snobistischen, oberflächlichen Wohl­stands­gesell­schaft Sydneys hat sich Danny, wie es scheint, perfekt unauf­fällig einge­richtet. Er weiß, wodurch Ausländer oft anecken, und bemüht sich deshalb, alle Regeln pein­lichst genau einzu­halten. Er achtet auf seine Körper­haltung, er spricht nahezu akzent­frei. Verleug­nen will er sich aber nicht. Vielmehr feilt er gezielt an seinem Image. Er möchte als »selbst­bewusst schräg« wahrge­nommen werden, denn Austra­lier gieren nach solchen Typen. Obwohl er zu einer wenig geschätz­ten Minder­heit gehört, wird er gern akzep­tiert, »weil du nicht so warst wie alle anderen«.

Um zu überleben, darf Danny bei seinen Jobs nicht wähle­risch sein. Die billige Konkur­renz anderer illegaler Migranten wie Chinesen und Nepalesen schläft nicht. »Vier Männer zum Preis von einem«, jeder kämpft gegen jeden. Eingebür­gerten Migranten sollte man aller­dings aus dem Weg gehen, lernt er: »Ein Kinder­spiel, unsicht­bar für die Weißen zu werden, die einen sowieso nicht ansehen, aber richtig schwierig, unsicht­bar für die braunen Menschen zu werden, die dich immer sehen, egal, was du machst.«

Mit »Amnesty«, einer Art Globalisierungs­thriller also, den Ulrike Wasel und Klaus Timmer­manns pfiffig übersetzt haben, folgt Aravind Adiga, 1974 geboren, dem Erfolgs­rezept seines Debüt­romans. In »The White Tiger« (»Der weiße Tiger«) schuf er ein quirliges, unge­schöntes, vielschich­tiges Porträt des modernen Indien, abseits jeder roman­tischen Exotik, geschil­dert von einem komplexen Charakter in witzigem, fesseln­dem und intelli­gentem Ton, und erhielt dafür 2008 den Booker Prize. »Amnestie« lässt einen ebenso agilen und klugen Protago­nisten auf­brechen, um sein Glück im Ausland zu suchen, und auch seine Erleb­nisse werden auf litera­risch ungewöhn­liche, oft sehr komische Weise präsen­tiert.


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