Rezension zu »Marseille.73« von Dominique Manotti

Marseille.73

von


In Marseille ermordet ein Algerier einen weißen Busfahrer. Die Tat löst eine rassistische Hetze gegen die nordafrikanische Bevölkerung aus. Wenige Tage später wird ein sechzehnjähriger Algerier ohne jeden Anlass erschossen. Niemand scheint Interesse an der Aufklärung dieses Mordes zu haben.
Politthriller · Ariadne · · 400 S. · ISBN 9783867542470
Sprache: de · Herkunft: fr

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Gelehrter Thriller

Rezension vom 21.02.2021 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Seit 1830 war Algerien eine französische Kolonie. Erst 1962 erlangte das Land nach einem Referen­dum, einem Putsch und Terror­akten wieder seine Unab­hängig­keit. Hundert­tausende Algerien­franzosen und Flücht­linge zogen nun nach Frank­reich, doch blieben sie dort unin­tegriert. Im öffent­lichen Leben beider Länder wurden die unruhigen Jahre und teilweise unrühm­lichen Vorgänge der Loslösung bis in die Neunzi­gerjahre weit­gehend verdrängt und tabui­siert. In Frank­reich brachen in der wach­senden Schicht der an den Rand gedräng­ten Migranten immer wieder gewalt­tätige Unruhen aus, die in der einhei­mischen Bevöl­kerung Unver­ständnis und Hass bewirkten. Brenn­punkte solcher Ereig­nisse waren die Vorstädte der Metro­polen wie Paris und der südlichen Hafen­stadt Marseille.

In diesem Kontext trägt sich die Handlung von Dominique Manottis Roman zu. Die Autorin konzen­triert sich auf einen Zwischen­fall aus dem Jahr 1973, den sie für bezeich­nend erachtet, deswegen in allen Details analy­siert und seine Hinter­gründe heraus­arbeitet. In den Nach­bemer­kungen fasst sie die Fakten­lage zusammen: »Laut der algeri­schen Botschaft in Frank­reich hat die Krise vom Sommer und Herbst 1973 in der algeri­schen Bevöl­kerung von Marseille ca. 15 Tote gefordert, rund 50 in ganz Frank­reich. […] Über den gesamten Zeitraum dieser Morde werden nur zwei Täter gefasst. […] In allen anderen Fällen wird der Vorgang entweder ohne weitere Ermitt­lung zu den Akten gelegt oder das Verfahren aus Mangel an Beweisen einge­stellt.« Wie ist es zu erklären, dass so viele offen­sicht­liche Kapital­verbre­chen unauf­geklärt blieben?

Im Mittelpunkt des Romans steht der Mord an einem algeri­schen Jugend­lichen in Marseille. Auf dem Mäuerchen einer Café­terrasse sitzt der sechzehn­jährige Malek und blickt auf den menschen­leeren Boulevard. Er erwartet eine Freundin, mit der er sich auf eine Cola verab­redet hat. Sein älterer Bruder hatte diesem abend­lichen Treffen nicht zuge­stimmt, denn das Viertel ist in Unruhe. Wenige Tage zuvor hatte ein Algerier einem weißen Busfahrer mit einem Messer die Kehle durch­trennt, die üble Bluttat schürte die ohnehin verbrei­teten Vorur­teile und den Hass gegen die Nord­afrikaner, und eine neuer­liche rassis­tische Hetz­kampagne nahm ihren Anfang.

Inzwischen rollen zwei Autos im Zeit­lupen­tempo durch das Viertel, als suchten sie eine bestimmte Adresse. Malek nähert sich, wendet sich dem Beifahrer zu, geht in die Knie, um Auskunft zu geben. Da streckt ihn ein Schuss in die Brust nieder, abge­feuert aus nächster Nähe. Eine zweite Kugel »zerfetzt das Brustbein […], eine dritte Kugel streift eine Schulter«. In wenigen Sekunden ist ein junges Leben aus­radiert – und ehe der Wirt und seine beiden Helfer erfassen, was passiert ist, sind die beiden Autos längst davon­gerast.

Nun treten die Ermittler der Brigade Criminelle auf den Plan. Was Commis­saire Théodore Daquin, Inspec­teur Grimbert und Inspec­teur Delmas nach und nach als Folgen des Mordfalls aufdecken, ent­wickelt sich zu einem ungeheuer­lichen Vertu­schungs- und Justiz­skandal. Manche Polizei­beamte wollen den Mord als »Abrech­nungen im Mafia-Milieu« zu den Akten legen. Wenn das nicht machbar ist, wird man in der Vergan­genheit der Familie wühlen und ganz sicher­lich eine krimi­nelle Tat ausgraben, die man ihnen anhängen kann. Notfalls darf man nicht davor zurück­schrecken, ein bisschen nachzu­helfen. Irgendwie wird das Mordopfer selber eine Mitschuld an seinem Schicksal tragen.

»Marseille.73« (von Iris Konopik übersetzt) ist eine Mischung aus Kriminal­roman, Noir und Polit­thriller. Darüber hinaus verfolgt die Autorin höhere Ziele. Die promo­vierte Histori­kerin Marie-Noëlle Thibault, 1942 in Paris geboren, entdeckte ihre litera­rische Berufung erst im Alter von fünfzig Jahren und veröffent­lichte schon ihren ersten Roman unter dem Pseudonym ›Dominique Manotti‹. Seither erhielt sie für ihre intensiv recher­chierten Bücher über diffizile und diskus­sions­würdige Phasen der franzö­sischen Ge­schichte etliche Literatur­preise, darunter Prix Mystère de la Critique, Grand prix de littéra­ture policière, Deutscher Krimi­preis, Duncan Lawrie Inter­national Dagger. Auch in ihrem aktuellen Werk themati­siert sie einen Stoff, der sie besonders bewegt, nämlich der Rassismus gegen nord­afrika­nische Einwan­derer und seine Hinter­gründe in der franzö­sischen Nord­afrika­politik. Mit wissen­schaft­licher Ambition und Kompetenz breitet sie die histo­risch-politi­schen Zusammen­hänge aus, wie es jedem Fachbuch zur Ehre gereichen würde.

So wird der Handlungsstrang des Mordfalls Marek in recht sprödem, kargem Stil als fort­laufen­des, akribisch genaues Protokoll im Präsens darge­stellt – es umfasst den Zeitraum von Mittwoch, 15. August, bis Montag, 8. Oktober 1973. Unter­brochen wird die Handlung immer wieder von einer Unmenge an Informa­tionen über die Abtei­lungen des Polizei­apparates in Marseille und behörd­liche Formali­täten, über Verbände, Komitees, Gewerk­schaften und Bewe­gungen, dazu unzählige Abkür­zungen sowie Namen von Akti­visten, die Gruppen gegründet haben und anführen, sowie Details zur Algerien­politik und deren Folgen. Schön, dass man sich in den Anhängen am Ende des Buches Orientie­rung verschaf­fen kann, aber beim Lesen eines Thrillers ist man nicht gerade erpicht darauf, rätsel­hafte Formu­lierungen durch Blättern zu klären. Wer als gewissen­hafter Leser sein Verständ­nis absichern möchte, muss jedoch wohl oder übel seinen Lesefluss oft unter­brechen – und ist viel­leicht frus­triert.

Am Ende bleibt der Nachhall einer aufgewühlten Epoche in Frank­reichs jüngerer Vergan­genheit. Wir erleben die Atmos­phäre einer zwischen Rechts­populis­ten und Links­libera­len zerris­senen, gewalt­bereiten Stadt und ein rassis­tisches Verbre­chen, an dessen Auf­klärung Polizei und Justiz wenig Interesse haben. Präziser als Dominique Manotti wird wohl kein anderer Schrift­steller einem Polit­thriller eine derart detail­lierte Zeit­diagnose mitgeben. Doch das hat seinen Preis: Der Fakten­reichtum bremst Leichtig­keit, Spannung und Unter­haltungs­wert der Story.


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