Rezension zu »Philadelphia Underground« von Augustus Rose

Philadelphia Underground

von


Vor dem Hintergrund des Kunstbegriffs und des Schaffens von Marcel Duchamp entwickelt Augustus Rose eine Art Mystery-Thriller.
Mystery-Thriller · Piper · · 464 S. · ISBN 9783492057974
Sprache: de · Herkunft: us

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Ein ambitionierter Kunstgriff

Rezension vom 25.10.2020 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Kennen Sie Marcel Duchamp? Der französisch-amerikanische Wegbereiter des Dadais­mus und Surrea­lismus (1887-1968) hat den bis zum Ersten Weltkrieg gängigen Kunst­begriff revolutio­niert, indem er indus­triell gefer­tigte Alltags­gegen­stände (»Ready­made«) als Kunst dekla­rierte. Sein 1917 auf einem Sockel präsen­tiertes Urinal (»Fountain«) löste einen Skandal und eine Kontro­verse aus. Nicht der unmit­telbare Sinnes­eindruck der Skulptur, eines Gemäldes o.ä., sondern das theore­tische Konzept dahinter ent­scheide über den Status eines Kunst­werks (»Konzept­kunst«). So sei bereits die Auswahl eines Gegen­standes ein künstle­rischer Akt.

Mit Duchamp und seinen in weiten Teilen schwer zugäng­lichen Theorien und Werken hat sich der Ameri­kaner Augustus Rose intensiv befasst und kam auf die aparte Idee, seine Erkennt­nisse in einen kreativen, innova­tiven Thriller einflie­ßen zu lassen. Mit seinem Debüt­roman »The Readymade Thief« Augustus Rose: »The Readymade Thief« bei Amazon (2017) ist sozusagen ein Stück Konzept-Literatur ent­standen, das Werner Löcher-Lawrence jetzt ins Deutsche über­setzt hat. Mögen Kunst­kundige im Original­titel schon einen Hinweis auf Duchamps Gedanken­welt erspähen, so weckt der deutsche Titel eher Erwar­tungen auf einen kernigen Thriller aus der finsteren Unterwelt einer amerika­nischen Metropole.

Folgen wir zunächst dieser Verheißung. Die Handlung wird in einer Struktur auf zwei Ebenen erzählt: Neun Bücher, deren Über­schriften auf Titel von Duchamp-Werken anspielen, und 21 Kapitel über­lappen sich. Bereits im Prolog lernen wir die Protago­nistin Lee Cuddy kennen, die mit siebzehn in einer verzwei­felten Lage steckt. Sie ist schwanger, auf der Flucht, sitzt am Ufer des Delaware River und überlegt, wie sie ihren Freund Tomi in dem verfal­lenen DePaul-Aquarium auf der Insel Petty Island treffen kann.

Ab Buch I erfahren wir, wie es dazu kam. In Lees Eltern­haus bestimmte Streit den Alltag. Mutter Julia verdiente als Kranken­schwester den Lebens­unterhalt, während der Vater Röntgen­geräte in Kranken­häusern repa­rierte, lieber aber an alten Autos herum­bastelte oder seiner Leiden­schaft als Musiker frönte. Als Lee sieben Jahre alt war, verließ er die Familie. Ein paar Jahre später holte sich Julia einen neuen Lover ins Haus. Mit seiner Medi­tations­ecke, Räucher­stäbchen und einer kruden Philo­sophie blieb er dem Mädchen fremd. Die entdeckt derweil die Vorzüge der Klein­krimi­nalität (Verhökern geklauter Kleidung, Urkunden­fälschung, Drogen­dealerei) und schafft sich, unbemerkt von ihrer Mutter, die finan­zielle Basis für ein eigen­ständiges Leben. Mit sechzehn wird sie von der Polizei erwischt. Jugend­haft bleibt ihr dank vehe­menten mütter­lichen Einsatzes erspart, und sie kommt mit einer nächt­lichen Sperr­stunde davon.

Eine Zeitlang verzichtet Lee auf Eskapaden, spielt aber im Kreis der Mit­schüle­rinnen keine Rolle mehr. Ihre einzige Vertrauens­person ist Edie, Tochter eines ange­sehenen Anwalts, die jedoch ihrer­seits schlech­ten Umgang pflegt und Rave Partys einer obskuren »Société Anonyme« besucht. Als ihr die Polizei auf den Pelz rückt, zieht sie sich aus der Affäre, indem sie ihre Freundin aus­liefert. Lee landet im Jugend­gefängnis, in Einzel­haft, später in einer Psychia­trie-Abteilung. Nach siebzehn furcht­baren Monaten gelingt ihr die Flucht.

Mittellos und polizeilich gesucht kann sie nur in den Unter­grund abtauchen. Sie findet Unter­schlupf in der »Kristall­burg«, einem seltsamen Schloss, in dem sich ein »Stations­vorsteher« um gestran­dete Jugend­liche kümmert und ein merk­würdiger »Priester« herum­geistert. Sie findet ein Notizbuch, dessen letzter Eintrag sie beun­ruhigt: »Heute ist er gekommen. Es ist Zeit. Ich schließe die Augen und sehe es.« Bei einem heim­lichen Streifzug durch das Gebäude entdeckt sie offen­sichtlich gefangen gehaltene Jugend­liche und flieht erneut. Da sie dabei einen Teil eines Duchamp-Werks aus dem Büro des »Stations­vorstehers« mitgehen lässt, natürlich ohne es als Kunst­werk zu erkennen, wird sie fortan zur doppelt Gejagten.

Bald lernt Lee einen Jungen namens Tomi kennen, dessen Hobby »urbane Erkun­dungen« sie anzieht, auch wenn sie sein »endloses Gerede, sein Umsich­werfen mit den Namen obskurer Kunst­bewe­gungen (Fluxus und Lettris­mus, Para­physik und Situa­tionis­tische Psycho­geografie)« manchmal unerträg­lich findet. Mit ihm streunt sie durch verlas­sene Orte wie das DePaul-Aquarium oder ein Museum, und in dieser Situation haben wir sie im Prolog kennen­gelernt.

Während wir also noch gespannt den Aben­teuern, Rätseln und Mysterien von Lees gefähr­licher Flucht folgen, hat der Autor bereits zahl­reiche Begriffe und Personen einge­führt, die, ohne dass wir dessen als System gewahr wurden, auf den Künstler Marcel Duchamp hindeuten. So verweist die »Société Anonyme« auf eine 1920 gegrün­dete Künstler­organi­sation, zu der neben Marcel Duchamp auch Man Ray und Katherine Sophie Dreier gehörten. Der »Stations­vorsteher« und der »Priester« aus der »Kristall­burg« sind Figuren aus dem Duchamp-Kunstwerk »Die Braut wird von ihren Jungge­sellen ent­kleidet, sogar (oder: Großes Glas)«, einem ohne Erläute­rung des theore­tischen Hinter­grundes unver­ständ­lichen Objekts, das »eine ›Vermäh­lung von geistigen und visuellen Reaktionen‹ hervor­rufen, zugleich Darstel­lung und Idee sein« soll (aus dem Wikipedia-Artikel über »Das Große Glas«). Derlei kommt nun in äußerst komplexer Form im weiteren Handlungs­verlauf auf den Leser zu, indem der Experte Augustus Rose Duchamps Schaffen, Werke, Meta­physik, Alchemie und Visionen mit dem Plot verwebt. Leider wird das interes­sante Konzept damit ziemlich kopf­lastig reali­siert – um den Preis, dass die Ausfüh­rungen über den Dadaisten und Surrea­listen Schwung und Spannung des Krimi­plots bremsen und am Ende Unge­reimt­heiten, ungelöste Rätsel und Frus­tration hinter­lassen.

Augustus Rose hat sich mit seinem Kunstwerk »Philadelphia Underground« viel vorge­nommen. Der Spagat, eine hoch­abstrakte Kunst­theorie, die bereits in zahl­reichen Fach­büchern erklärt und veran­schau­licht worden ist, ausge­rechnet mit dem Thriller-Format zu ver­quicken, das darauf beruht, alle Sinne in Erregung zu versetzen, ist wohl doch eine zu eigen­willige Kontor­sion, als dass sie gelingen könnte.


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