Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
von Elena Ferrante
Eine Zwölfjährige konfrontiert sich mit dem, was das Elternhaus ihr als Wirklichkeit vermittelt. Ihre Nachforschungen lassen ganz andere Bilder entstehen, und sie erfährt die diffizile Problematik des Umgangs mit der Wahrheit.
Mit eigenen Augen betrachtet
Es ist ja gar nicht zu vermeiden, dass man Vergleiche anstellt. Die Marke »Elena Ferrante« ist geprägt durch ihre Tetralogie von der genialen Freundin, die zwischen 2011 und 2014 weltweit alle Bestsellerlisten eroberte. Wenn nun ein zwölfjähriges Mädchen aus Neapel als Ich-Erzählerin und Protagonistin des neuesten Romans auftritt, mutmaßt man unweigerlich, es könne sich vielleicht um eine Wiederholung des Meisterstücks handeln.
Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass die Unterschiede überwiegen. War die »Neapolitanische Saga« [› Rezension zu »Meine geniale Freundin«] eine breit angelegte, komplexe soziologische Darstellung aus Italiens jüngster Zeitgeschichte und Neapels im Besonderen, so beschränkt sich der zentrale Personenkreis von Ferrantes jüngstem Roman » Das lügenhafte Leben der Erwachsenen« auf die vier Mitglieder einer Familie, der Handlungszeitraum umfasst nur knapp drei Jahre in den Neunzigern, die Schauplätze konzentrieren sich auf zwei Viertel in Neapel, die gleichzeitig zwei gesellschaftliche Klassen repräsentieren, und die Gattung könnte man vereinfacht als Coming-of-Age-Story betrachten – wenn die Perspektive nicht weiter gefasst, die Erkenntnisse nicht tiefer gingen als von einer so jungen Erzählerin zu erwarten. Sprachlich bleibt die Autorin den selbst gesetzten hohen Maßstäben treu, und Karin Krieger hat Ferrantes wie beiläufig fließenden, aber markanten, pointierten, höchst subtilen, bisweilen glühend-intensiven Stil in ihrer Übersetzung wunderbar übertragen.
Im Mittelpunkt steht Giovanna Trada, geboren 1979. Sie blickt als erwachsene Frau auf ihre Jugend zurück. Als sie zwölf war, hat eine zufällig mitgehörte Bemerkung über sie eine ihr bis dahin unbekannte Angst ausgelöst und sie aus ihrem inneren Gleichgewicht gerissen. Giovanna sei »sehr hässlich«, flüsterte ihr Vater Andrea, ein charmanter, eleganter, unermüdlich arbeitender Lehrer, zu Nella, ihrer Mutter. In der beginnenden »instabilen Lage« der Pubertät, auf der Suche nach sich selbst, trifft jede Aussage über das Äußere direkt ins Mark. Andreas Satz aber bricht das Verhältnis der Tochter zum Vater wie ein Axthieb. Zeit ihres Lebens hatte sie ihn geliebt und als selbstverständlich betrachtet, dass er sie ebenso liebe, so wie sie es als gegeben hingenommen hatte, so attraktiv zu sein oder zu werden wie die Eltern.
»Sie kommt nun ganz nach Vittoria«, fährt der Vater leise fort. Ausgerechnet nach seiner Schwester also. Seine jahrelangen Darstellungen haben diese Frau, der das Mädchen allenfalls bei den wenigen pflichtgemäßen Familienfeiern begegnet war, als einen Ausbund an »Hässlichkeit« und »Bosheit«, als »Schreckgespenst aus Kindertagen« in Giovannas Vorstellung eingebrannt. Der Hass, der die Familie seit Jahren zerreißt, geht so tief, dass der Vater auf alten Familienfotos das Gesicht der Tante weggekratzt hat.
Was in aller Welt kann einen Vater dazu bringen, so böse Dinge auszusprechen? Zwar erfüllen Giovannas Leistungen in der Schule die Erwartungen der Eltern nicht mehr so ganz, aber das kann kaum der Grund sein. Im Spiegel forscht sie nach Ähnlichkeiten mit der monströsen Tante. Für kurze Zeit tröstet sie der Zusammenhang, den ihre Busenfreundinnen behaupten: »Äußerlich bist du schön. Bloß die Sorgen machen dich ein bisschen hässlich.« Schließlich will Giovanna der Sache auf den Grund gehen und herausfinden, wie die Tante in Wirklichkeit ist.
Dazu muss sie sich aus ihrem gutbürgerlichen Wohnviertel, dem Rione Alto in der Nachbarschaft des Vomero, hinab in die »Zona industriale« der Stadt vorwagen, eine elende, übel riechende Gegend östlich des Hafens, die man meiden sollte. Wo sich arme, ungebildete Menschen tummeln und grölen, wo sich zerrüttete Familien in Blutfehden gegenseitig massakrieren, wohnt auch die einfach gestrickte, derbe, vulgäre, atheistische Tante Vittoria. Im Gegensatz zu ihrem strebsamen Bruder, der sich aus dem gemeinsamen Unterschichtmilieu zum angesehenen Lehrberuf mit Familie und eigener Wohnung hochgearbeitet hat, schlägt sie sich mangels Schulabschluss als Putzfrau durch. Vor Jahren hatte sie ein Verhältnis mit einem Verbrecher, verheiratet und Vater dreier Kinder. Die Divergenzen schürten Neid und Missgunst in ihr, sie würde Papà sogar den Tod wünschen. Dies ist das Bild, das Mutter Nella ihrer Tochter ausgemalt hat, bevor sich Giovanna auf den Weg macht.
Die Begegnungen mit der Tante könnten kaum drastischer und verwirrender verlaufen. Vittoria erweist sich als »so unerträglich schön, dass ich den dringenden Wunsch hatte, sie als hässlich anzusehen«. Sie empfängt ihre Nichte mit herzlicher, robuster Vertrautheit und behandelt sie als Erwachsene auf Augenhöhe. Über Schwägerin und Bruder zieht ihr loses Mundwerk hemmungslos her, und das in ordinärstem Dialekt. Die beiden seien schlichtweg »Arschlöcher«, Andrea ein arroganter Emporkömmling. »Sieh sie dir genau an, deine Eltern, sonst bist du nicht zu retten«, rät sie eindringlich.
Bei manchen Wörtern und Beschreibungen, die Giovanna zum ersten Male hört, möchte sich das wohlerzogene Mädchen am liebsten die Ohren zuhalten. Ganz unverblümt schwärmt die Tante vom »Ficken«, und zwar der härteren Art, das dem Leben erst den wahren Sinn gebe. Ohne Scheu erzählt sie die Geschichte ihrer kurzen, aber intensiven Beziehung zu Enzo, dem Familienvater, und deren tragischem Ende. Giovanna ist verschreckt, überrascht, begeistert und fasziniert von dieser Frau, die so viel freier, lebenslustiger, körperlicher, reicher und großzügiger ist als ihre Eltern.
Die Kluft zwischen dem, was die Eltern für die Tochter waren, was sie sind und sagen, und dem, was Giovanna selbst wahrnimmt, wird unüberbrückbar. Wie kann sie ihnen von all dem berichten, ohne zerrieben zu werden? Sie wählt einen Ausweg und gewöhnt sich an, ihre Berichte bewusst zu formen. Derweil bröckelt die Fassade des Elternhauses. Glänzte es immer als Inbegriff von Anstand, Konventionen und festen Prinzipien, so erkennt Giovanna nun Lügen und Heuchelei zwischen den Eheleuten. Der Vater hat eine Affäre und zieht zwei Jahre später aus.
Geschmeidig wechselt Giovanna die unterschiedlichen Milieus. Sie beobachtet, analysiert und tischt dann jeder Seite auf, was sie wohl gewohnheitsmäßig erwartet. Dazu schneidert sie die Realität mit kleinen Abweichungen, gezielten Ausschmückungen und dem Auslassen von Unerträglichem geschickt zurecht. Sie belügt sich sogar selbst, wenn es die eigenen Gefühle und ihre Befindlichkeit erfordern, und sie intrigiert. Sie wird selbst »lügenhaft« und zu einem manipulativen Charakter, zu einem Wesen also, wie sie es in den Erwachsenen ihrer Familie verabscheut hat.
Die widersprüchlichen Erfahrungen und eigenverantwortlichen, nur ihr selbst bekannten Aktivitäten stärken Giovannas Selbstwertgefühl. Als die Tante, in allen Lebenslagen offen und vor Energie und Initiative strotzend, sie mit jungen Männern bekannt macht, stellt Giovanna fest, dass diese sie trotz ihrer vermeintlichen Hässlichkeit durchaus sexuell anziehend finden. Im nächsten Schritt provoziert sie ihre Liebeserfahrungen selbst, wird allerdings ernüchtert.
Am Ende des siebenteiligen Romans ist Giovanna sechzehn Jahre alt und insofern erwachsen geworden, als sie zu sich selbst gefunden hat. Sowohl vom verachteten Elternhaus als auch vom Einfluss der überstarken Tante Vittoria – auch sie ist natürlich nicht selbstlos – hat sie sich emanzipiert. Gut vorstellbar, dass Elena Ferrante schon einen Folgeroman in der Schublade hat, der den Lebensweg der Protagonistin auf eigenen Füßen noch ein Stück begleitet.