Rezension zu »Das lügenhafte Leben der Erwachsenen« von Elena Ferrante

Das lügenhafte Leben der Erwachsenen

von


Eine Zwölfjährige konfrontiert sich mit dem, was das Elternhaus ihr als Wirklichkeit vermittelt. Ihre Nachforschungen lassen ganz andere Bilder entstehen, und sie erfährt die diffizile Problematik des Umgangs mit der Wahrheit.
Belletristik · Suhrkamp · · 415 S. · ISBN 9783518429525
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Neapel und Golf

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Mit eigenen Augen betrachtet

Rezension vom 05.11.2020 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Es ist ja gar nicht zu vermeiden, dass man Ver­gleiche anstellt. Die Marke »Elena Ferrante« ist geprägt durch ihre Tetra­logie von der genialen Freundin, die zwischen 2011 und 2014 weltweit alle Best­seller­listen eroberte. Wenn nun ein zwölf­jähriges Mädchen aus Neapel als Ich-Erzäh­lerin und Protago­nistin des neuesten Romans auftritt, mutmaßt man unwei­gerlich, es könne sich viel­leicht um eine Wieder­holung des Meister­stücks handeln.

Originalausgabe:
»La vita bugiarda degli adulti«
(2019, Verlag E/O Edizioni)
Elena Ferrante: »La vita bugiarda degli adulti« auf Bücher Rezensionen
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Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass die Unter­schiede über­wiegen. War die »Neapolita­nische Saga« [› Rezension zu »Meine geniale Freundin«] eine breit angelegte, komplexe sozio­logische Darstel­lung aus Italiens jüngster Zeitge­schichte und Neapels im Beson­deren, so be­schränkt sich der zentrale Personen­kreis von Ferrantes jüngstem Roman » Das lügenhafte Leben der Erwachsenen« auf die vier Mitglie­der einer Familie, der Handlungs­zeitraum umfasst nur knapp drei Jahre in den Neun­zigern, die Schau­plätze konzen­trieren sich auf zwei Viertel in Neapel, die gleich­zeitig zwei gesell­schaft­liche Klassen repräsen­tieren, und die Gattung könnte man verein­facht als Coming-of-Age-Story betrach­ten – wenn die Perspek­tive nicht weiter gefasst, die Erkennt­nisse nicht tiefer gingen als von einer so jungen Erzäh­lerin zu erwarten. Sprach­lich bleibt die Autorin den selbst gesetzten hohen Maßstäben treu, und Karin Krieger hat Ferrantes wie beiläufig fließen­den, aber mar­kanten, poin­tierten, höchst subtilen, bisweilen glühend-intensiven Stil in ihrer Über­setzung wunderbar über­tragen.

Im Mittelpunkt steht Giovanna Trada, geboren 1979. Sie blickt als erwach­sene Frau auf ihre Jugend zurück. Als sie zwölf war, hat eine zufällig mitge­hörte Bemerkung über sie eine ihr bis dahin unbe­kannte Angst ausgelöst und sie aus ihrem inneren Gleich­gewicht gerissen. Giovanna sei »sehr hässlich«, flüsterte ihr Vater Andrea, ein char­manter, eleganter, uner­müdlich arbei­tender Lehrer, zu Nella, ihrer Mutter. In der begin­nenden »insta­bilen Lage« der Pubertät, auf der Suche nach sich selbst, trifft jede Aussage über das Äußere direkt ins Mark. Andreas Satz aber bricht das Verhält­nis der Tochter zum Vater wie ein Axthieb. Zeit ihres Lebens hatte sie ihn geliebt und als selbst­verständ­lich betrach­tet, dass er sie ebenso liebe, so wie sie es als gegeben hinge­nommen hatte, so attraktiv zu sein oder zu werden wie die Eltern.

»Sie kommt nun ganz nach Vittoria«, fährt der Vater leise fort. Ausge­rechnet nach seiner Schwester also. Seine jahre­langen Darstel­lungen haben diese Frau, der das Mädchen allen­falls bei den wenigen pflicht­gemäßen Familien­feiern begegnet war, als einen Ausbund an »Hässlich­keit« und »Bosheit«, als »Schreck­gespenst aus Kinder­tagen« in Giovannas Vorstel­lung einge­brannt. Der Hass, der die Familie seit Jahren zerreißt, geht so tief, dass der Vater auf alten Familien­fotos das Gesicht der Tante wegge­kratzt hat.

Was in aller Welt kann einen Vater dazu bringen, so böse Dinge auszu­sprechen? Zwar erfüllen Giovannas Leis­tungen in der Schule die Erwar­tungen der Eltern nicht mehr so ganz, aber das kann kaum der Grund sein. Im Spiegel forscht sie nach Ähnlich­keiten mit der mons­trösen Tante. Für kurze Zeit tröstet sie der Zu­sammen­hang, den ihre Busen­freun­dinnen behaupten: »Äußerlich bist du schön. Bloß die Sorgen machen dich ein bisschen hässlich.« Schließ­lich will Giovanna der Sache auf den Grund gehen und heraus­finden, wie die Tante in Wirk­lich­keit ist.

Dazu muss sie sich aus ihrem gutbürger­lichen Wohn­viertel, dem Rione Alto in der Nachbar­schaft des Vomero, hinab in die »Zona indus­triale« der Stadt vorwagen, eine elende, übel riechende Gegend östlich des Hafens, die man meiden sollte. Wo sich arme, ungebil­dete Menschen tummeln und grölen, wo sich zerrüt­tete Familien in Blut­fehden gegen­seitig massa­krieren, wohnt auch die einfach ge­strickte, derbe, vulgäre, atheis­tische Tante Vittoria. Im Gegensatz zu ihrem streb­samen Bruder, der sich aus dem gemein­samen Unter­schicht­milieu zum angese­henen Lehrberuf mit Familie und eigener Wohnung hochgear­beitet hat, schlägt sie sich mangels Schulab­schluss als Putzfrau durch. Vor Jahren hatte sie ein Verhält­nis mit einem Ver­brecher, verhei­ratet und Vater dreier Kinder. Die Diver­genzen schürten Neid und Missgunst in ihr, sie würde Papà sogar den Tod wünschen. Dies ist das Bild, das Mutter Nella ihrer Tochter ausgemalt hat, bevor sich Giovanna auf den Weg macht.

Die Begegnungen mit der Tante könnten kaum drastischer und verwir­render verlaufen. Vittoria erweist sich als »so uner­träglich schön, dass ich den drin­genden Wunsch hatte, sie als hässlich anzusehen«. Sie empfängt ihre Nichte mit herz­licher, robuster Vertraut­heit und behandelt sie als Erwach­sene auf Augen­höhe. Über Schwä­gerin und Bruder zieht ihr loses Mundwerk hem­mungs­los her, und das in ordinär­stem Dialekt. Die beiden seien schlicht­weg »Arsch­löcher«, Andrea ein arro­ganter Empor­kömmling. »Sieh sie dir genau an, deine Eltern, sonst bist du nicht zu retten«, rät sie eindring­lich.

Bei manchen Wörtern und Beschreibungen, die Giovanna zum ersten Male hört, möchte sich das wohler­zogene Mädchen am liebsten die Ohren zuhalten. Ganz unver­blümt schwärmt die Tante vom »Ficken«, und zwar der härteren Art, das dem Leben erst den wahren Sinn gebe. Ohne Scheu erzählt sie die Geschichte ihrer kurzen, aber inten­siven Beziehung zu Enzo, dem Familien­vater, und deren tragi­schem Ende. Giovanna ist ver­schreckt, über­rascht, begeis­tert und faszi­niert von dieser Frau, die so viel freier, lebens­lustiger, körper­licher, reicher und groß­zügiger ist als ihre Eltern.

Die Kluft zwischen dem, was die Eltern für die Tochter waren, was sie sind und sagen, und dem, was Giovanna selbst wahrnimmt, wird unüber­brück­bar. Wie kann sie ihnen von all dem berichten, ohne zerrieben zu werden? Sie wählt einen Ausweg und gewöhnt sich an, ihre Berichte bewusst zu formen. Derweil bröckelt die Fassade des Eltern­hauses. Glänzte es immer als Inbegriff von Anstand, Konven­tionen und festen Prinzi­pien, so erkennt Giovanna nun Lügen und Heuchelei zwischen den Eheleuten. Der Vater hat eine Affäre und zieht zwei Jahre später aus.

Geschmeidig wechselt Giovanna die unter­schied­lichen Milieus. Sie beob­achtet, analy­siert und tischt dann jeder Seite auf, was sie wohl gewohn­heits­mäßig erwartet. Dazu schnei­dert sie die Realität mit kleinen Abwei­chungen, gezielten Aus­schmü­ckungen und dem Auslassen von Unerträg­lichem geschickt zurecht. Sie belügt sich sogar selbst, wenn es die eigenen Gefühle und ihre Befind­lichkeit erfordern, und sie intri­giert. Sie wird selbst »lügen­haft« und zu einem manipu­lativen Charakter, zu einem Wesen also, wie sie es in den Erwach­senen ihrer Familie verab­scheut hat.

Die widersprüchlichen Erfahrungen und eigen­verant­wort­lichen, nur ihr selbst bekannten Aktivi­täten stärken Giovannas Selbst­wert­gefühl. Als die Tante, in allen Lebens­lagen offen und vor Energie und Initia­tive strotzend, sie mit jungen Männern bekannt macht, stellt Giovanna fest, dass diese sie trotz ihrer vermeint­lichen Hässlich­keit durchaus sexuell anziehend finden. Im nächsten Schritt provo­ziert sie ihre Liebes­erfah­rungen selbst, wird aller­dings ernüch­tert.

Am Ende des siebenteiligen Romans ist Giovanna sechzehn Jahre alt und inso­fern erwachsen geworden, als sie zu sich selbst gefunden hat. Sowohl vom verach­teten Eltern­haus als auch vom Einfluss der über­starken Tante Vittoria – auch sie ist natürlich nicht selbstlos – hat sie sich eman­zipiert. Gut vorstell­bar, dass Elena Ferrante schon einen Folge­roman in der Schub­lade hat, der den Lebens­weg der Protago­nistin auf eigenen Füßen noch ein Stück begleitet.


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