Schicksal, Schuld oder Fluch?
Bis sie fünfzehn war, lebte Hattie mit ihren Eltern und Geschwistern in Georgia. Bis heute ist sie stolz auf ihre Herkunft. Ihr Vater besaß als einziger Neger im Ort ein eigenes Geschäft, eine Schmiede. Ihre Mutter kleidete sich fein, knotete ihr Haar und achtete auf gute Manieren. All das machte die Familie bei den Weißen zu den meistgehassten Bewohnern der Stadt. 1923 reißen ein paar weiße Männer das Namensschild an der Werkstatt herunter und erschießen Hatties Vater.
Zwei Tage später nimmt die Mutter mit ihren drei Töchtern den Zug nach Norden, um Georgia für immer zu verlassen. Die Gesetze zur Rassentrennung verfolgen sie noch eine Weile. Im Abteil für Farbige gibt es keine Toilette, die Frauen müssen ihre Notdurft unter Aufsicht der Weißen am Bahndamm verrichten. Aber bald werden die Demütigungen ein Ende haben.
In Philadelphia erwartet sie nach 32 Stunden Fahrt eine andere Welt. Menschen wimmeln im und vor dem Bahnhof, die Luft riecht nach Benzin statt nach Bäumen, alles ist größer, lauter, schneller. Dass dies nicht »das Land der Verheißung« ist, spürt die zitternde, schwitzende Hattie schon jetzt, doch auch, dass sie damit zurechtkommen würde. Denn sie erblickt fröhlich lachende, sorglos miteinander plaudernde Negermädchen wie sie selbst und Erwachsene, die nicht in den Rinnstein springen, um den Weißen auszuweichen. Was könnte wichtiger sein im Leben?
Zwei Jahre später sind Hatties Hoffnungen bereits gebrochen. Da ist sie siebzehn. Sie hatte den charmanten August Shepherd geheiratet und Zwillinge geboren. Sie hatten in Germantown, einem »guten Viertel«, ein »Haus-für-Jetzt« gemietet und waren entschlossen, später ein eigenes zu kaufen. Doch bald erwies sich August als Nichtsnutz, der das bisschen Geld, das er mit Gelegenheitsarbeiten verdiente, sogleich in Bars mit anderen Frauen durchbrachte.
Einen »Riss durch den eigenen Körper« erlitt Hattie, als ihre beiden Kleinen an einer Lungenentzündung starben. Die eintretende emotionale Leere, all die unbesetzten Fixpunkte ihrer nicht gelebten Leben – Berufe, Partner, Häuser, Enkel – wird nicht einmal durch die neun Kinder gefüllt werden, die Hattie später gebären wird und die nie die Liebe und Zärtlichkeit einer Mutter erfahren werden. Hattie wird den frühen Schmerz nicht verwinden, sie kann keine Zärtlichkeit und keine Liebe mehr aufbieten.
Die Autorin Ayana Mathis, selber in Germantown aufgewachsen, schildert in ihrem erschütternden, warmherzigen Roman »The twelve tribes of Hattie« (Übersetzung: Susanne Höbel) den entbehrungsreichen Lebenslauf von Hattie, die ein Kind nach dem anderen gebärt und großzieht, ohne ihnen jedoch eine Zukunft geben zu können. Sie scheitern alle. Obwohl Hattie ein starker Fels in der Brandung ist, zermürben sie die Schläge des Schicksals und der tägliche Überlebenskampf. Die Armut der Shepherds ist so groß, dass Hattie sogar Unterstützung vom Sozialamt beantragt, was die ebenfalls Not leidenden Nachbarinnen mit Feindseligkeit ahnden. »Kein Geld zu haben war akzeptabel ... Sozialhilfe war eine Schande, ein öffentliches Eingeständnis.« Und es kommt noch schlimmer, als Hattie, um die anderen Kinder durchzubringen, eines ihrer Babys schweren Herzens zu ihrer kinderlosen, reich verheirateten Schwester Pearl nach Georgia abgibt. So gelingt es Hattie zwar, ihre Kinder am Leben zu erhalten, doch es bleibt ihr nicht genug Kraft, ihnen darüber hinaus so lebensnotwendige Geschenke wie Gefühle und Vertrauen mit auf den Weg zu geben.
Hatties Männer sind alles andere als Partner, nicht einmal Hilfe, sondern nur zusätzliche Last. Mit ihrem Ehemann August hat sie nichts gemeinsam. Sie stammt aus »einem Haus auf dem Hügel«, er »aus einer armseligen Hütte«. »Du Nigger« – damit konnte sie ihn am schlimmsten demütigen und verletzen, aber ändern würde er sich nie. Einmal verließ sie ihn und suchte Zuflucht bei ihrem Liebhaber Lawrence. Doch sie kommt vom Regen in die Traufe, denn Lawrence ist ein Spieler und Säufer, so dass sie schnell zu ihren Kindern zurückkehrt.
Auch die Religion kann Hattie nicht stützen. Wenn der Pfarrer der Gemeinde aus dem Buch Hiob vorliest und erklärt, »dass der Mensch und die Kinder des Menschen zum Leiden geboren« seien, empfindet sie das Wort Gottes als Hohn. Zwar glaubt sie »an die Macht Gottes, nicht aber an sein Eingreifen«. Denn das Schicksal, das er ihr und den ihren auferlegt hat, ist eine zutiefst erbarmungslose Prüfung. Mit diesem unmenschlichen, grausamen oder gleichgültigen Gott hat sie längst gebrochen.
Was bleibt, um ihre rettungslose Existenz zu erklären? Tragen die Nachfahren der einstmals als Sklaven verschleppten Menschen aus anderen Erdteilen etwa eine Erblast in sich, dass sie in größter Armut und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit heranwachsen müssen? Warum bietet sich ihnen keine Chance, ein glückliches, erfolgreiches Leben aufzubauen? Wie sollen in diesem Umfeld Kinder gedeihen und eine Perspektive für ihre Zukunft erkennen? Amerikas Geschichte bis in die Gegenwart könnte Antworten geben: die hehren, aber kaum realisierten Ideale, die großen, schnell wieder einkassierten Versprechungen, der entstellte Mythos vom American Dream ... Die Autorin wird in dieser Richtung nicht konkret, führt die Problemkreise aber durch ihre Beispielgeschichten vor.
Der deutsche Titel »Zwölf Leben« greift etwas hoch, das Original allerdings noch höher (evoziert es doch das Bild alttestamentarischer Stämme). Ayana Mathis erzählt lediglich Episoden aus dem Leben von Hatties glücklosen Kindern und einer Enkelin. Sie zwingt sie weder in eine chronologische Anordnung noch eine andere Systematik. Mal lesen wir von Babys, mal von Erwachsenen. Ein Desaster wird fließend vom nächsten abgelöst, wie ein Fluch lastet das Unglück über ihnen und währt fast ein halbes Jahrhundert fort.
Am Ende ergibt sich im Kleinen das deprimierende Bild einer völlig gestörten Familie, lauter »wilde, allein lebende Tiere ..., die man zusammengepfercht und eingesperrt hatte, wie Leoparden in einem Käfig«, und im Großen ein Panoptikum amerikanischer Traumata:
– 1948 – Floyd kommt mit seiner Sexualität nicht zurecht. Dass er für einen Mann mehr empfindet als für eine Frau, macht ihm Angst. Lieber erhängt er sich wie der Verräter Judas, als seine Homosexualität zu akzeptieren.
– 1950 – Six ist ein falscher Prediger. Als Junge in kochend heißes Wasser gefallen, ist er seither körperlich und seelisch gezeichnet. Er zieht durchs Land und hält die Menschen zu Demut und Barmherzigkeit an. Doch er »hat Kinder mit mehr Frauen, als man an einer Hand zählen kann«, und erstrebt das Gegenteil dessen, was er propagiert: »Er wollte bestrafen, nicht verzeihen. Er wollte Schwert sein, nicht Lamm.«
– 1968 – Alice schafft scheinbar den Aufstieg, als sie einen Zahnarzt aus besten Kreisen heiratet. Nach außen führt sie das Leben einer Weißen, doch inmitten ihres Reichtums ist sie allein, ihr Leben leer. Ihre eigene Familie schneidet sie, die ihres Mannes redet hinter ihrem Rücken abfällig über sie, und selbst ihr Dienstmädchen verachtet sie.
– 1968 – Billups wurde als Kind von einem Lehrer missbraucht. Die Schatten der Vergangenheit lasten schwer auf ihm und machen es ihm unmöglich, sein Leben zu gestalten.
– 1965 – Franklin ist Spieler und Alkoholiker. Als seine junge Ehe zerbricht, geht er freiwillig nach Vietnam, doch ist er dort nur für einfachen Wachdienst einsetzbar. Im Rausch ballert er auf harmlose Fischer.
– 1975 – Bell wird bald ihrem TBC-Leiden erliegen. Sie hatte nie etwas vom Leben zu erwarten und lenkte sich durch wahllose Beziehungen zu Kerlen vom Elend ab. Einer der Männer war allerdings auch mit Hattie liiert, was zum endgültigen Bruch zwischen Mutter und Tochter führte.
– 1980 – Cassie ist schizophren. Hattie und August bringen die junge Frau in einer geschlossenen Anstalt unter und nehmen ihre zehnjährige Tochter Sala bei sich auf.
Am Ende des Romans sind Hattie und August über siebzig Jahre alt und haben sechsundfünfzig gemeinsame Jahre hinter sich. August kränkelt ein wenig, ist altersmilde und fromm, aber Hattie ist klüger, ja weise geworden, und sie spürt noch immer »einen Funken des alten Zorns« in sich. Während sie dem eigenen Elend und dem ihrer Kinder früher »überwältigt und unvorbereitet« ausgeliefert war und es längst zu spät für jegliche Rettung ist, will und kann sie jetzt nicht zulassen, dass es sechzig Jahre, nachdem sie die Südstaaten verlassen hat, immer noch »dieselben Verletzungen, denselben Schmerz« gibt, und sie schreitet ein, um ihre Enkelin Sala vor Vereinnahmung und Betäubung zu bewahren. »Hattie legte den Arm um Sala ... Sie hatte wenig Übung mit Zärtlichkeit« – so schließt der triste Roman mit einem kleinen Lichtblick ...
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2014 aufgenommen.