
Das Grauen wird weiterleben
Tyrol im Jahre 1703: In einem engen Tal liegt, umgeben von finsteren Wäldern und der gewaltigen Bergwelt, eine kleines Dorf. In "alten, verwitterten, rußgeschwärzten, schmucklosen" Höfen leben Bauern mit ihren Familien, Mägden, Knechten und ihrem Vieh. Zu dem Dorf gehört auch eine kleine Kirche, in der der Pfarrer streng nach den römisch-katholischen Gepflogenheiten eine wiewohl "unsichere" Hand über seine Schützlinge hält. Sie könnten in Frieden ihrem Tagwerk nachgehen, wenn nicht alle in ständiger Angst lebten – selbst der "grobschlächtige", kraftstrotzende Bauer Jakob Karrer. Sie fürchten die Protestanten, die marodierenden Bayern und ein Unheil, das, ausgehend von "ihnen", ihrer aller Leben bedroht.
Es ist der härteste Winter seit Jahren. Schon zwei Tage schleppt sich der schwerverletzte Johann List durch die Wälder. Seine prallgefüllte Geldkatze hat man ihm gestohlen. Zu essen hat er nichts mehr. Er schläft unter Baumwurzeln oder in einer Scheune. Trotz des hellen Schnees ist der Wald finster und nebelverhangen. Baumstämme verwandeln sich in Fratzen. Wundbrand und Fieber quälen ihn, er halluziniert, befindet sich inmitten des Schlachtfelds, wo ein Sturm aus scharfkantigen Schrappnells, Erdklumpen und menschlichen Körperteilen um ihn herum fegt. Ein Preuße taucht auf, verschwindet wieder im Nebel. Aber Johann ist zäh, gibt nicht auf, auch als er den Schrei der großen Kolkraben, der Totenvögel, hört. Auf allen vieren kriecht er durch den ellenhohen Schnee, sieht Lichtblitze, die Lichter bewohnter Bauernhäuser. Mit letzter Kraft erklimmt er die Stufen zur Eingangstür, klopft an, "polternde Schritte" nähern sich, die Tür wird aufgerissen, "Was ist?", "bellt" Jakob Karrer ihn an – und schlägt die Tür wieder zu. Johann ist am Ende, seine Kraft ist aufgebraucht.
Ein Greis und eine junge Frau, Elisabeth, die Tochter Jakobs, treten aus dem Haus, wischen Johann den Schnee aus dem Gesicht, "mustern ihn durchdringend", sind sich sicher, dass er nicht einer von "ihnen" ist und bringen ihn zum Hof des alten Großvaters. Sie versorgen seine Wunde, und Elisabeth pflegt ihn wieder gesund. Johann wird im Dorf bleiben und seine "Schuld" als Knecht beim Bauern Jakob abarbeiten müssen. Von Anfang an spürt er das Bedrohliche, das alle Ängstigende im Dorf, überall starren ihn die in Tür- und Fensterbalken tief eingeritzten und rot eingefärbten Symbole an. Das alles ist ihm unheimlich, und sein Instinkt rät ihm, von hier zu verschwinden. Doch er bleibt, verliebt sich in Elisabeth – und wird schlimmstes, unvorstellbares Grauen überleben ...
Gleich mit dem ersten Satz des Prologs ("in occulto vivunt") wird der Leser von der das ganze Buch durchziehenden dunklen Atmosphäre erfasst. Die Gemeinde hütet ein Geheimnis, das das Dorf seit hundert Jahren beherrscht. Dieser düsteren, beengenden Stimmung kann man sich nicht entziehen, denn die Autoren gestalten sie meisterhaft. Reich an Adjektiven beschreibt ihre Erzählung Personen, Örtlichkeiten, Szenen – und besonders gut die Stimmung einer abgeschnittenen winzigen Welt, deren Menschen besonders empfänglich für jede Art von Aberglauben sind.
Das Zeitkolorit ist eindrucksvoll und authentisch ausgemalt. Wir sehen die Gemeinde, wie sie im "Sonntagsstaat" in der Kirche Platz nimmt, streng nach Geschlechtern getrennt und gemäß Hierarchie von vorne nach hinten auf die Bänke verteilt. Anschließend geht's in die Dorfschänke, wo Mägde und Knechte aus einer Pfanne löffeln, während die Bauern selbstverständlich ein feistes Stück Fleisch vorgesetzt bekommen.
Die Figuren sind allesamt völlig individuelle, interessante Persönlichkeiten: der liebenswürdige Großvater; der hilfsbereite Knecht Albin, der Johann über die harte Arbeit zu Beginn hinweg hilft; der Pfarrer, der, in ständiger Hinwendung zum Herrgott, eine schwere Bürde trägt. Vor Vater Jakob müssen sich Elisabeth und Johann in Acht nehmen, denn er droht mit tödlichen Prügeln, sollte Johann oder ein anderes Mannsbild es auch nur wagen, sich seiner Tochter zu nähern. Dabei könnte Johann diesen Schinder "wie eine lästige Fliege" abschütteln. "Aber nur ein Narr prahlt mit seinem Können", denkt er sich lieber.
Fast hätte ich Ihnen schon zu viel verraten von diesem exzellenten Krimi. Nur weil er leicht zu den Genres Mystik und Fantasy neigt, die so gar nicht meinem Lesegeschmack entsprechen, muss ich ihm den fünften Qualitätsstern versagen; wer so etwas aber mag, wird keinerlei Kritkpunkte finden. Schauen Sie sich bitte das Cover an: Schwarzgrün strahlt es all das aus, was Sie beim Lesen erwartet. Mittig im düsteren Säulengang steht ein augenloser, mit einer Kutte bekleideter Mann, der mit beiden Händen ein Buch umschließt. Nur durch Glanz, aber nicht durch Farbe abgesetzt, entdeckt man im unteren Drittel ein kreisrundes Symbol, das seine Erklärung im Roman findet.
Passend zur Weihnachtszeit (auch unsere Dorfgemeinde erwartet die bevorstehenden Festtage) ist dies ein sehr stimmungsvoller, dunkler, derber, teils grausamer Schmöker. Ein echter Geheimtip (denn ich habe dieses Buch in keiner hiesigen Buchhandlung ausliegen sehen).