Alice im Horrorland
Rebecca James' Roman "Die Wahrheit über Alice" füllt 316 Seiten. Der reine Plot um die zwei Figuren Katherine und Alice hätte sich auf gut 100 Seiten erzählen lassen. Alles andere ist nach meinem Empfinden ein aufgeblasener Ballon pseudo-psychologischer Abhandlungen zu den Verhaltensweisen der beiden jungen Protagonistinnen und ihren reichhaltigen Problemen mit sich, mit einander und mit ihrem Umfeld.
Katherine flüchtet aus ihrer Heimat, nimmt den Nachnamen ihrer Großmutter an und besucht eine Highschool, in der sie möglichst unauffällig ihren Abschluss machen will. Hier will sie ihre Vergangenheit vergessen, ein neues Leben beginnen.
Als Katherine gerade sechzehn Jahre alt war, nahm sie ihre jüngere Schwester Rachel mit auf eine Party. Eigentlich hatte sie das junge Ding nicht in ihren eigenen Kreis einführen wollen, und außerdem hatte sie an diesem Nachmittag die alleinige Verantwortung für sie. Rachel sollte pünktlich zuhause sein, um sich auf den anstehenden Klavier-Wettbewerb vorzubereiten. Schon leicht alkoholisiert, war Katherine enthemmt, scherte sich nicht um "darf nicht, sollte besser". Am späten Abend mussten die beiden Mädchen nun dringend nach Hause, wo Katherine eine heftige Auseinandersetzung mit ihren Eltern drohen würde. Vier unbekannte Männer boten sich an, die Mädels im Auto nach Hause zu bringen. Wer so naiv handelt ...
Was nun kam, ist jedem Leser klar. Nur dass Rachel dabei sterben musste, wurde zu Katherines lebenslänglicher Schuld. Wie ein Feigling war sie nur noch weggerannt.
In ihrer neuen Umgebung ist Katherine in sich gespalten. Einerseits will sie als Einzelgängerin unerkannt bleiben. Aber ganz tief in ihrem Innern sehnt sie sich nach Freundschaft, Geborgenheit und vielleicht auch dem befreienden Gespräch über ihre Schuldgefühle, die zu einer krankhaften Besessenheit geworden sind.
Alice scheint ein Gespür für Katherines Situation zu haben. Sie lädt sie zu ihrer Geburtstagsparty ein, und schnell werden sie zu festen Freundinnen. Schon bald zeigt Alice ihren wahren Charakter: Sie ist psychisch schwerst gestört. Wie eine "Hexe" kann sie Katherine verzaubern, mit Warmherzigkeit lieben und umarmen, dann aber wieder mit Boshaftigkeit in Katherines "offene Wunde" stechen, unerbittlich hart und skrupellos bohren, sie sogar als eigentliche Mörderin ihrer Schwester dastehen lassen. Immer wieder verzeiht ihr Katherine, bis sie sich eines Tages in Mick verliebt und erkennt, dass sie den Kontakt zu Alice konsequent beenden muss, will sie nicht selbst zerstört werden.
Die Autorin erzählt aus der Sicht Katherines, wobei sie zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her springt.
Ich hatte zwischendurch keine Lust mehr auf diese immer wiederkehrende Drehorgel, die unermüdlichen Diskussionen Katherines mit Personen, die sie im weiteren Handlungsverlauf kennen lernen wird. Gebetsmühlenartig geht es immer wieder um Schuld, Schuld und nochmals Schuld (z.B. S. 274 f.).
Nur die Frage, warum aus Alice dieser Mensch gewordene Horror, dieses Abbild einer selbstverliebten Egozentrikerin voller Niedertracht und Verderbtheit wurde, hat mich das Buch zu Ende lesen lassen. Welches Trauma, welche Ursache vermag einen Menschen zu einer solchen Bestie zu machen? Rebecca James' Erklärung hat mich nicht überzeugt. Nüchtern betrachtet, gelingt es doch den meisten Menschen, ihren Hass zu analysieren und dann einigermaßen zu kontrollieren, im Zaum zu halten, sonst wäre das Leben ja die Hölle. So hätte auch Alice die Möglichkeit gehabt, über ihr Schicksal zu sprechen. Wenn sie weiterer Hilfe bedurft hätte, hätte vielleicht eine Therapie ihr Leben lebenswert machen können. Aber sie gibt solchen Wegen keine Chance und beendet ihr Leben selbst; das Buch beginnt mit ihrer Beerdigung.
Insgesamt leider ein arg konstruierter Roman, der sich wohl eher an Jugendliche richtet. Warum dieses Buch – gemäß Klappentext in 36 Ländern veröffentlicht – derart Furore gemacht haben soll, ist mir ein Rätsel.