Rezension zu »Fast eine Familie« von Bill Clegg

Fast eine Familie

von


Belletristik · Fischer · · 320 S. · ISBN 9783100023995
Sprache: de · Herkunft: us

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Ein wenig Glück

Rezension vom 29.08.2017 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Eine Explosion zerstört ein ganzes Haus und reißt vier Menschen in den Tod, unter ihnen ein junges Paar, das sich am nächsten Tag das Ja-Wort geben wollte. Um dieses schreck­liche Ereignis herum ent­wickelt der amerika­nische Autor Bill Clegg ein Puzzle, das den Hergang mit etlichen Neben- und Vor­geschich­ten aus einem guten Dutzend Perspek­tiven erzählt. Erst am Ende des Romans ergibt sich ein voll­ständi­ges Bild, und erst dann ist auch die Frage geklärt, wer die Schuld an der Kata­strophe trägt. Von Anfang an wird der Verdacht allzu pene­trant auf eine Person gelenkt, doch die hinter vorgehal­tener Hand getuschelte Anschul­digung ist zu schlimm und zu offen­sichtlich, als dass sie zutreffen könnte. Die Wahrheit, die auf den letzten Seiten wartet, ist so profan wie erschüt­ternd.

Das Cottage, das später von den Flammen vernichtet wird, gehört June Reid, einer reichen Gale­ristin aus New York. An den Wochen­enden sucht sie in der Neu­england-Idylle des Städt­chens Wells, Connec­ticut, Ruhe und Abstand. Von Adam, einem Lebe­mann, der sich gern auf sexuelle Aben­teuer mit jüngeren Frauen einlässt, ist sie geschieden, ohne ihrer gemein­samen Tochter Lolly je die Wahr­heit über ihn zu ent­hüllen. Dass Lolly, damals vier­zehn Jahre alt, die Schuld an der elter­lichen Trennung ihrer Mutter zuschob, den Vater weiterhin vergöt­terte und sich psychisch, räumlich und zeitlich von der Mutter fern­hielt, musste sie hin­nehmen.

Als Studentin lernt Lolly den sympathischen gleich­altrigen Will kennen. Seiner benei­dens­wert intak­ten Familie fühlt sich Lolly näher als der zerrüt­teten eigenen. Bald macht Will Lolly einen Heirats­antrag. Die Hochzeit soll in Wells statt­finden. Wills Eltern und auch Adam reisen an. Während Wills Eltern ein Zimmer in einem Motel beziehen, näch­tigen die Braut­leute und die beiden Ex­partner Adam und June im Cottage, ebenso wie Luke, Junes junger Lover.

Den verheerenden Brand in der Nacht vor der Hochzeit überlebt June als Einzige. Danach verlässt sie den Unglücks­ort, der ihr die vier liebsten Menschen ihres Lebens genom­men hat, für immer.

Selbst wenn die Frage nach der Brandursache bzw. dem Brand­stifter – die Polizei stellt ihre ohne­hin dürf­tigen Ermitt­lun­gen schnell ein – im Vorder­grund bleibt und für eine ausge­prägte Spannungs­kurve sorgt, ist der lesens­werte Roman kein Krimi, sondern ein viel­schich­tiges Abbild des Sozial­gefüges einer amerika­nischen Klein­stadt. Zu dessen Diffe­renzie­rung dient die Auf­splitte­rung in unge­wöhn­lich viele Erzähl­perspek­tiven, von denen etliche durchaus unwichtig erscheinen, jedenfalls im engen Blick auf den »Krimi­plot«.

An den Grundfesten der kleinbürgerlichen Gemein­schaft rütteln die Neu­reichen aus New York, zu denen auch June gehört. Sie kaufen Immo­bilien und machen sich im Alltag breit. Man ist ihnen zu Diensten, putzt ihre Häuser, pflegt ihre Gärten, besorgt ihre Ein­käufe, aber integriert werden sie nicht. Dazu ist schon ihr Lebens­stil vielfach zu anders­artig.

So stößt auch Junes ungleiche Liebesbeziehung im ganzen Dorf auf Befrem­den und Ableh­nung. Allein Lukes dunkle Haut­farbe markiert ihn schon als Außen­seiter. Doch auch Tochter Lolly tut sich ausge­sprochen schwer damit, dass Luke, fast halb so alt wie ihre Mutter, ihr Bruder sein könnte. Über­dies hat der gut aus­sehende Mann eine frag­würdige Ver­gangen­heit. Von der allein­erzie­henden Mutter groß­gezogen, ohne dass er seinen leib­lichen Vater kannte, stand dem begab­ten Schwim­mer an der High­school eine mit Stipen­dium geför­derte Sport­karriere offen, bis man Drogen bei ihm fand und er ins Gefäng­nis wan­derte. Für die Dorf­gemein­schaft ist von Anfang an ausge­macht, dass er der Brand­stifter war.

Die Geschichte von Lukes Mutter ist ein weite­res Beispiel dafür, wie schnell jemand, der sich dem gelten­den Verhaltens­kodex nicht unter­werfen will oder kann, ausge­grenzt wird. Die attrak­tive, von vielen Männern begehrte Lydia Morey ließ sich einst mit einem Fremden ein und setzte dadurch ihre sichere Ehe mit dem reichen Earl Morey aufs Spiel. Dass dieser gewalt­tätig war, sie im betrun­kenen Zustand verprü­gelte und sie sich einfach nur nach etwas kurz­zeitiger Geborgen­heit und Wärme sehnte, erfahren wir aus ihrer Erzäh­lung. Als Quittung bleibt ihr der zweifel­hafte Ruf als ver­ruchte Schlampe, die die Männer als eine Art Vogel­freie betrach­ten und immer wieder an­machen zu dürfen glauben.

Wie Lydia gibt es noch weitere Charaktere mit versehrten Seelen, die nicht zum inneren Zirkel der Protago­nisten gehören, deren Erleb­nisse und Erfah­rungen der Autor aber geschickt mit dem eigent­lichen Plot verwebt. Zur passen­den Zeit kreuzen sich die Wege, wenige Perso­nen laufen ein kleines Stück gemein­sam, um sich dann wieder zu trennen. Bill Clegg präsen­tiert seinen Lesern eine Vielzahl sensibel gezeich­neter Lebens­bilder mit selbst verschul­detem oder schicksal­haftem Leid, Sehn­süchten, Verlet­zungen, Miss­verständ­nissen, lang getragener Schuld. Sie alle zusammen­genom­men bilden ein tristes Schwer­gewicht in seinem Roman­debüt (»Did you ever have a family« Bill Clegg: »Did you ever have a family« bei Amazon , über­setzt von Adelheid Zöfel), und manches davon mag des Guten zuviel sein: Drogen­miss­brauch, Koma mit Hirn­schädi­gung, Entzug, Alz­heimer, Krebs­erkran­kung, Auto­unfall mit Todes­folge, ein grau­samer Mord. Neben Wills Eltern leben nur zwei lesbische Frauen in einer intakten Verbin­dung, nur wenige Figuren können sich von ihrer Ver­gangen­heit lösen, ihre schweren Lasten abwerfen und mit etwas Hoffnung in die Zukunft schauen.


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