
Ein wenig Glück
Eine Explosion zerstört ein ganzes Haus und reißt vier Menschen in den Tod, unter ihnen ein junges Paar, das sich am nächsten Tag das Ja-Wort geben wollte. Um dieses schreckliche Ereignis herum entwickelt der amerikanische Autor Bill Clegg ein Puzzle, das den Hergang mit etlichen Neben- und Vorgeschichten aus einem guten Dutzend Perspektiven erzählt. Erst am Ende des Romans ergibt sich ein vollständiges Bild, und erst dann ist auch die Frage geklärt, wer die Schuld an der Katastrophe trägt. Von Anfang an wird der Verdacht allzu penetrant auf eine Person gelenkt, doch die hinter vorgehaltener Hand getuschelte Anschuldigung ist zu schlimm und zu offensichtlich, als dass sie zutreffen könnte. Die Wahrheit, die auf den letzten Seiten wartet, ist so profan wie erschütternd.
Das Cottage, das später von den Flammen vernichtet wird, gehört June Reid, einer reichen Galeristin aus New York. An den Wochenenden sucht sie in der Neuengland-Idylle des Städtchens Wells, Connecticut, Ruhe und Abstand. Von Adam, einem Lebemann, der sich gern auf sexuelle Abenteuer mit jüngeren Frauen einlässt, ist sie geschieden, ohne ihrer gemeinsamen Tochter Lolly je die Wahrheit über ihn zu enthüllen. Dass Lolly, damals vierzehn Jahre alt, die Schuld an der elterlichen Trennung ihrer Mutter zuschob, den Vater weiterhin vergötterte und sich psychisch, räumlich und zeitlich von der Mutter fernhielt, musste sie hinnehmen.
Als Studentin lernt Lolly den sympathischen gleichaltrigen Will kennen. Seiner beneidenswert intakten Familie fühlt sich Lolly näher als der zerrütteten eigenen. Bald macht Will Lolly einen Heiratsantrag. Die Hochzeit soll in Wells stattfinden. Wills Eltern und auch Adam reisen an. Während Wills Eltern ein Zimmer in einem Motel beziehen, nächtigen die Brautleute und die beiden Expartner Adam und June im Cottage, ebenso wie Luke, Junes junger Lover.
Den verheerenden Brand in der Nacht vor der Hochzeit überlebt June als Einzige. Danach verlässt sie den Unglücksort, der ihr die vier liebsten Menschen ihres Lebens genommen hat, für immer.
Selbst wenn die Frage nach der Brandursache bzw. dem Brandstifter – die Polizei stellt ihre ohnehin dürftigen Ermittlungen schnell ein – im Vordergrund bleibt und für eine ausgeprägte Spannungskurve sorgt, ist der lesenswerte Roman kein Krimi, sondern ein vielschichtiges Abbild des Sozialgefüges einer amerikanischen Kleinstadt. Zu dessen Differenzierung dient die Aufsplitterung in ungewöhnlich viele Erzählperspektiven, von denen etliche durchaus unwichtig erscheinen, jedenfalls im engen Blick auf den »Krimiplot«.
An den Grundfesten der kleinbürgerlichen Gemeinschaft rütteln die Neureichen aus New York, zu denen auch June gehört. Sie kaufen Immobilien und machen sich im Alltag breit. Man ist ihnen zu Diensten, putzt ihre Häuser, pflegt ihre Gärten, besorgt ihre Einkäufe, aber integriert werden sie nicht. Dazu ist schon ihr Lebensstil vielfach zu andersartig.
So stößt auch Junes ungleiche Liebesbeziehung im ganzen Dorf auf Befremden und Ablehnung. Allein Lukes dunkle Hautfarbe markiert ihn schon als Außenseiter. Doch auch Tochter Lolly tut sich ausgesprochen schwer damit, dass Luke, fast halb so alt wie ihre Mutter, ihr Bruder sein könnte. Überdies hat der gut aussehende Mann eine fragwürdige Vergangenheit. Von der alleinerziehenden Mutter großgezogen, ohne dass er seinen leiblichen Vater kannte, stand dem begabten Schwimmer an der Highschool eine mit Stipendium geförderte Sportkarriere offen, bis man Drogen bei ihm fand und er ins Gefängnis wanderte. Für die Dorfgemeinschaft ist von Anfang an ausgemacht, dass er der Brandstifter war.
Die Geschichte von Lukes Mutter ist ein weiteres Beispiel dafür, wie schnell jemand, der sich dem geltenden Verhaltenskodex nicht unterwerfen will oder kann, ausgegrenzt wird. Die attraktive, von vielen Männern begehrte Lydia Morey ließ sich einst mit einem Fremden ein und setzte dadurch ihre sichere Ehe mit dem reichen Earl Morey aufs Spiel. Dass dieser gewalttätig war, sie im betrunkenen Zustand verprügelte und sie sich einfach nur nach etwas kurzzeitiger Geborgenheit und Wärme sehnte, erfahren wir aus ihrer Erzählung. Als Quittung bleibt ihr der zweifelhafte Ruf als verruchte Schlampe, die die Männer als eine Art Vogelfreie betrachten und immer wieder anmachen zu dürfen glauben.
Wie Lydia gibt es noch weitere Charaktere mit versehrten Seelen, die nicht zum inneren Zirkel der Protagonisten gehören, deren Erlebnisse und Erfahrungen der Autor aber geschickt mit dem eigentlichen Plot verwebt. Zur passenden Zeit kreuzen sich die Wege, wenige Personen laufen ein kleines Stück gemeinsam, um sich dann wieder zu trennen. Bill Clegg präsentiert seinen Lesern eine Vielzahl sensibel gezeichneter Lebensbilder mit selbst verschuldetem oder schicksalhaftem Leid, Sehnsüchten, Verletzungen, Missverständnissen, lang getragener Schuld. Sie alle zusammengenommen bilden ein tristes Schwergewicht in seinem Romandebüt (»Did you ever have a family« , übersetzt von Adelheid Zöfel), und manches davon mag des Guten zuviel sein: Drogenmissbrauch, Koma mit Hirnschädigung, Entzug, Alzheimer, Krebserkrankung, Autounfall mit Todesfolge, ein grausamer Mord. Neben Wills Eltern leben nur zwei lesbische Frauen in einer intakten Verbindung, nur wenige Figuren können sich von ihrer Vergangenheit lösen, ihre schweren Lasten abwerfen und mit etwas Hoffnung in die Zukunft schauen.