Rezension zu »Die Ballade der Lila K« von Blandine Le Callet

Die Ballade der Lila K

von


Belletristik · Ullstein · · Gebunden · 368 S. · ISBN 9783550088711
Sprache: de · Herkunft: fr

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Am Ende frei

Rezension vom 28.08.2013 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Lila befindet sich in einem abgeschlossenen, halbdunklen Raum. Meistens dämmert sie vor sich hin. Man hat sie sediert. Aber die festen, schmerzenden Gurte an den Handgelenken, mit denen sie am Bett festge­schnallt ist, spürt sie deutlich. Monitore über­wachen ihre Körperfunktionen. Eine Kamera beobachtet sie rund um die Uhr. Da sie kein Licht erträgt, schützt eine dunkle Brille ihre Augen. Den ekligen Fraß, den man ihr zu essen gibt, kann sie nicht runter­würgen; deshalb wird sie über eine Sonde ernährt, die durch ihre Nase führt. Besänftigende Musik berieselt sie – sie soll »dem Ganzen einen Anstrich von Menschlich­keit« verleihen.

Hat man Lila krankheitshalber in eine reale Psychiatrie eingewiesen? Oder ist Lila Gefangene eines Psy­chopathen? Ist Blandine le Callets »La Ballade de Lila K« Blandine Le Callet: »La Ballade de Lila K« bei Amazon (von Patricia Klobusiczky übersetzt) ein Horrorthriller?

Lilas Schicksal trägt sich in einer beängstigenden Zukunft in Paris zu. Sie wird am 19. Oktober 2089 im »Gringny-Klinikum, 5. Bezirk extra muros« geboren, in der »Zone«. Der Vater ist unbekannt, die Mutter lebt verwahrlost, geht der Prostitution nach. Lila kann sich später kaum noch an sie erinnern; doch der Moment, als »schwarzgekleidete Männer mit Helmen« die Wohnungstür eintreten, ins Zimmer eindringen, die Mutter vom Bett zerren und in Zwangsjacke abführen, verfolgt sie bis in ihre Erwachsenenträume, aller Be­ruhi­gungs­mittel zum Trotz.

Kurz nach ihrem sechsten Geburtstag wird Lila im staatlichen »Zentralheim« aufgenommen. Das liegt auf der ›richtigen‹ Seite – »intra muros«. Die Heimbewohner werden dort gesellschaftskonform sozialisiert. Alljährlich prüft eine Kommission, ob sie Fortschritte machen und unabhängig in die normierte Gesell­schaft entlassen werden können.

Lila macht es ihren Erziehern nicht leicht. Ihre Vergangenheit, die Suche nach ihren Wurzeln, nach dem Verbleib der Mutter, der das Sorgerecht entzogen wurde, und ihr starker Wille, etwas von ihrer eigenen Persönlichkeit zu erhalten, sprechen in den Augen der Behörde gegen sie. Doch als sie achtzehn Jahre alt ist, kann das überdurchschnittlich intelligente Mädchen die Kommission mit einer exzellenten Abschluss­prüfung überzeugen und darf nach Jahren totaler Aufsicht das Heim verlassen. Sie bezieht ein Apparte­ment, darf aber trotz bester Voraussetzungen nicht studieren, sondern muss die ihr zugeteilte einfache Arbeit als Datenerfasserin in der »Großen Bibliothek« annehmen.

Auch hier entkommt sie den Kontrollautoritäten nicht, hat in ihrer kleinen Arbeitszelle aber immerhin Ruhe vor Menschenmengen und Lärm – beides empfindet sie nach wie vor als quälend –; sie kann sich in Bücher verkriechen und hat Zugang zu Archiven. Die Akten ihrer Mutter bleiben zwar unerreichbar für sie, aber ein Mitarbeiter, der sich zu Lila hingezogen fühlt, lässt ihr die Dokumente heimlich zukommen.

Es sind düstere Visionen, die die Autorin vorbringt, und sie greift dabei auf Konzepte und Motive zurück, die aus etlichen literarischen und filmischen Dystopien geläufig sind, vor allem die strikte räumliche Tren­nung zwischen den Wohngebieten für die Führungsschicht und den Elendsvierteln der unterdrückten Mas­sen.

Le Callet entwirft eine autoritäre Gesellschaft, in der das Leben der Bürger bis in den Intimbereich regle­mentiert und strengstens überwacht wird. Besonders große Bedeutung misst man rigiden Hygienevor­schriften zu. Die Wohlständler gönnen sich Schönheitschirurgie und halten sich Malaisen in Folge von Gendefekten durch frühzeitige Abtreibungen vom Leib. Die Menschen auf der anderen Seite der Trenn­mauer überlässt man dagegen ihrem Schicksal; sie verrohen im Elend, erkranken an Mikroben, altern schnell, gehen im Dreck vor die Hunde und bringen einander in ihrem verzweifelten Überlebenskampf um. Kriminelle Banden befehden einander in bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen.

Die technische Entwicklung wird allein zum Nutzen der Eliten und zur Sicherung des Status Quo genutzt. Allerdings ist die Autorin gerade in dieser Hinsicht nicht nur uninspiriert, sondern schon jetzt veraltet. Als ob man in hundert Jahren noch Implantate zur Empfängnisverhütung bräuchte! Als ob man dann noch teure Helikopter über einer Stadt kreisen lassen müsste – wo doch schon heute ein Netz von Überwachungs­kameras ganz London im Griff hat, jeder Handynutzer geortet werden kann und Geheimdienstler über Sa­tellit oder Drohne erkennen können, welche Zeitung ein Verdächtiger irgendwo im Orient gerade liest … Geradezu putzig wirkt die Idee der automatischen Urinanalyse, bei der eine im WC eingebaute Apparatur das Pröbchen nimmt und analysiert und seinen Befund gleich an einen Mediziner weiterleitet. Und wenn um 2100 Bücher wegen der Kontaminierungsgefahr nur mit Schutzhandschuhen gelesen werden dürfen, was ist dann aus den Mikrofilmen, Ebook-Readern und den gewaltigen digitalen Bibliotheken großer Inter­net-Konzerne und wissenschaftlicher Institute geworden, die wir schon heute nutzen? In den nächsten hun­dert Jahren wird sich die Welt unvorstellbar umfassend verändern – unvergleichlich radikaler als zwischen 1913 und 2013 –, aber bei Blandine Le Callet bleibt sie technisch stehen.

Klar: Die Gefahren einer entmündigenden Gesellschaft sind nicht Le Callets Anliegen; dazu ist ihr Schwarz-Weiß-Tableau zu schlicht konzipiert, zu flächig ausgemalt. Es dient nur als Kulisse für ihre Pro­tagonistin, die auf der falschen Seite des Systems geboren wurde und es schafft, sich durchzuschlagen hin­über auf die ›richtige‹, wo sie als angepasste, funktionierende, aber schwer traumatisierte Frau die Wohl­taten des Hoch­sicher­heits­apparates genießen darf. Ihre Entwicklung bleibt individuell und ohne Auswir­kungen auf andere oder das System.

Die Spannung beim Lesen resultiert aus Lilas Suche nach ihrer Mutter, nach Erklärungen, nach einer Schuld, die irgendwo in der Vergangenheit verborgen liegt. Warum verkriecht sie sich noch heute am lieb­sten in einem Wandschrank? Warum hat sie panische Angst vor Berührungen? Gleichzeitig weiß sie um ganz in ihrem Inneren vergrabene Empfindungen aus ihrer Kindheit – Zuneigung und Sorge ihrer Mutter, die diese trotz widrigster Umstände aufbrachte; Gerüche (etwa aus einer Dose Katzenfutter), die noch heute Heißhunger auslösen; die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Wärme und Gefühl.

Lila wird zur Kämpferin für ihr besseres Leben auf der anderen Seite. Sie muss sich nicht nur der Willkür des allmächtigen Überwachungsstaates entziehen, ihre Aversionen gegen die Herren der Kommission unter­drücken, geschickt in die ihr zugedachte Rolle schlüpfen und sich gefällig geben, sondern auch ihre eigenen Ängste überwinden, zu sprechen lernen, sich unter Menschen trauen. Wie es in ihrem Innern aus­sieht, darf sie niemandem preisgeben. Bei ihrem Tanz auf dem Hochseil über einen Vulkankrater kann sie jederzeit abstürzen, sei es, dass sie selbst unachtsam ist, sei es, dass ein Anonymus ein Urteil über sie spricht.

Am Schluss des Romans findet sie den schützenden Kokon, in dem sie endlich sie selber ist: »[Ich] werde ich mich in den Wandschrank legen, wo mich niemand sehen oder erreichen kann … Ich werde keine Angst haben.«


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