Rezension zu »Stromschnellen« von Bonnie Jo Campbell

Stromschnellen

von


Belletristik · Piper · · Gebunden · 400 S. · ISBN 9783492054928
Sprache: de · Herkunft: us

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Der ewig gute Westen

Rezension vom 28.07.2013 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Kalamazoo ist nicht nowhere. Jahrhunderte vor dem weißen Mann lebten hier im südwestlichen Michigan schon Stämme der Hopewell-Kultur, später dann die Pottawatomi, aus deren Sprache wohl der Name stammt. Ob Menschen und Zeiten damals besser waren als die, seit die Europäer das Land einnahmen, sei dahingestellt. Aber es sind jene Zeiten, die gemeint sind, wenn Amerikaner vom Westen, von unberührter Natur und weitem (d.h. lee­rem) Land schwärmen.

In amerikanischen Ohren muss sich »Kalamazoo« in etwa so kauzig anhören wie »Posemuckel« oder »Hin­ter­tupfingen« im Deutschen, denn es ist ebenso wie diese als Synonym für »ein Nest irgendwo in der Provinz« in die Umgangssprache eingegangen (obwohl es de facto über 70.000 Einwohner hat).

Dort also lebt die Autorin Bonnie Jo Campbell, Verfasserin des Romans »Once Upon A River«. Der Ori­ginaltitel spielt überdeutlich mit der typischen Einleitungsfloskel von Märchen und ergänzt gleichzeitig den Schauplatz, der machtvoll wie ein literarischer Topos daherkommt: »Es war einmal an einem Fluss …«. (Wie hohl ist dagegen der deutsche Titel »Stromschnellen«!)

Und auf einer Farm in diesem Gebiet der frühen Siedler lebt Mitte der Siebziger Jahre – noch ein Retro-Ef­fekt – die sechzehnjährige Protagonistin Margaret Louise, genannt »Margo«, mit ihrem Vater Crane. Drü­ben auf der anderen Seite des (fiktiven) Stark River kann sie das Haus ihrer reichen Verwandten, der Mur­rays, sehen. Sie sind Eigentümer einer Metallfabrik, Namensgeber des Ortes Murrayville und Hauptarbeit­geber von dessen Einwohnern inklusive Crane.

Das Verhältnis der beiden Familien zueinander ist problembehaftet und angespannt, denn Margos Vater Crane ist ein außereheliches Kind von Großvater Murray. Die Beziehung zwischen Cal, Murrays legiti­mem Sohn, und Crane ist von Rivalität und Eifersucht geprägt – Gifte, die auch der nächsten Generation ein­ge­impft wurden. Ständig gibt es Ärger zwischen Margo und ihren Cousins. Billy, Cals Ältester, wird es nie verwinden, dass Großvater Murray das begehrte und eigentlich ihm zugehörige Teakholzboot »The River Rose« nicht ihm, sondern seiner Lieblingsenkelin vererbte.

Ein zusätzlicher Reizfaktor sind die Ehefrauen der ungleichen Brüder. Cals Ehefrau Joanne steht mitten im Leben, sie packt zu, und sie hat Cal fünf Söhne geboren. Margos Mutter Luanne dagegen verließ ihre Fa­milie, als Margo fünfzehn war. Im Haushalt hatte man sie selten gesehen; stattdessen lag sie tagelang im Bett. Sie sei ein Freigeist, sagte man, aber eigentlich litt sie unter dem urwüchsigen Leben am Fluss. Als sie es gar nicht mehr ertrug und floh, war das für Margo ein zweiter schmerzvoller Verlust, nachdem weni­ge Monate zuvor ihr geliebter Grandpa verstorben war.

Bei dessen Beerdigungsfeier nahm Margos Schicksal seine entscheidende Wendung und führte zum end­gültigen Bruch zwischen den Familien. Cal machte sich an seine begehrenswerte Nichte heran, und Crane entdeckte die beiden in eindeutiger Pose im Schuppen. Nach einer blutigen Schlägerei zwischen den Halb­brüdern schob Cal, nun auch von Joanne zur Rede gestellt, alle Schuld auf Margo (»Das kleine Flittchen hat mich hergelockt.«), und die verteidigte sich nicht. Crane verlor seinen Job als Werksmeister und verbot Margo jeglichen Kontakt mit den Murrays.

Doch die Entzweiung zwischen den Brüdern schreitet unterschwellig fort, auch wenn der Fluss sie trennt. Ihr Hass brodelt weiter, Missverständnisse verwirren die Gemüter noch mehr, bis es schließlich zu einer fatalen Eskalation der Gewalt kommt, bei der Margos Vater erschossen wird.

Ganz auf sich allein gestellt, um ihre verlorenen Familienmitglieder trauernd, von allen verlassen, kehrt Margo dem bösen Ort den Rücken. Neben ein paar Habseligkeiten packt sie ihr Gewehr ein (sie ist inzwi­schen eine begabte Schützin) und fährt in ihrem Boot den Schicksalsfluss hinunter. In Kalamazoo findet sie ihre Mutter; bei ihrer weiteren Reise macht sie diverse Erfahrungen – gute und schlechte – mit Männern, die ihr am Fluss begegnen und ihr eine vorübergehende Bleibe bieten.

Vor allem aber findet sie sich selbst. Am Ende weiß sie, wo sie hingehört: Ihr Platz ist nicht in der Zivili­sa­tion, sondern in der freien Natur, mit der sie schon von Kindesbeinen an innigst vertraut ist, deren Gefah­ren sie sich stellen, deren Reichtum sie nutzen kann und wo sie endlich in uneingeschränkter Freiheit leben möchte. Naturverwachsenheit und Wildheit ihres Wesens vermitteln bereits die starken Auftaktsätze: Margo »ruderte stromaufwärts, um nach Braut-, Riesentafelenten und Fischadlern Ausschau zu halten und im Farn nach einem Tigersalamander zu suchen. […] Sie vertäute ihr Boot […], um Flusskrebse, Brunnen­kres­se und winzige Wilderdbeeren zu sammeln. Ihre abgehärteten Füße trotzten den scharfkantigen Stei­nen und Glasscherben. Beim Schwimmen schluckte Margo kleine lebende Fische, und dann spürte sie, wie der Stark River sich in ihr regte.«

Mit Margo hat Bonnie Jo Campbell eine Figur geschaffen, deren Charakter von Urinstinkten geprägt und deren Drang nach Freiheit unzähmbar ist. Gesetze, die der Mensch geschaffen hat, müssen zurückstehen, zumal ihr Normen- und Gefühlssystem (Gerechtigkeit, Achtung, Zuwendung, Aufopferung …) aus ihr selbst geboren sind. Diese Ideologie des extremen Individualismus, gepaart mit der Hinwendung zur freien Natur als Raum unbegrenzter Freiheit und Chancen (aber auch Gefahren), in den der desillusionierte Städ­ter ent­flieht, liegt Dutzenden von Wildwest-Filmen zugrunde. In Campbells Abenteuerroman begegnen wir denn auch auf Schritt und Tritt einer ganzen Galerie stolzer Western-Motive, einschließlich der Feuerwaf­fen (Margos Vorbild ist Annie Oakley, Kunstschützin und Superstar aus Buffalo Bills Wildwest-Show.).

»Once Upon A River« Bonnie Jo Campbell: »Once Upon A River« bei Amazon , übersetzt von Carina von Enzenberg, ist ein durch und durch ame­ri­kani­sches Buch. Das durchaus realistisch gehaltene Epos, glücklicherweise weitgehend frei von Pathos, stillt gleichzeitig die amerikanische Nostalgie nach den (vermeintlich) good old days im frühen 19. Jahrhundert, als es noch eine wahrhaftige frontier gab, die den zivilisierten, langweiligen Osten vom promised land trennte, wo der einsame trapper die Wälder durch­streifte, Fährten las, sich von Wildbret und Früchten ernährte und allenfalls mal auf einen pioneer, einen wagon train oder red skins traf. Da soll die Freiheit grenzenlos gewesen sein, die Bösen erkannte man gleich an ihrer Mimik, und überhaupt war die Welt schlicht gestrickt. Aber ach, diese amerikanische Ver­gangenheit wurde zu arg verklärt und ideologisch instrumentalisiert, als dass man ihr heute noch nachträu­men könnte – schon gleich nicht von den ancient lands des engen Europas aus …


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