Belgrad auf dem langen Weg in die Normalität
Belgrad 2004: Milena Lukin (49 und geschieden) fährt einen Lada Niva, liebt Zigarillos, weiß sich dezent intellektuell zu kleiden. Ihr Lebensgefühl drückt sie dennoch mutig in grellen Farben aus, gönnt sich schon mal einen »Ausreißer«, »einen grasgrünen, knielangen Mantel«. Aber im Moment ist sie in einem Stimmungsloch – sie würde sich gern in ein »schwarzes Cape hüllen«.
Philip, Milenas Ex, lebt in Hamburg. Sie hat das Sorgerecht für ihren zehnjährigen Sohn Adam, und beide wohnen gemeinsam mit Mutter Vera, einer guten Seele, die ihre klaren Ansichten klar ansagt, besonders hinsichtlich der modernen, westlich orientierten Entwicklung des Enkels.
Milena bringt ein wenig Geld ins Haus. Sie hat einen Zeitarbeitsvertrag beim von der Bundesrepublik Deutschland mitfinanzierten »Institut für Kriminalistik und Kriminologie« und soll einen »Fachbereich für Internationale Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit« aufbauen. Die Hälfte des Geldes für ihr Projekt kommt vom serbischen Bildungsministerium, das ihr dazu jede Menge Geröll in den Weg wirft. Wenn es etwa um die Aufklärung von Verbrechen aus der Kriegsvergangenheit geht, »sollten dem Willen möglichst keine großen Taten folgen«. Die andere Hälfte steuert die »Deutsche Akademische Gesellschaft« bei, die Milena oft auf die Palme bringt, weil sie so langsam arbeitet und arrogant erscheint.
Außerdem schreibt Milena an ihrer Habilitation: »Die Strafverfolgung des Kriegsverbrechens auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien [sic!] in der Zeit von 1990 bis einschließlich 1999«. Wenn sie denn je fertig wird, könnte sie ihr vielleicht eine Professur in Berlin oder noch besser in den USA ermöglichen.
Weg von Belgrad und hinaus in die Welt ziehen, das würde sie schon gerne, nicht nur wegen des Wohlstands im Westen. Gerade war Adam während der Ferien zu Besuch bei Vater Philip und hat erzählt, was sie Tolles unternommen haben – Segeln waren sie, und beim nächsten Mal wollen sie Schlittschuh fahren und in einer Halle klettern. All dies und viel mehr wird Milena ihrem Sohn nie bieten können.
Daher ist sie schon ein wenig eifersüchtig auf Philip. Hinzu kommt der Herzschmerz. Er hat eine Neue, und die ist das genaue Gegenteil von Milena.
Die Protagonistin Milena Lukin steht im Mittelpunkt einer neuen Krimireihe, die in Belgrad angesiedelt ist. Zur Seite steht ihr der Anwalt Siniša Stojkoviæ, ein Montenegriner. Er hatte seinen Posten als Staatsanwalt verloren, weil er in den Neunzigern »den kriminellen Sohn des Diktators hinter Schloss und Riegel bringen wollte«. Die beiden Figuren sind der Feder des Autorenduos Christian Schünemann und Jelena Volić entsprungen – ein ungewöhnliches Gespann: deutsch der eine, gebürtige Belgraderin die andere. Sie können die Serie, deren Auftakt »Kornblumenblau« bildet, mit markanten Identitäten prägen.
Milena Lukin ist keine offizielle Ermittlerin, sondern gerät durch ihren Bekannten Stojkoviæ an ihren ersten Fall. Der beruht auf einer wahren Begebenheit, den bereits das Vorwort referiert: »Am 5. Oktober 2004 kamen in einer Belgrader Kaserne zwei Soldaten unter mysteriösen Umständen ums Leben.« Nach Darstellung der Armee haben sie Suizid begangen. Eine unabhängige Expertenkommission berichtet dagegen abschließend von Mord durch Schüsse aus nächster Nähe.
Diesen Verlauf zeichnet der Roman nach, wobei uns die Recherchen der beiden Protagonisten zurück in die schwärzesten Zeiten des Balkankonflikts führen. Die beiden Gardisten tragen die Uniform ihrer serbischen Eliteeinheit – kornblumenblau sind ihre Jacken –, als sie am letzten Tag ihres jungen Lebens ihren Wachdienst auf dem Militärgelände von Topèider antreten. Bald werden sie tot aufgefunden. Der vom Militärgericht beauftragte Untersuchungsrichter und mit ihm die offiziellen Stellen sprechen von Selbstmord; man äußert den Verdacht, die beiden Männer seien Mitglieder einer Sekte gewesen und Opfer eines Rituals geworden. Die Familien der Toten aber glauben nicht an die ihnen aufgetischte Version. Zumal ihnen auch noch die Leichenschau verwehrt wird, engagieren sie den Anwalt Stojkoviæ, der ebenfalls überzeugt ist, dass das Regime etwas zu verbergen hat.
Dass der Fall richtig aufgeklärt, am Ende ein Schuldiger ermittelt und dingfest verhaftet würde, damit kann der Leser nicht rechnen; dafür ist der Einsicht- und Handlungshorizont der beiden Pseudokriminalisten zu begrenzt. Es ist eine dritte Person, durch deren Augen wir die Hintergründe erfahren, die zu dem Verbrechen führten.
Vor dem komplexen politischen Hintergrund eines so diffizilen Krieges der allerjüngsten Vergangenheit einen Krimi anzusiedeln, der unterhalten und Spannung erzeugen soll, ist ein schwieriges Unterfangen. Was das Genre am wenigsten leisten kann (und gar nicht erst versuchen sollte), ist, rückblickend »neue/wahre/sensationelle Zusammenhänge« aufzudecken. Schünemann und Volić gelingt es, die nie vergessenen Tages-Themen aus den Neunziger Jahren anschaulich in Erinnerung zu rufen, an wichtige Schlagzeilen zu erinnern – und das ist schon eine Menge; weitergehende Ansprüche erheben sie nicht.
Die Fassade der lebenslustigen Stadt Belgrad erweist sich bei näherem Hinsehen als noch reichlich brüchig und instabil. Es geht quirlig zu, die Bewohner versuchen die Normalität zu leben. Die Straßen sind ständig verstopft. Schick gekleidete Menschen flanieren auf den Hauptstraßen, treffen sich in Bars, benutzen ganz selbstverständlich ihre neuesten elektronischen Spielzeuge, wie in den meisten anderen Ländern der Welt auch. Doch immer noch agieren die alten Seilschaften, nachweisliche und international gesuchte Kriegsverbrecher leben im Untergrund, ziehen die Strippen der Macht. Und noch immer lebt in vielen Herzen der Hass.