Rezension zu »Kleine Freuden« von Clare Chambers

Kleine Freuden

von


Frauenexistenzen in den Fünfzigerjahren: Eine von Leben und Liebe nicht verwöhnte Lokaljournalistin mittleren Alters vertieft sich in den spannenden Fall einer angeblichen Jungfrauengeburt und gerät dabei in Konflikte mit ihren eigenen Sehnsüchten.
Belletristik · Eisele · · 416 S. · ISBN 9783961611164
Sprache: de · Herkunft: gb

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Die unheilige Jungfrau von Sidcup

Rezension vom 20.12.2021 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Wir kennen sie längst, die Lebensbedingungen der Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg, als die gröbste Not über­wunden war, eine neue Norma­lität einkehrte und der Wohlstand zunahm. Aber bis sich Emanzi­pations­bewegun­gen formier­ten, an Einfluss gewannen, gar Erfolge erzielten, war es noch lange hin. Zahl­reiche Romane schildern die konser­vative Zwischen­phase, in der eine Frau Erfüllung darin zu finden hatte, sittsame Ehegattin, pflicht­bewusste Mutter und sparsame Hausfrau zu sein. Berufs­tätig­keit, Ein­mischung bei Geschäf­ten, Mitreden bei Fragen der Technik und der Politik, all so etwas galt als unschick­lich für Frauen, zumal sie dazu auch keine Kompe­tenzen mitbrach­ten. Wie auch, wo sich ihre Schulbil­dung auf Kinder, Küche, Kirche be­schränkte. Über eigenes Taschen­geld verfügen und Auto fahren dürfen zeugten schon von einer groß­mütigen Gesinnung des Haushalts­vor­standes.

Was aber, wenn eine Frau – aus welchen Gründen auch immer – unverhei­ratet blieb? In dieser Lage befindet sich Jean Swinney, die Protago­nistin des Romans »Small Pleasures« Clare Chambers: »Small Pleasures« bei Amazon von Clare Chambers. Karen Gerwig hat das Buch der 1966 geborenen briti­schen Autorin ins Deutsche übersetzt. Das Dilemma des Werkes ist, dass Clare Chambers, inspi­riert und faszi­niert von dem histori­schen Hinter­grund und seinem Kolorit, einen ganz dem Zeitgeist verhaf­teten Plot ersinnt und ihre Figuren fein­fühlig mit authenti­schen Gedanken­welten, Lebens­weisen und Dialogen gestaltet, dabei aber nicht genug Distanz findet. So kommt ihre Erzählung insgesamt leider recht bieder und altbacken daher, und man vermisst eine Alter­native, eine Anregung, eine frische Brise in Inhalt und Stil.

Jean Swinney, bald vierzig, arbeitet als Kolum­nistin bei einer lokalen Tages­zeitung, ist aber in der von Männern domi­nierten Redaktion nur eine Rand­erschei­nung. Man überlässt ihr die Themen, die die weibliche Leser­schaft begeis­tern werden, wie etwa moderne Haushalts­führung (»Sägespäne eignen sich hervor­ragend zur Teppich­reinigung«), und weniger Brisantes wie die Frage der »Partheno­genese bei Seeigeln, Fröschen und Kaninchen«. Erstaun­licher­weise löst gerade dieser Artikel eine Flut von Leserzu­schriften aus, wohl weniger durch seinen Inhalt als von der reißeri­schen Schlag­zeile provo­ziert: »Männer für die Fortpflan­zung nicht mehr benötigt!«.

Aus dem prall gefüllten Leserpostsack erregt ein Brief Aufsehen: Eine Mrs Gretchen Tilbury aus Sidcup im Süd­osten von London schreibt, ihre zehn­jährige Tochter sei »ohne Zutun eines Mannes geboren«. Eine wahr­haftige Jung­frauen­geburt also? Jean Swinney, für das »Frauen­thema« prädes­tiniert, zeigt Interesse, will Mrs Tilbury kennen­lernen und das Mysterium der unbe­fleckten Empfäng­nis aufklären. Damit wird ihr bislang gleich­förmiges Leben in wilde Wasser geraten.

Nicht dass Jean Swinneys Alltag ruhig oder lang­weilig wäre. Er ist zwiege­spalten. Ihre geruhsame Arbeit beim »North Kent Echo« schafft ihr Abstand und Freiräume von einem turbu­lenten, aber zutiefst frustrie­renden Privat­leben. Denn das steht unter der Fuchtel einer schwer zu ertragen­den Mutter, egois­tisch, hals­starrig, unduldsam, unge­duldig, nie zufrieden­zustellen und voller Selbst­mitleid. Obwohl Jean all ihren Haushalts­pflichten nachkommt, jeden Auftrag brav ausführt und jeden Wunsch erfüllt, führt die Mutter ein herzloses Regiment und über­schüttet die Tochter hem­mungs­los mit Beleidi­gungen. Verhaftet in Vorur­teilen und den starren gesell­schaft­lichen Konven­tionen einer langsam nieder­gehen­den Kultur kann sie für eine Frau, die ihre besten Jahre verstrei­chen ließ, ohne einen Ehemann zu erobern, keinen Respekt aufbrin­gen.

Trost verschafft sich die genüg­same Jean mit »kleinen Freuden«: die erste Zigarette des Tages, die ersten Hyazin­then des Frühlings, ein Glas Sherry am Sonntag, eine Tafel Schoko­lade über die Woche verteilt, ein neues Buch, ein sauber gefal­teter Stapel Bügel­wäsche, der Geruch des Sommers, der Garten im Schnee. Mit solchen Äußerlich­keiten, die die Bedürf­nisse des eigenen Seelen­lebens, die sie längst lebendig begraben hat, über­decken, steht sie nicht allein da. In ihrer Lage, in ihrer Zeit, in ihrem Plot vermögen Frauen kaum, ihre Sehn­süchte auszu­leben. Wie gefangene Vögel warten sie in ihren Käfigen auf die Gelegen­heit, dass sich eine Tür öffnet.

So muss es Jean Swinney wie eine Abordnung ins Paradies erschei­nen, als die Zeitungs­redaktion ihr den Auftrag erteilt, die jung­fräu­liche Mutter von Sidcup aufzu­suchen und dem Rätsel der Partheno­genese nachzu­spüren.

Vom ersten Kennenlernen an ist das Verhältnis zwischen der Journa­listin und der Familie Tilbury von gegen­seitiger Sympathie gekenn­zeichnet. Mutter Gretchen ist mit Howard, einem kultivier­ten, einfühl­samen Juwelier verhei­ratet, der stets loyal zu ihr stand, auch wenn der körper­liche Vollzug der Ehe ausblei­ben musste. Töchter­chen Margaret betrachtet und behan­delt er, egal wie sie in die Welt gekommen sein mag, als wäre sie sein natür­liches Kind.

Soll Jean, um Gretchens eigenartige, kühne Behauptung einer kriti­schen Prüfung zu unter­ziehen, Harmonie und Frieden einer solch heilen Familie gefährden, sie den gierigen Blicken der Öffent­lichkeit aussetzen? Während Howard nicht dazu drängt, die Angelegen­heit aufzu­klären, ist Gretchen durchaus interes­siert und bereit, an den wissen­schaft­lichen Unter­suchungen, die Jean vor­schlägt, mitzu­wirken. Mit Spannung erwarten schließ­lich alle Betei­ligten die Ergeb­nisse – wie auch die Leser­schaft.

Es versteht sich, dass das Geheimnis erst am Ende aufge­klärt wird. Bis dahin fließt die Geschichte über­wiegend ruhig dahin wie Jeans Leben, wobei wir Außen­stehende über die häus­lichen Szenen mit ihrer engstir­nigen, domi­nanten Mutter immer wieder zart schmun­zeln und uns über all die ›guten Sitten‹, die Sorgen, Verpflich­tungen, Ängste und Hemmungen einer vergan­genen Welt wundern dürfen. Unter der Ober­fläche freilich brodelt es bald, als sich zwischen Howard und Jean ein zartes Liebes­band entspinnt. Die unge­hörige Romanze könnte ausge­lebt werden, wenn die beiden nicht ihre persön­lichen Sehn­süchte nach dem bisher entgan­genen erfül­lenden Glück der Rück­sicht auf die vorbild­liche kleine Familie, die sie nicht gefähr­den wollen, unter­ordnen würden. Im Übrigen hält der Plot noch ganz uner­wartete Über­raschun­gen bereit.


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