Kleine Freuden
von Clare Chambers
Frauenexistenzen in den Fünfzigerjahren: Eine von Leben und Liebe nicht verwöhnte Lokaljournalistin mittleren Alters vertieft sich in den spannenden Fall einer angeblichen Jungfrauengeburt und gerät dabei in Konflikte mit ihren eigenen Sehnsüchten.
Die unheilige Jungfrau von Sidcup
Wir kennen sie längst, die Lebensbedingungen der Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg, als die gröbste Not überwunden war, eine neue Normalität einkehrte und der Wohlstand zunahm. Aber bis sich Emanzipationsbewegungen formierten, an Einfluss gewannen, gar Erfolge erzielten, war es noch lange hin. Zahlreiche Romane schildern die konservative Zwischenphase, in der eine Frau Erfüllung darin zu finden hatte, sittsame Ehegattin, pflichtbewusste Mutter und sparsame Hausfrau zu sein. Berufstätigkeit, Einmischung bei Geschäften, Mitreden bei Fragen der Technik und der Politik, all so etwas galt als unschicklich für Frauen, zumal sie dazu auch keine Kompetenzen mitbrachten. Wie auch, wo sich ihre Schulbildung auf Kinder, Küche, Kirche beschränkte. Über eigenes Taschengeld verfügen und Auto fahren dürfen zeugten schon von einer großmütigen Gesinnung des Haushaltsvorstandes.
Was aber, wenn eine Frau – aus welchen Gründen auch immer – unverheiratet blieb? In dieser Lage befindet sich Jean Swinney, die Protagonistin des Romans »Small Pleasures« von Clare Chambers. Karen Gerwig hat das Buch der 1966 geborenen britischen Autorin ins Deutsche übersetzt. Das Dilemma des Werkes ist, dass Clare Chambers, inspiriert und fasziniert von dem historischen Hintergrund und seinem Kolorit, einen ganz dem Zeitgeist verhafteten Plot ersinnt und ihre Figuren feinfühlig mit authentischen Gedankenwelten, Lebensweisen und Dialogen gestaltet, dabei aber nicht genug Distanz findet. So kommt ihre Erzählung insgesamt leider recht bieder und altbacken daher, und man vermisst eine Alternative, eine Anregung, eine frische Brise in Inhalt und Stil.
Jean Swinney, bald vierzig, arbeitet als Kolumnistin bei einer lokalen Tageszeitung, ist aber in der von Männern dominierten Redaktion nur eine Randerscheinung. Man überlässt ihr die Themen, die die weibliche Leserschaft begeistern werden, wie etwa moderne Haushaltsführung (»Sägespäne eignen sich hervorragend zur Teppichreinigung«), und weniger Brisantes wie die Frage der »Parthenogenese bei Seeigeln, Fröschen und Kaninchen«. Erstaunlicherweise löst gerade dieser Artikel eine Flut von Leserzuschriften aus, wohl weniger durch seinen Inhalt als von der reißerischen Schlagzeile provoziert: »Männer für die Fortpflanzung nicht mehr benötigt!«.
Aus dem prall gefüllten Leserpostsack erregt ein Brief Aufsehen: Eine Mrs Gretchen Tilbury aus Sidcup im Südosten von London schreibt, ihre zehnjährige Tochter sei »ohne Zutun eines Mannes geboren«. Eine wahrhaftige Jungfrauengeburt also? Jean Swinney, für das »Frauenthema« prädestiniert, zeigt Interesse, will Mrs Tilbury kennenlernen und das Mysterium der unbefleckten Empfängnis aufklären. Damit wird ihr bislang gleichförmiges Leben in wilde Wasser geraten.
Nicht dass Jean Swinneys Alltag ruhig oder langweilig wäre. Er ist zwiegespalten. Ihre geruhsame Arbeit beim »North Kent Echo« schafft ihr Abstand und Freiräume von einem turbulenten, aber zutiefst frustrierenden Privatleben. Denn das steht unter der Fuchtel einer schwer zu ertragenden Mutter, egoistisch, halsstarrig, unduldsam, ungeduldig, nie zufriedenzustellen und voller Selbstmitleid. Obwohl Jean all ihren Haushaltspflichten nachkommt, jeden Auftrag brav ausführt und jeden Wunsch erfüllt, führt die Mutter ein herzloses Regiment und überschüttet die Tochter hemmungslos mit Beleidigungen. Verhaftet in Vorurteilen und den starren gesellschaftlichen Konventionen einer langsam niedergehenden Kultur kann sie für eine Frau, die ihre besten Jahre verstreichen ließ, ohne einen Ehemann zu erobern, keinen Respekt aufbringen.
Trost verschafft sich die genügsame Jean mit »kleinen Freuden«: die erste Zigarette des Tages, die ersten Hyazinthen des Frühlings, ein Glas Sherry am Sonntag, eine Tafel Schokolade über die Woche verteilt, ein neues Buch, ein sauber gefalteter Stapel Bügelwäsche, der Geruch des Sommers, der Garten im Schnee. Mit solchen Äußerlichkeiten, die die Bedürfnisse des eigenen Seelenlebens, die sie längst lebendig begraben hat, überdecken, steht sie nicht allein da. In ihrer Lage, in ihrer Zeit, in ihrem Plot vermögen Frauen kaum, ihre Sehnsüchte auszuleben. Wie gefangene Vögel warten sie in ihren Käfigen auf die Gelegenheit, dass sich eine Tür öffnet.
So muss es Jean Swinney wie eine Abordnung ins Paradies erscheinen, als die Zeitungsredaktion ihr den Auftrag erteilt, die jungfräuliche Mutter von Sidcup aufzusuchen und dem Rätsel der Parthenogenese nachzuspüren.
Vom ersten Kennenlernen an ist das Verhältnis zwischen der Journalistin und der Familie Tilbury von gegenseitiger Sympathie gekennzeichnet. Mutter Gretchen ist mit Howard, einem kultivierten, einfühlsamen Juwelier verheiratet, der stets loyal zu ihr stand, auch wenn der körperliche Vollzug der Ehe ausbleiben musste. Töchterchen Margaret betrachtet und behandelt er, egal wie sie in die Welt gekommen sein mag, als wäre sie sein natürliches Kind.
Soll Jean, um Gretchens eigenartige, kühne Behauptung einer kritischen Prüfung zu unterziehen, Harmonie und Frieden einer solch heilen Familie gefährden, sie den gierigen Blicken der Öffentlichkeit aussetzen? Während Howard nicht dazu drängt, die Angelegenheit aufzuklären, ist Gretchen durchaus interessiert und bereit, an den wissenschaftlichen Untersuchungen, die Jean vorschlägt, mitzuwirken. Mit Spannung erwarten schließlich alle Beteiligten die Ergebnisse – wie auch die Leserschaft.
Es versteht sich, dass das Geheimnis erst am Ende aufgeklärt wird. Bis dahin fließt die Geschichte überwiegend ruhig dahin wie Jeans Leben, wobei wir Außenstehende über die häuslichen Szenen mit ihrer engstirnigen, dominanten Mutter immer wieder zart schmunzeln und uns über all die ›guten Sitten‹, die Sorgen, Verpflichtungen, Ängste und Hemmungen einer vergangenen Welt wundern dürfen. Unter der Oberfläche freilich brodelt es bald, als sich zwischen Howard und Jean ein zartes Liebesband entspinnt. Die ungehörige Romanze könnte ausgelebt werden, wenn die beiden nicht ihre persönlichen Sehnsüchte nach dem bisher entgangenen erfüllenden Glück der Rücksicht auf die vorbildliche kleine Familie, die sie nicht gefährden wollen, unterordnen würden. Im Übrigen hält der Plot noch ganz unerwartete Überraschungen bereit.