Storie di Natale
von Camilleri, Calaciura, Manzini, Stassi u.a.
Sieben außergewöhnliche Erzählungen ganz unterschiedlichen Charakters
Ein Weihnachtsbuch für Italien-Fans (in italienischer Sprache)
Wir wissen alle, was uns wahrscheinlich erwarten wird, wenn wir ein »Weihnachtsbuch« aufschlagen: Christbaumkugeln, Kinderaugen, Gänsebraten, Wohlgefallen, Tannenbaum, Kerzenschein, Engelshaar und Lobgesang garnieren eine rührselige, sarkastische, mehr oder weniger lustig oder spannend konstruierte Handlung, die in der Weihnachtszeit spielt und idealerweise am Heiligen Abend kulminiert.
Wie aber ist das in Italien? Dieses Buch gibt uns einen interessanten, unerwartet breiten Einblick, denn jede seiner sieben Geschichten (alle von namhaften Autoren und literarisch hochwertig) hat einen ganz eigenen Charakter und unterscheidet sich grundsätzlich von den anderen. Gemeinsam ist ihnen nur, dass den Protagonisten just zu Weihnachten Entscheidendes in ihrem Leben widerfährt. Religiöse Bezüge spielen allenfalls eine Nebenrolle, von Gefühlsduselei und romantischem Kitsch fehlt jede Spur.
Und natürlich tragen sich alle irgendwo in Italien zu. Deswegen lernen wir beim Lesen beiläufig die Rituale, Floskeln, Stimmungen, Speisen, Mythen, Traditionen kennen, die die Menschen zur Weihnachtszeit erwarten, sich wünschen, lieben oder hassen.
Die Sammlung erschien erstmals im Jahr 2016, wurde 2021 neu aufgelegt und wird sicher alle Jahre wieder im Sellerio-Programm auftauchen.
Andrea Camilleri: I quattro Natali di Tridicino
Gleich die erste Erzählung kappt alle Leinen zu nordeuropäischer Bildlichkeit. Auch am Heiligen Abend müssen die Fischer von Vigàta hinaus aufs Meer fahren, all ihre Kraft und Geschicklichkeit gegen Wind, Brandung und Strömung einsetzen, auf einen guten Fang und gesunde Heimkehr hoffen. Vor diesem Hintergrund breitet Camilleri eine Familiengeschichte aus, die von märchenhaften und naturmythischen Elementen bestimmt wird. Der Fischerjunge Tridicino (von »tredicesimo« – das dreizehnte Kind seiner Eltern) hat ungewöhnliche Begabungen und Eigenschaften, die ihn befähigen, Bewährungsproben zu bestehen, die sich ihm auf und unter dem Wasser stellen. Ein alter Fischer vermacht ihm das Geheimnis, wie man eine »dragunara« (Wasserhose?) ihrer zerstörerischen Kraft beraubt, aus der Tiefe kann er eine große Muschel bergen, die wundersame Klänge erzeugt, und er muss sich der Herausforderung eines geheimnisvollen Riesenpolypen in seiner Höhle stellen. An vier Weihnachtstagen in seinem Leben schafft Tridicino so die Grundlagen für Glück und Wohlstand für sich und die Seinen.
Giosuè Calaciura: Santo e Santino
Santino liebt seinen großen Bruder, obwohl der sein Leben nicht einfach macht. Santo ist fröhlich, ungestüm, befremdlich und abstoßend, manchmal alles zugleich. Er muss nicht nur umfassend versorgt werden, sondern sein unberechenbares Handeln erfordert dauernde Aufmerksamkeit. Ständig sind Konflikte zu lösen, Missgeschicke zu vermeiden, Gefahren abzuwenden. So dreht sich das Familienleben hauptsächlich um den Behinderten, und auch Santino muss seine Bedürfnisse oft zurückstecken. Die Eltern vertrauen auf sein Verständnis und sein Verantwortungsbewusstsein, während Santo all seine spontanen Launen ungebremst auslebt. Kann ein Junge, selbst wenn er so vernünftig und fürsorglich ist wie Santino, solche Spannungen aushalten?
Antonio Manzini: Babbo Natale
Eine turbulente Posse um einen gebeutelten römischen Loser-Typ, der, nachdem ihm die Freundin abhanden gekommen ist, alles auf die geniale Idee setzt, sich unter die Weihnachtsmänner zu mischen, die derzeit sämtliche Fassaden emporklettern. Die irrwitzige Handlung schleust uns voller Überraschungen durch die unterschiedlichsten Milieus der Ewigen Stadt und lässt dem Protagonisten keine Chance. Dank unglücklicher Zufälle, seiner eigenen Unzulänglichkeiten und der Souveränität der Bessergestellten verheddert er sich gründlich. Neben Fassungslosigkeit über seine Torheit und Schadenfreude wegen seiner Selbstüberschätzung bleibt uns ein Hauch Bewunderung für sein Stehvermögen und eine Spur Mitleid.
Fabio Stassi: A poco a poco tutto torna al Monte dei Pegni
Von ganz anderer Art ist die feinfühlige Geschichte von Fabio Stassi, die in den frühen Jahren des italienischen Faschismus angesiedelt ist. In einer langen Kette assoziativ verbundener Szenen und Reflexionen blickt ein politischer Gefangener auf sein Leben und sein Schicksal. Die Erzählsituation ist die Überführung der Gefangenengruppe von Palermo auf die Gefängnisinsel Ustica. Kristallisationspunkte sind seine Tätigkeit als Kinopianist, sein Verhältnis zur Aktivistin Lisa und ihrer Schwangerschaft und, da Weihnachten ist, die Geschichte von Josef und Maria, die er als Menschen in ihrer Zeit begreift: Ein Mann im vorgerückten Alter hat ein junges Mädchen, dem ein Missgeschick zugestoßen war, bei sich aufgenommen. All dies – das Meer, Politik, Liebe, Musik, Poesie, Gefangenschaft – fügt sich dank Stassis wunderbarem Stil zu einem stimmigen Bild voller Nuancen.
Francesco M. Cataluccio: La metamorfosi del Natale
Der arme Angestellte Felice Settembrini wird ausersehen, ein Restaurant für die Belegschaftsweihnachtsfeier auszuwählen – ein aussichtsloses Unterfangen in Mailand eine Woche vor dem Fest. So flutscht er von einem Lokal ins andere und erlebt dabei Unerklärliches.
Francesco Recami: Natale con i tuoi
Flughafen Bologna am 24. Dezember nachmittags. Schneefall setzt ein und nimmt dramatisch zu. Der Check-in für den Flug nach Palermo lässt auf sich warten, Informationen bleiben aus, dafür schwirren Gerüchte. Einhundertvierzig Personen verlieren nach und nach alle Hemmungen. Alle wollen am Abend um jeden Preis irgendwo in Sizilien mit ihren Lieben Weihnachten feiern. Als der Flug endlich gecancelt wird, bricht ein Chaos aus, das Francesco Recami wie ein Feuerwerk abfeuert. In unzähligen Momentaufnahmen menschlicher Verhaltensweisen und Äußerungen bekommen alle Charaktertypen, Schichten, Regionen und Dialekte ihre Bühne, wobei Egoismen, Machtfragen, Unvernunft und Absurditäten den Ton angeben. Die irrwitzige Handlung führt schließlich zu einer tief eingeschneiten Autobahnraststätte (wo dem Autor meinem Empfinden nach ein wenig die dramaturgische Luft ausgeht). Der Titel zitiert die italienische Redensart »Natale con i tuoi, Pasqua con chi vuoi«, die festhält, dass zu Ostern jeder frei entscheiden darf, mit wem man feiert, während man das Weihnachtsfest im Familienkreis zu verbringen habe.
Alicia Giménez-Bartlett: Natale d’ottobre
Alles was Francisco für das Weihnachtsfest geplant und gehofft hatte, zerplatzt mit dem Anruf seiner Ex-Frau. Sie teilt ihm mit, dass ihr gemeinsames Töchterchen erkältet sei und ihn nicht besuchen werde. Punkt. So bricht über ihn eine Welle von Gefühlen herein (»frustrazione, rabbia, tristezza, delusione, incredulità, angoscia«) und vermengt sich mit den bitteren Erinnerungen an die unglückliche Ehe, an Strenge und Verständnislosigkeit des Vaters, an seine Arbeit. Aber Francisco ist nüchtern und stabil genug, sich nicht unterkriegen zu lassen. Er wird den Abend zubringen wie vorgesehen, nur eben alleine. Doch dann steht eine Unbekannte vor der Tür, deren Wesen ihm gänzlich fremd ist – und die am Ende dennoch »lo spirito del Natale« verkörpern wird.