Rezension zu »Liebe ist gewaltig« von Claudia Schumacher

Liebe ist gewaltig

von


Ein tiefer, verstörender Einblick in die kaum glaublichen Geheimnisse einer äußerlich ehrenwerten Familie.
Belletristik · dtv · · 376 S. · ISBN 9783423290159
Sprache: de · Herkunft: de

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Monster hinter der Fassade

Rezension vom 30.08.2022 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Das Thema dieses Romans ist in unserer Gesell­schaft durchaus präsent. Vor allem einige Fernseh­filme haben Aufsehen erregt. In der Realität wird das Problem inner­familiä­rer Gewalt aller­dings immer erst dann wahrge­nommen, wenn es schon zu spät ist. Zu geschickt tarnen die Betrof­fenen – Täter wie Opfer – die konkreten Vorfälle oft über Jahre. Claudia Schu­macher leistet mit ihrem Debüt­roman Bemerkens­wertes, indem sie das Innen­leben einer solchen Familie einfühl­sam und realis­tisch gestaltet.

Die Wahl ihrer Protagonistenfamilie mag über­raschen. Sie wohnt im feinen (fiktiven) Stutt­garter Vorort Eder­fingen. Kurt Ehre und seine Frau (der Name ist mit allzu plaka­tivem Sarkasmus gesetzt) sind Juristen. Ihr Freundes­kreis, durchweg aus dem selben sozialen Milieu, schätzt die beiden als untade­lige, erfolg­reiche Mitbürger und sympa­thische Familien­menschen. Sie haben vier Kinder großge­zogen – die Älteste arbeitet in einem Hotel in Köln, die Jüngste ist siebzehn. Dass diese angese­hene Vorzeige­familie ein Tabu hütet, von dem keine Spur nach außen dringen darf, ahnt niemand. Würde bekannt, dass Kurt Ehre seine Frau und seine Kinder tyranni­siert und prügelt, wäre sein Ruf schlag­artig und voll­ständig zerstört, er würde geächtet.

Aber ist solches Übergriffverhalten nicht eher in prekä­reren Verhält­nissen zu vermuten, bei Menschen, die sich nicht im Griff haben, die mate­rielle Not unter Druck setzt, denen die Bildung fehlt, um ihr Verhalten zu relati­vieren? Claudia Schu­macher legt offen, dass diese Annahme auf fatale Weise trügt. Vielmehr kennen und beherr­schen Menschen aus soge­nannten »besseren Kreisen« die Mecha­nismen, wie man die Öffent­lichkeit täuschen kann, wesent­lich besser und setzen sie geschick­ter ein, so dass aggres­sive Akte hier noch länger unent­deckt bleiben und größere Schäden anrichten können.

Schonungslos schildert die Autorin das Leben im Hause Ehre, wo der selbst­verliebte Vater ein brutales Regiment führt. Die Kinder und ihre Mutter müssen Top-Leis­tungen bringen, um ein wenig Zuneigung von ihm zu erhei­schen, andern­falls drohen schmerz­volle Maß­nahmen. Alex, die Zweit­älteste, konnte sich früh dem Eltern­haus entziehen. Bruno, der Dritte, bezeich­net sie scherz­haft als »Kuckucks­kind« und hält sie für so unauf­fällig, dass die Eltern sie am ehesten von ihren vier Kindern einmal an einer Rast­stätte vergessen könnten. Jetzt hat sie sich Hunderte Kilometer abgesetzt und »kommt nie nach Hause«.

Jahrelang ließen sich Bruno und Max, der Erstge­borene, ohne Gegenwehr vom Vater verprü­geln. Wie so ein »normaler Abend daheim bei den Ehres, der beliebten Familie mit den netten Kindern und der char­manten Mutter« eska­lierte, das kann man kaum glauben, so unver­einbar klaffen Schein und Sein ausein­ander. »Bruno winselte vor Schmerz und vor Demü­tigung … Papa, hör auf, Papa, ich wollte das nicht, Papa, Papa, bitte, bitte. … Auge geschwol­len, Blut am Mund. Papa kickte ihm brüllend gegen den Kopf. Mit Schuhen, die er sich extra dafür angezogen hatte. Ich stand nur da und heulte … War wie zersplit­tert, in tausend Teile.« Dann wird die Jüngste, die siebzehn­jährige Juli Kurts Opfer. Er behauptet, sie habe die Prügel wegen ihrer »inneren Verdor­benheit« verdient, und als Resultat eines kaum nach­voll­zieh­baren psycho­logischen Prozesses über­nehmen alle diese abwegige Logik. Juli verfolgen die Traumata Zeit ihres Lebens, ebenso wie die Narben an ihrem Körper. Einen Teil der Verlet­zungen hat sie sich selbst zugefügt.

Vielleicht die rätselhafteste Rolle spielt die Mutter der gequälten Jugend­lichen. Das Spezial­gebiet der Familien­anwältin ist das Sorge­recht, und meistens vertritt sie Väter. Zu Hause aber ist auch sie nur unter­drücktes Opfer männ­licher Gewalt­aus­brüche. Deren Spuren kaschiert sie mit hübschen Roll­kragen­pullo­vern. In ihrer macht­losen Abhän­gigkeit vom Wohl­wollen des auto­kratisch herr­schenden Ehe­mannes nimmt sie das familiäre Elend als nicht veränder­bar hin und wird damit zur Mit­täterin und »Tatort­reinige­rin«. Auch der jüngere Bruder des Familien­vaters, ein Mediziner, wirkt mit bei der Ver­tuschung und Konsoli­dierung der unerträg­lichen Verhält­nisse. Seiner Verant­wortung für die leidge­plagte Nichte meint er dadurch gerecht zu werden, dass er sie für schuli­sche Fehl­stunden krank schreibt und ihr Schmerz­mittel und Psycho­pharmaka verordnet.

Der Roman setzt an Julis psychischem Tiefpunkt ein. »Seelisch zer­schmettert« ist sie in einer Klinik (einem »Rehaloch«) unterge­bracht, wo sie zu sich selbst finden soll. Von ihren Selbst­mord­gedanken darf niemand erfahren. Aus der Ich-Perspek­tive erzählt sie in einem sehr modernen Sprach­stil und über­wiegend im Präsens aus drei Lebens­abschnit­ten (2007, 2014 und 2016). Die Autorin zielt darauf ab, beim Leser schockie­rende, lange nachwir­kende Bilder einer jungen Frau hervor­zurufen, die psychisch am Boden zerstört ist, und sie setzt zu diesem Zweck auf drasti­sche Beschrei­bungen, die manchmal heftig aufstoßen und die Grenzen des guten Ge­schmacks über­schreiten (wie ja auch die Gegeben­heiten in der Familie).

Im zweiten Teil erzählt Juli, wie sie nach der Reha versucht, der Familie zu ent­fliehen. Was für einen Außen­stehenden als simpler Akt erschei­nen mag, ist für die Betrof­fene auf emotio­naler Ebene eine kom­plizierte Sache, denn irgendwie liebt sie die Eltern, schämt sich, die Tochter einer solch verkorks­ten Familie zu sein und sucht die Schuld dafür bei sich.

Am Ende gelingt es ihr aber, nach Berlin zu ziehen und eine sehr erfolg­reiche Existenz aufzu­bauen. Sie finan­ziert ihren Lebens­unterhalt durch Internet­spiele und reüssiert als Profi-Gamerin auf inter­nationa­lem Niveau. In ihrem Studien­fach Mathe­matik strebt sie dank ihrer außer­ordent­lichen Begabung eine Promotion an. Als sie schließ­lich eine Liebes­beziehung zu einer jungen Frau findet, scheint ihr so unglück­lich begon­nener Lebensweg doch noch in normale Bahnen zu münden.

Mit dem dritten Teil ändert sich die Erzählsituation. Die Perspektive wechselt zur 3. Person, die Erzähl­zeit ins Präteri­tum, und aus »Juli« ist jetzt »Julia« geworden, die mit Ehemann am Zürichsee residiert. Für diese Ehe hat sie alles aufge­geben, was ihr Glück versprach, und nahm statt­dessen die Haus­frauen­rolle in ihrer traditio­nellsten Form an. Was bekommt sie dafür? Man ahnt schon das Schema: Keine Liebe, sondern Gewalt und Unter­drückung. Ihr Hausherr bekennt unver­hohlene Sympathie zu ihrem Vater und ent­wickelt sich zu dessen Abbild.

Das Thema dieses Romans ist zu ernst, um damit zu spielen. Das tut aller­dings schon der Titel, dessen Adjektiv allerlei Inter­pretatio­nen und Erwar­tungen evoziert (sogar roman­tische), obwohl der Plot im Grunde nur die Bedeutung »gewalt­tätig« meint. Daran lassen die drasti­schen, bis zur Unerträg­lichkeit konkret-anschau­lichen Schilde­rungen keinen Zweifel, und die Autorin dringt damit zum psycho­logischen Kern des Problem­komplexes vor: Gewalt und Reue, Schuld und Scham, Schmerz und Unter­werfung, Hass und Resig­nation als kaum verein­bare Facetten einer per­vertier­ten Liebe.

Aus dem deprimierenden Gesamtbild gestattet uns die Autorin ge­legent­liche Ausbrüche in Form kurios-witziger Kommen­tierungen – eine Art comic relief, mit dem sich die Opfer wohl auch selbst tröstend über Wasser halten. So erscheint die Mutter in ihrem Leid wie »ein Hitmix aus Scarlett O’Hara und der Pietà«. Die Familie hätte in ihrer Perfek­tion »im Zirkus auftreten können … Papa balan­ciert auf dem Stahlseil in weiter Höhe, Mama ist fürs Erotische zuständig, fliegt ab und zu leicht bekleidet durchs Bild, Bruno als Löwen­domp­teur, und Max macht irgendwas Schönes für die Seele,ein zarter Tanz mit dem Feuer viel­leicht … [ich] moderiere alle an und belabere die stau­nenden Besucher … Wenn Alex mal ihren Arsch herbe­wegte, dann säße sie vermut­lich im Publikum«.

Solche Passagen mögen für einen Moment erheitern, befremden aber auch. Claudia Schu­machers Debüt­roman ist eine anspruchs­volle, verstö­rende Lektüre.


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