Rezension zu »Tomatenrot« von Daniel Woodrell

Tomatenrot

von


Belletristik · Liebeskind · · Gebunden · 224 S. · ISBN 9783954380602
Sprache: de · Herkunft: us

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Bleibt bloß, wo ihr seid

Rezension vom 17.03.2016 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Schade – wenn du in den Ozarks geboren wur­dest, hast du Pech gehabt. Die riesige hügelige Hoch­plateau­region im länd­li­chen Mitt­leren Westen der USA, die weite Teile der Bun­des­staaten Mis­souri und Ar­kansas aus­ma­chen und sich bis nach Okla­homa und Kansas erstrecken, ist eine sehr, sehr konser­vative Gegend. Reich bleibt reich, und arm bleibt arm. Und wer in Venus Holler, einem zwie­lichtigen Ortsteil mitten­drin geboren wurde, hat besonders schlechte Karten, dass jemals etwas Besseres aus ihm wird.

Aber Jamalee Merridew will es wissen. Sie ist neunzehn und hat nur ein Bestreben: raus hier. Dass sie Wut im Bauch und Rebellion im Blut hat, signali­sieren weithin sichtbar ihre tomaten­roten Haare. Mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Jason könnte sie den Ausbruch aus ihrer under­dog-Existenz schaffen. Jason sieht so umwerfend aus, dass ihm alle weiblichen Wesen sogleich verfallen. Deswegen ist er der einzige in der Familie, der tatsäch­lich Geld nach Hause bringt. Alle Kundinnen des lokalen Friseur­ladens wollen von ihm bedient werden. Mit dieser Attraktion einen eigenen Laden aufziehen, natürlich »in einer betuchten Gegend, wo die Leute ihr Geld nur deswegen ausgeben, damit sie es nicht mit sich rumschleppen müssen«, das ist Jamalees Geschäfts­idee.

Die Sache hat freilich einen Haken. Der schöne Jason ist schwul. Unter den Hill­billies in den abgele­genen Tälern der Ozarks ist das eine verdammt gefährliche Veran­lagung.

Noch einer, der ziemlich verzweifelt kämpft, um etwas aus seinem elenden Dasein zu machen, Haupt­sache es geht ein bisschen nach oben, ist Sammy Barlach, 24, der Ich-Erzähler. Bisher ist ihm aller­dings noch nicht viel gelungen im Leben. Er hat ein Gefängnis von innen gesehen, zieht nun herum und ist im öden West Table (zu dem der Ortsteil Venus Holler gehört) hängen geblieben. Da hat er einen Job in einer Hun­de­futter­fabrik gefunden, haust mit lauter Pennern in einer Wohn­wagen­siedlung und schlägt seine freie Zeit mit Bier, Tequila und Crank tot. Außerdem ist er auf das Mädchen mit den Mause­zähnchen scharf. Die hat eine tolle Idee: Da steht eine edle Villa leer und lädt ihn geradezu ein, dass er einbricht, während die stin­ke­reichen Besitzer verreist sind.

Nur wer wagt, kann gewinnen, und nebenbei hofft Sammy, dass ihn seine neuen Freunde ganz toll finden, wenn er den keines­wegs risiko­freien Job erledigt. Durch ein kleines Fenster­chen von »netter­weise« minde­rer Qualität landet er hart in einer völlig anderen Welt. Wie er so staunend durch das noble Ambiente streift, einge­hüllt in wohlige Düfte, fällt sein Blick auf nie zuvor gesehene Objekte, die er nicht einmal mit Namen bezeich­nen könnte – Möbel, Acces­soires, Mit­bringsel aus aller Welt. »Mein Verstand ... stolperte zwei, drei Schritt hinter meinem Körper her«, und er gerät ins Philo­sophie­ren: »Ein Ort von diesem Kali­ber entlarvt dich als Versager und bringt dich dazu, dass du dich selbst dis­krimi­nieren willst als winziges Staub­körn­chen Nichts, das nur den Planeten durch­einander­bringt, auf dem diese würdigen Vertreter so pracht­voll leben und sich wünschen, sie könnten dich und deines­gleichen fern­halten«.

Die Rolle, die diese Situation ihm zuweist, ist ihm bewusst: »Abschaum«. Sie anzu­nehmen, einer drängen­den Wut nachzu­geben und alles kurz und klein zu schlagen ist eine Versuchung, der Sammy wider­steht. Nicht aus Einsicht in die beton­harte Unab­änder­lich­keit der Verhält­nisse in den Ozarks, sondern weil ihn das Crank benebelt. Lieber bedient er sich in der weit­läufigen Küche an Wodka und Käse und lässt sich in einen geruh­samen Schlaf gleiten.

Am Morgen weckt ihn ein durchge­styltes junges Pärchen. Sie führen ihn durch das ganze Haus in all seiner Pracht, erzählen dies und das von ihren Reisen durch die Welt, fragen ihn ein wenig aus, als gehe es um eine Bewer­bung, schlagen schließ­lich vor, ihn als »Security« für das Anwesen der Familie anzu­heuern, und zeigen ihm sein neues Zimmer. »Verflucht klasse« findet Sammy das. Merk­würdig nur, dass sich die bei­den auf ein Zeichen des Jungen hin zügig aus dem Staub machen. Als die Bullen anrücken, dämmert es Sammy, dass er sich als »zuge­dröhn­ter Voll­trottel« blamiert hat und die beiden auch nur Ein­brecher waren, wenn auch deutlich cleverer als er. So haben Jamalee, Jason und Sammy einander gefunden und bleiben als Trio zusammen. Wer weiß, kalkuliert Jamalee, ob der Mann ihr und ihrem Bruder nicht nützlich sein kann für ihren Ausbruch aus Venus Holler und ihren Aufstieg in der Welt.

»Du kannst bei uns unter­kriechen.« Der Einladung der beiden Geschwister folgt Sammy nur zu gerne, so sehr sehnt er sich nach Freund­schaft und Familien­anschluss. In Gestalt von Mutter Bev wird ihm beides und noch mehr zuteil. Die Vierzig­jährige (»eine Barbie, die mit Truck­stop-Whiskey und frittier­tem Hühn­chen aus dem Leim gegangen war«) arbeitet als Gelegen­heits­prostitu­ierte, bereitet unter anderen dem Orts­cop ab und zu ein paar fröhliche Stunden und schließt nun auch Sammy in ihr volumi­nöses Herz.

Leider finden Jamalees Pläne bald ein jähes Ende. Jason wird tot in einem sumpfigen Tümpel aufge­funden. Obwohl das Gewässer so flach ist, »dass man hier schon Hilfe braucht, um zu ertrinken«, macht die Polizei kein großes Gedöns und hakt den Fall flott als Unfall ab.

Daniel Woodrells Sozialkrimi malt ein deprimie­rendes, hoffnungs­loses Bild von einer erstarrten Gesell­schaft, die schlicht nach arm und reich sortiert ist und wo sich jetzt und in Zukunft nichts bewegen soll. Je­den­falls nach Ansicht derer, die das Sagen haben. Die »nied­rigen Elemente« können deshalb noch soviel kläffen und um sich beißen, sie sind »nur weicher, lehmiger Dreck, über den alle jeder­zeit hinweg­trampeln können«. Die drei Helden geben sich alle Mühe, mit einem alten »Benimm­buch« ihr »gesell­schaft­liches Kostüm, das unsere nied­rige Herkunft auf den ersten Blick verriet«, abzulegen. »Wir sind einfach nicht mit anständigen Werten aufge­wachsen. Wir werden sie aus­wendig lernen müssen«, treibt Jamalee ihre Jungs an. Aber ihre Trans­forma­tions­bemü­hungen haben keine Chance. Vergeblich wird Sammy schließ­lich seine Zähne zeigen, den »Helden« spielen, eine brutale Bluttat begehen. Sie hat weder Sinn noch System und noch nicht einmal einen Zu­sammen­hang mit dem, was ihm wichtig wurde, aber immer­hin ist sie ein Grund, dass er uns seine Geschichte erzählt. »Jetzt wisst ihr alles«, lautet sein Fazit.

Die sogenannte bessere Gesell­schaft kommt auch vor, dis­quali­fiziert sich jedoch aufs Übelste. Bereits mit der Geburt werden den Herr­schaften alle Vorteile und Auf­stiegs­chancen verbrieft. Was sie dann von den Habe­nicht­sen unter­scheidet (und was diese für so er­strebens­wert halten, dass sie bereit sind, sich dazu ra­dikal zu ver­formen), sind hohle Äußer­lich­keiten – Gold­klunker, Schuhe, »die so hässlich waren, dass sie ein Vermögen gekostet haben mussten«, protzig durch­gestylte Villen, feines Getue, snobis­tisch-arro­gante Phrasen. Hinter der Glitzer­fassade verbirgt sich ein Sumpf an Immoral.

Mit diesem schlichten Schwarz-Weiß-Gesell­schafts­bild bedient der Autor natür­lich immer wieder gern gelesene Klischees, doch sie sind wunderbar verpackt. Gänzlich unge­trübtes Vergnügen bereitet Daniel Woodrells Erzähl­stil. Er ist ein Meister der Sprache, und sein Über­setzer, der uner­müd­liche Peter Torberg, ist ihm eben­bürtig, indem er die Vorlage in der deutschen Sprache noch einmal erschafft mit all ihren un­ge­wöhn­lichen, expres­siven, hammer­harten, groben, derben, poe­tischen Sätzen. Des Autors Hobby, scheint es, ist die Perso­nifizie­rung. Er liefert sie uns als kleine Perlen (»Da kommt der Schinken mit Bev.«), breitet aber auch gern ganze Motiv­teppiche aus (»Ein Güter­zug war unter­wegs und be­schimpf­te mit seiner laut­starken Hupe an jedem Bahn­über­gang den Straßen­verkehr, eine Be­schimp­fung, die man meilen­weit hören konnte.« – »Ich konnte das Unheil, das mir immer auf den Fersen war, schon am Rand des Lager­feuers hocken sehen, es gähnte, pulte in den Zähnen, lauerte.«). Die Poesie seiner unge­schmink­ten Bilder ist oft be­fremd­lich, zugleich schön und furcht­erre­gend, voller Ver­ständ­nis und voller Abscheu (Venus Holler war »eine Senke voll kleiner eckiger Häuser, die sich ein wenig zur Seite neigten wie ein Haufen Trinker, die nicht mehr so gut hören.«). Eine dichte local-color-Atmos­phäre in bester ameri­kani­scher Erzähl­tra­dition saugt den Leser auf.

Daniel Woodrell hat »Tomato Red« Daniel Woodrell: »Tomato Red« bei Amazon schon 1998 ver­öffent­licht. 1999 erhielt er dafür den PEN West Award. Zwei Jahre später brachte Rowohlt eine deutsche Taschen­buch­aus­gabe heraus, die jedoch kaum wahr­ge­nom­men wurde. Einen gewal­tigen Popu­lari­täts­schub erlebte Daniel Wood­rell durch seinen Roman »Winter's Bone« Daniel Woodrell: »Winter's Bone« bei Amazon (2006, deutsch »Winters Knochen« Daniel Woodrell: »Winters Knochen« bei Amazon , ebenfalls von Peter Torberg über­setzt), dessen Ver­fil­mung (»Winter's Bone« Daniel Woodrell: »Winter's Bone« bei Amazon ) im Jahr 2010 viel Aufsehen erregte und eine ganze Reihe von Preisen erhielt (dazu vier Oscar-Nomi­nie­run­gen). Das wird dem Liebes­kind-Verlag Mut gemacht haben, den packenden, düs­teren Roman über den Loser Sammy Barlach und die toma­ten­rot­schop­fige Möchte­gern­auf­stei­gerin Jam von Peter Torberg neu über­setzen zu lassen und auf den Markt zu bringen.


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