Schaffensrausch, um zu überleben
Ein würdiges Denkmal für eine bemerkenswerte Frau und ihre von tiefer Tragik gezeichnete Familiengeschichte hat der französische Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur David Foenkinos geschaffen. Rein zufällig gerät er 2004 in eine Gemäldeausstellung mit dem Titel »Leben? Oder Theater?« und ist sofort eingefangen von den Bildern der ihm völlig unbekannten deutschen Künstlerin. »Deutsche Literatur. Musik und Fantasie. Verzweiflung und Wahnsinn. Alles war da. Und leuchtete in schillernden Farben.«
Die Malerin heißt Charlotte Salomon. Sie wurde 1917 in Berlin geboren. Ihr Werk umfasst nur diesen einen Zyklus von 1.325 kleinformatigen, strahlenden Bildern im expressionistischen Stil. Doch sie begnügt sich nicht mit dem visuellen Ausdruck. Sie ergänzt die Gouachen und Skizzen mit Texten, Szenenanweisungen und Hinweisen auf Musikstücke und Filme, die sie inspiriert haben, zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk. Es entstand in den Jahren 1940 bis 1942 an der Côte d'Azur, wo die junge Frau als Emigrantin in vermeintlicher Sicherheit lebte. Charlotte Salomon malte aber nicht als Steckenpferd, Zeitvertreib oder aus Begeisterung für das mediterrane Flair, sondern »um nicht verrückt zu werden«.
Über der jungen Frau hängt ein Damoklesschwert, wie sie erst kurze Zeit zuvor erfahren hat. Der erste Satz des Romans deutet ihre Verstrickung mit dem Tod an: »An einem Grabstein lernt Charlotte ihren Namen lesen.« Im weiteren Verlauf erfahren wir, dass sich durch die mütterliche Seite ihrer Verwandtschaft ein roter Faden zieht, eine Geschichte schwerster Depressionen, die nur den Tod als Erlösung zuzulassen schienen. Charlottes Tante ging achtzehnjährig ins Wasser, Charlottes Mutter Franziska stürzte sich, als ihr Kind neun Jahre alt war, aus dem Fenster, ebenso wie Charlottes Großmutter und deren Mutter und Bruder, und auch die Großtante und deren Sohn haben ihrem unerträglichen Leben mit der Krankheit selbst ein Ende gesetzt. Aus Scham und in der Angst, dass auch Charlotte die Veranlagung geerbt habe, verschweigt man das familiäre Drama, solange es geht. Um das Mädchen zu schützen, spiegelt man ihr unverfängliche Todesursachen vor – ein Unfall, eine Grippe.
Die politische Lage in Deutschland setzt die jüdische Familie unter zusätzlichen Druck. Nach der Reichspogromnacht (10. November 1938) wird Charlottes Vater, der bis zur Machtergreifung angesehene Chirurg Dr. Albert Salomon, nach Sachsenhausen verschleppt. Er wird zwar später wieder freigelassen, bleibt aber ein gebrochener Mann. Auf sein Drängen hin – viele Juden sind bereits geflohen – folgt seine Tochter den Großeltern nach Villefranche-sur-Mer an der französischen Mittelmeerküste, wo sie auf dem Grundstück der wohlhabenden Witwe eines amerikanischen Generals, Ottilie Moore, Aufnahme gefunden haben.
Die geradezu paradiesische Unterkunft kann die Leiden der Großmutter nicht mildern. 1940 begeht sie auf dieselbe Weise Selbstmord wie vierzehn Jahre zuvor ihre Tochter Franziska. Nun bricht das lange gehütete Geheimnis unaufhaltsam ans Tageslicht. Charlotte hasst die Familie, die sie getäuscht hat: »Ihr ganzes Leben, eine einzige Lüge«. Die introvertierte, sensible junge Frau begreift jetzt in vollem Ausmaß, was es mit ihrem eigenen Wesen – der tiefen Melancholie, der immerwährenden Angst, verlassen zu werden – auf sich haben könnte, und die Bedrohung, die sie in sich fürchtet, stürzt sie in eine tiefe Krise. Ottilie Moore sorgt sich und schickt Charlotte zu Dr. Moridis, einem charismatischen Nervenarzt. Ihr Zustand erschreckt ihn, aber er kennt ihr künstlerisches Talent und rät: »Du musst malen ... Leid zum Ausdruck bringen.«
Wie eine Besessene ergreift Charlotte, was sie als »ihre einzige Überlebenschance« auffasst. Was ihr vorschwebt, ist, die Erinnerungen an ihr Leben, ihre Familie, Liebesglück, Erlebnisse mit den Künsten und Erfahrungen mit Leben und Tod »wie einen Roman zu malen«, ein »Singespiel« unter dem Titel »Leben? Oder Theater?« mit Bildern, Texten und Musik. Ständig steht sie unter psychischem Druck, »die Zeit drängt«, sie sieht sich »am Rande des Abgrunds«. Als sie ihr Projekt schließlich fertiggestellt hat, ist sie ausgezehrt, aber auch erlöst. Sorgsam ordnet sie die Blätter und packt sie gebündelt in einen Koffer. Sie vermacht ihr gesamtes Werk Ottilie Moore. Da die angesichts der sich zuspitzenden politischen Lage nach Amerika zurückgekehrt ist, übergibt Charlotte den Koffer treuhänderisch an Dr. Moridis: »C'est toute ma vie« (»Das ist mein ganzes Leben«).
Bei dem Arzt waren Charlotte Salomons Bilder in sicheren Händen. Während die Künstlerin bald darauf deportiert und am 10. Oktober 1943 im KZ Auschwitz ermordet wurde, überlebte ihr Werk. Heute im Besitz des Jüdischen Museums in Amsterdam, geht die Sammlung seit Jahrzehnten um die Welt. 2012 waren Teile von »Leben? Oder Theater?« bei der 13. Documenta in Kassel, im Frühjahr 2015 im Kunstmuseum Bochum, im Herbst im Museum der Moderne Salzburg zu sehen. Aufsehen erregte Marc-André Dalbavies Auftragsoper für die Salzburger Festspiele (2014) und eine Ballettversion des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier (»Der Tod und die Malerin«, 2015).
Für seinen Roman »Charlotte« (den Christian Kolb übersetzt hat) recherchierte David Foenkinos jahrelang in Deutschland und Frankreich. Er stand vor dem Geburtshaus der Malerin in Berlin-Charlottenburg, bemerkte die Gedenktafel und die »Stolpersteine«, wurde abgewiesen, als er in Villefranche-sur-Mer um Zutritt zur Villa bat, die damals Ottilie Moore gehörte. Zeitzeugen deuteten ihm an, dass Charlotte an die SS verraten wurde. Die Aufarbeitung der Geschehnisse während des Vichy-Regimes scheint auf wenig öffentliches Interesse zu stoßen. Der Autor stellt sich der Aufgabe, die vergessene Deutsche mit seinem Roman in Erinnerung zu rufen.
Welche Form ist angemessen, um Leben und Schicksal einer solch ungewöhnlichen Frau, der es nicht vergönnt war, ihre kreativen Talente in Frieden voll zu entfalten, in Worte zu fassen? Dieser Frage hat David Foenkinos, dessen bisherige Romane durch ihren heiteren Ton mit hintergründigem Humor gefielen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Er entscheidet sich schließlich für eine bestechende, radikale Lösung. Jeder Satz beginnt mit einer neuen Zeile, und keiner ist länger als eine Zeile. Manche Zeilen enthalten nur syntaktische Fragmente. Nach zehn bis zwanzig Zeilen (soll man sie ›Verse‹ nennen?) beginnt eine neue ›Strophe‹, nach zwei bis vier Seiten ein neuer nummerierter Abschnitt, nach fünf bis über einem Dutzend davon ein neues Kapitel, insgesamt acht und ein Epilog. Blättert man rasch durch die Seiten, könnte man glauben, ein modernes Epos oder Langgedicht in freier Form vor sich zu haben. Poetisch verdichtet ist die Sprache ganz gewiss. Beim Lesen gewinnen die kurzen Aussagen durch den Zeilenumbruch an Gewicht, man hält öfter inne. Inhaltlich wechseln Episoden aus Charlotte Salomons Leben, teils szenisch, teils summarisch, mit Berichten des Autors über seine Recherchen, Eindrücke und Reflexionen.
Der Erfolg des Buches übertraf sicherlich alle Erwartungen. Es avancierte in Frankreich zum Bestseller und wurde 2014 mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichnet. Und im Sommer 2015 wurden in Villefranche-sur-Mer im Beisein des Autors Gedenktafeln für Charlotte Salomon enthüllt.