Rezension zu »Charlotte« von David Foenkinos

Charlotte

von


Belletristik · DVA · · Gebunden · 240 S. · ISBN 9783421047083
Sprache: de · Herkunft: fr

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Bei Amazon kaufen

Schaffensrausch, um zu überleben

Rezension vom 22.12.2015 · 6 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ein würdiges Denkmal für eine bemerkenswerte Frau und ihre von tie­fer Tragik ge­zeich­nete Fami­lien­ge­schich­te hat der fran­zösi­sche Schrift­steller, Dreh­buch­autor und Re­gis­seur David Foen­kinos ge­schaf­fen. Rein zu­fäl­lig gerät er 2004 in eine Ge­mälde­aus­stel­lung mit dem Titel »Leben? Oder Thea­ter?« und ist so­fort ein­ge­fan­gen von den Bildern der ihm völ­lig unbe­kann­ten deut­schen Künst­le­rin. »Deut­sche Literatur. Musik und Fantasie. Ver­zweif­lung und Wahn­sinn. Alles war da. Und leuch­tete in schil­lern­den Far­ben.«

Die Malerin heißt Char­lotte Salo­mon. Sie wurde 1917 in Berlin ge­boren. Ihr Werk um­fasst nur die­sen einen Zyklus von 1.325 klein­for­mati­gen, strah­lenden Bil­dern im ex­pres­sio­ni­sti­schen Stil. Doch sie be­gnügt sich nicht mit dem visu­el­len Aus­druck. Sie er­gänzt die Gouachen und Skizzen mit Texten, Szenen­an­wei­sun­gen und Hin­wei­sen auf Mu­sik­stücke und Filme, die sie inspi­riert haben, zu einem sy­n­ästhe­tischen Ge­samt­kunst­werk. Es ent­stand in den Jah­ren 1940 bis 1942 an der Côte d'Azur, wo die junge Frau als Emi­gran­tin in ver­meint­licher Sicher­heit lebte. Char­lotte Salo­mon malte aber nicht als Ste­cken­pferd, Zeit­ver­treib oder aus Be­geiste­rung für das medi­terrane Flair, sondern »um nicht ver­rückt zu wer­den«.

Über der jungen Frau hängt ein Damokles­schwert, wie sie erst kurze Zeit zuvor erfahren hat. Der erste Satz des Romans deutet ihre Ver­stri­ckung mit dem Tod an: »An einem Grab­stein lernt Charlotte ihren Namen lesen.« Im weiteren Verlauf erfahren wir, dass sich durch die müt­ter­liche Seite ihrer Ver­wandt­schaft ein roter Faden zieht, eine Ge­schich­te schwers­ter De­pres­sio­nen, die nur den Tod als Er­lösung zu­zu­lassen schienen. Char­lottes Tante ging acht­zehn­jäh­rig ins Was­ser, Char­lot­tes Mutter Fran­ziska stürzte sich, als ihr Kind neun Jahre alt war, aus dem Fenster, ebenso wie Char­lottes Groß­mutter und deren Mutter und Bru­der, und auch die Groß­tante und deren Sohn haben ihrem uner­trägli­chen Leben mit der Krank­heit selbst ein Ende ge­setzt. Aus Scham und in der Angst, dass auch Char­lotte die Veran­lagung geerbt habe, ver­schweigt man das fa­mi­liäre Drama, so­lange es geht. Um das Mäd­chen zu schützen, spie­gelt man ihr un­ver­fäng­liche Todes­ursa­chen vor – ein Unfall, eine Grippe.

Die politi­sche Lage in Deutschland setzt die jü­di­sche Fami­lie unter zu­sätz­li­chen Druck. Nach der Reichs­po­grom­nacht (10. No­vem­ber 1938) wird Char­lottes Vater, der bis zur Macht­er­grei­fung an­gese­hene Chir­urg Dr. Albert Salo­mon, nach Sach­sen­hausen ver­schleppt. Er wird zwar später wieder frei­ge­las­sen, bleibt aber ein ge­bro­che­ner Mann. Auf sein Drängen hin – viele Juden sind bereits ge­flohen – folgt seine Tochter den Großeltern nach Ville­franche-sur-Mer an der fran­zösi­schen Mittel­meer­küste, wo sie auf dem Grund­stück der wohl­haben­den Witwe eines ameri­kani­schen Gene­rals, Ottilie Moore, Auf­nahme ge­fun­den ha­ben.

Die geradezu paradiesische Unterkunft kann die Leiden der Groß­mutter nicht mil­dern. 1940 begeht sie auf die­selbe Weise Selbst­mord wie vier­zehn Jahre zuvor ihre Tochter Fran­ziska. Nun bricht das lange gehütete Ge­heim­nis un­auf­halt­sam ans Ta­ges­licht. Char­lotte hasst die Familie, die sie ge­täuscht hat: »Ihr ganzes Le­ben, eine einzige Lüge«. Die in­tro­ver­tierte, sen­si­ble junge Frau begreift jetzt in vol­lem Ausmaß, was es mit ihrem eige­nen Wesen – der tiefen Me­lan­cholie, der immer­währen­den Angst, ver­lassen zu werden – auf sich haben könnte, und die Bedro­hung, die sie in sich fürchtet, stürzt sie in eine tiefe Krise. Ottilie Moore sorgt sich und schickt Charlotte zu Dr. Moridis, einem charis­ma­tischen Nerven­arzt. Ihr Zustand er­schreckt ihn, aber er kennt ihr künst­leri­sches Talent und rät: »Du musst ma­len ... Leid zum Ausdruck brin­gen.«

Wie eine Be­sessene er­greift Char­lotte, was sie als »ihre ein­zige Über­le­bens­chance« auffasst. Was ihr vor­schwebt, ist, die Er­inne­run­gen an ihr Leben, ihre Familie, Lie­bes­glück, Er­leb­nis­se mit den Küns­ten und Er­fah­run­gen mit Leben und Tod »wie einen Ro­man zu malen«, ein »Singe­spiel« unter dem Titel »Leben? Oder Thea­ter?« mit Bildern, Texten und Musik. Stän­dig steht sie unter psychi­schem Druck, »die Zeit drängt«, sie sieht sich »am Rande des Ab­grunds«. Als sie ihr Pro­jekt schließ­lich fertig­ge­stellt hat, ist sie aus­ge­zehrt, aber auch erlöst. Sorgsam ordnet sie die Blätter und packt sie ge­bün­delt in einen Koffer. Sie ver­macht ihr ge­sam­tes Werk Ottilie Moore. Da die ange­sichts der sich zu­spit­zen­den poli­ti­schen Lage nach Ame­rika zurück­ge­kehrt ist, über­gibt Charlotte den Koffer treu­hän­de­risch an Dr. Moridis: »C'est toute ma vie« (»Das ist mein ganzes Leben«).

Bei dem Arzt waren Char­lotte Salo­mons Bilder in sicheren Hän­den. Während die Künst­lerin bald darauf de­por­tiert und am 10. Okto­ber 1943 im KZ Au­schwitz er­mor­det wurde, überlebte ihr Werk. Heute im Be­sitz des Jüdi­schen Museums in Amster­dam, geht die Samm­lung seit Jahr­zehn­ten um die Welt. 2012 wa­ren Teile von »Leben? Oder Thea­ter?« bei der 13. Docu­menta in Kassel, im Früh­jahr 2015 im Kunst­mu­seum Bo­chum, im Herbst im Museum der Moderne Salz­burg zu sehen. Auf­sehen erregte Marc-André Dal­ba­vies Auf­trags­oper für die Salz­burger Fest­spiele (2014) und eine Ballett­ver­sion des Gel­sen­kirche­ner Musik­t­hea­ters im Re­vier (»Der Tod und die Malerin«, 2015).

Für seinen Roman »Charlotte« David Foenkinos: »Charlotte« bei Amazon (den Christian Kolb über­setzt hat) re­cher­chier­te David Foen­kinos jahre­lang in Deutsch­land und Frank­reich. Er stand vor dem Ge­burts­haus der Malerin in Berlin-Char­lotten­burg, be­merkte die Ge­denk­tafel und die »Stolper­steine«, wurde abge­wie­sen, als er in Ville­franche-sur-Mer um Zu­tritt zur Villa bat, die da­mals Ottilie Moore ge­hörte. Zeit­zeugen deu­te­ten ihm an, dass Char­lotte an die SS ver­ra­ten wurde. Die Auf­arbei­tung der Ge­scheh­nisse wäh­rend des Vichy-Re­gi­mes scheint auf wenig öf­fent­liches Inter­esse zu stoßen. Der Autor stellt sich der Auf­gabe, die ver­gesse­ne Deut­sche mit seinem Ro­man in Er­in­ne­rung zu ru­fen.

Welche Form ist angemessen, um Leben und Schick­sal einer solch un­ge­wöhn­li­chen Frau, der es nicht ver­gönnt war, ihre kreati­ven Ta­lente in Frieden voll zu ent­falten, in Worte zu fas­sen? Die­ser Frage hat David Foen­kinos, des­sen bisherige Romane durch ihren heiteren Ton mit hinter­gründi­gem Hu­mor ge­fielen, be­sondere Auf­merk­sam­keit gewid­met. Er ent­schei­det sich schließ­lich für eine be­ste­chen­de, radi­kale Lö­sung. Jeder Satz beginnt mit einer neuen Zeile, und keiner ist länger als eine Zeile. Manche Zeilen ent­hal­ten nur syn­tak­ti­sche Frag­mente. Nach zehn bis zwanzig Zeilen (soll man sie ›Verse‹ nen­nen?) be­ginnt eine neue ›Strophe‹, nach zwei bis vier Sei­ten ein neuer num­me­rier­ter Abschnitt, nach fünf bis über einem Dutzend da­von ein neues Kapi­tel, ins­ge­samt acht und ein Epi­log. Blättert man rasch durch die Seiten, könnte man glauben, ein moder­nes Epos oder Lang­ge­dicht in freier Form vor sich zu ha­ben. Poetisch ver­dich­tet ist die Sprache ganz gewiss. Beim Lesen ge­win­nen die kurzen Aus­sa­gen durch den Zeilen­um­bruch an Gewicht, man hält öf­ter inne. In­halt­lich wech­seln Epi­so­den aus Char­lotte Salo­mons Leben, teils sze­nisch, teils sum­ma­risch, mit Be­rich­ten des Au­tors über seine Re­cher­chen, Ein­drücke und Re­fle­xio­nen.

Der Erfolg des Buches übertraf si­cherlich alle Erwartungen. Es avancierte in Frank­reich zum Best­seller und wurde 2014 mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des Lycéens aus­ge­zeich­net. Und im Sommer 2015 wurden in Ville­franche-sur-Mer im Bei­sein des Autors Ge­denk­tafeln für Char­lotte Salo­mon enthüllt.


War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Charlotte« von David Foenkinos
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon


Kommentare

Zu »Charlotte« von David Foenkinos wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top