Rezension zu »Anna« von Niccolò Ammaniti

Anna

von


Seit vier Jahren hat eine Seuche alle Erwachsenen dahingerafft, Kinder leben nur bis zur Pubertät. Die Reste menschlicher Zivilisation gehen ihrem Ende entgegen. In dieser Dystopie schlägt sich eine Dreizehnjährige mit ihrem kleinen Bruder durch ein verwüstetes Sizilien.
Belletristik · Einaudi · · Taschenbuch · 284 S. · ISBN 9788806227753
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Sizilien

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Abenteuer im apokalyptischen Niemandsland

Rezension vom 29.12.2015 · 6 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Anna ist dreizehn. Das bedeutet: Bald muss sie sterben – wie alle Kinder. Der Virus, der 2016 in Belgien erstmals auftrat und sich rasant über die Welt verbreitete, wirkt offenbar über Hormone, die nur Erwachsene besitzen. Deshalb sind alle »Großen« längst gestorben, während den Kindern eine Schonfrist bleibt. Ganz auf sich gestellt, schlagen sie sich seit mittler­weile vier Jahren allein, in Grüppchen oder organi­sierten Banden durch die Ruinen unserer Zivili­sation. Mit dem Eintritt in die Pubertät zeigen sich bald rote Flecken auf dem Körper, und dann rafft »la Rossa« auch sie binnen einiger Tage, höchstens Wochen dahin. Das Ende der Menschheit ist absehbar.

Oder gibt es doch irgendwo überlebende Erwachsene? Gerüchte über eingebun­kerte Forscher oder Magier kursieren überall. Dieser Hoffnung folgt Anna, sie lässt ihr elterliches Haus bei Castellam­mare del Golfo (westlich von Palermo) hinter sich, läuft Richtung Messina, um irgendwie die Meerenge zu überwinden und auf dem Festland nach Rettung zu suchen.

Anna muss ihr eigenes Überleben sichern (Nahrung und Schlaf­plätze finden, verwilderte Tiere und verrohte Altersge­nossen abwehren), täglich lebens­wich­tige Entschei­dungen treffen. Der Tod gehört zu ihrem Leben: sterbende Jugendliche, verwesende Körper, das Wissen um ihre eigene Endlichkeit. Dazu trägt sie Verant­wortung für Astor, ihren kleinen Bruder von ungefähr sechs Jahren. Orientie­rung und Rückhalt gibt ihr in allem ein Schulheft, in dem ihr die weitsich­tige, belesene Mutter vor ihrem Tod alles über »Le cose importanti« aufge­schrie­ben hat. Die Kapitel vermitteln medizi­nisches Grundwissen und Ratschläge für alle möglichen Lebenslagen, denen die Kinder ausgesetzt sein werden. Vor allem schenkt sie ihnen Vertrauen und Zuversicht (»Siete bravi e intelligenti e sono sicura che ce la farete … L’importante è che usiate sempre la testa.«).

Niccolò Ammaniti hat in seinem jüngsten Roman erneut ein Kind an der Schwelle zur Erwachse­nenwelt als Protago­nisten gewählt – zum ersten Mal ein Mädchen. Anders als ihre Vorgänger Michele (in »Ich hab keine Angst« [› Rezension]) und Cristiano (in »Wie es Gott gefällt« [› Rezension]) steht sie nicht unter dem direkten Einfluss fragwür­diger Erwach­senen­charak­tere. Über die Leitlinien ihrer Mutter und die Verpflich­tung für Astor hinaus ist Anna ungebunden wie all ihre Gleich­altrigen.

Wie bewähren sich Kinder ohne erwachsene Lotsen, ohne die Segnungen der Zivilisa­tion, nachdem der Firnis europäi­scher Kultur im Kampf ums nackte Überleben schnell abgewetzt ist? Die spannende Ausgangs­situa­tion erinnert an große Vorbilder. William Golding hat in »Lord of the Flies« eine ähnliche Labor­quaran­täne geschaffen, indem er einen englischen Knabenchor auf einem unbewohnten Insel­para­dies abstürzen ließ. Vernunft und Moral scheitern dort kläglich an Irratio­nalität und Gewalt. Setzt Ammaniti mit siziliani­schen Kindern ein optimis­tische­res Menschen­bild dagegen? Oder will er uns vor Augen führen, welche Weichen wir heute stellen müssen, damit unseren Kindern eine Zukunft wie Annas erspart bleibt?

Dergleichen Tiefgründiges wäre untypisch für den Autor. Ammaniti war immer brillanter Fabulierer, aber kein Program­matiker. »Anna« ist Abenteuer­roman auf Dystopie-Basis und Road Movie, und das mag ja auch genügen für ein ­gutes Buch. Die Reise der Protago­nistin taugt indes nicht einmal als Metapher, denn sie wandelt sich kaum während ihrer Wanderungen von Szene zu Szene. Erkennt­nisse bleiben banal: »Bisogna andare avanti, senza guardarsi indietro, perché l’energia che ci pervade non possiamo controllarla, e anche disperati, menomati, ciechi continuiamo a nutrirci, a dormire, a nuotare contrastando il gorgo che ci tira giú.«

Nichtsdestoweniger ist packend erzählt, was Anna und ihr Bruder im apokalyp­tischen Niemands­land erleben. Schon die Frage, ob es Anna gelingen wird, den Bruder und sich selbst trotz aller Gefahren zu retten, hält die Spannung bis zum Schluss hoch. Die Fantasie des Autors gestaltet breit und detailreich, wie sich die Kinder in ihrer todgeweih­ten Welt arrangieren – da gibt es (ein wenig) Freund­schaft, keimende Liebe, Mitgefühl, Hilfs­bereit­schaft, Einfalls­reichtum, vor allem aber die rücksichts­lose Durchset­zung egoisti­scher Interessen, hemmungs­lose Gewalt, Banden­bildung. Der Kapitalis­mus blüht schon in der Kinderwelt: Der geschickte Einsatz vorgeb­lichen Wissens oder magischer Kräfte zieht andere an, verleiht Macht über sie, entlockt ihnen Reichtümer (hier: rare Schätze wie Batterien, Medizin und Süßigkeiten), degradiert sie zu Sklaven.

Interessant, wie sich ein Bedürfnis nach Spiritualität manifes­tiert. Kunstvoll verziert Anna die Knochen der Mutter und arrangiert sie im verschlos­senen Eltern­schlaf­zimmer wie Reliquien, vor denen sie sich Kraft holt. Ein paar längst nutzlos gewordene Objekte symboli­sieren für sie und Astor das verlorene Paradies. Um den kleinen Bruder davon abzuhalten, ihrer Protektion zu entwischen und die Umgebung auf eigene Faust zu erforschen, erfindet sie den Mythos eines bösen Gottes »Danone« (dessen Name an vergangenen Schokocreme-Luxus erinnert).

Ammanitis unkomplizierte Prosa ist lebendig, ungeheuer visuell, suggestiv und drastisch wie eh und je, muss hier aber ohne Leichtig­keit und Zynismen auskommen. Am prägendsten sind die detail­lierten Beschrei­bungen der verfallenen, durch Gewalt, Plünde­rungen und Großbrände verwüsteten Szenerie. Staub und Asche überall, keine Glasscheibe ist heil, keine Wohnungstür unaufge­brochen. Dinge, die unseren Alltag bestimmen, haben jeden Wert verloren – Smartphones, Kühl­schränke, Fernseher, Badezimmer, Geld. Schlangen vor sich hin rostender Autos lassen erahnen, wie Zigtausende ihrem Schicksal zu entfliehen trachteten, ehe sie einsehen mussten, dass es kein Entrinnen gab. Auf ihrer täglichen Suche nach Ess- und Trinkbarem durchkämmt Anna riesige stock­finstere Supermarkt-Hallen. Die Natur überwuchert Gebäude, Plätze und Autobahnen. Verwilderte Haus- und Nutztiere ziehen durch verödete Stadt­viertel. Einem besonders verrohten Hund schenkt der Autor eine eigene Biografie. Ironischer­weise wurde er einst zur Kampfbestie herange­züchtet, musste sich nach dem Tod seines Herrn von der Kette lösen und dann, endlich frei, um sein Leben kämpfen. Nachdem Anna den Machtkampf gegen ihn gewinnt und sein Leben rettet (eine der stärksten Szenen des Romans), begleitet er sie fortan treu wie ein Schutzengel. Der gemeinsame Weg von Station zu Station bestimmt die lineare Struktur der Handlung, die nicht die Sogwirkung früherer Plot­konstruk­tionen entfacht, wo mehrere Stränge unaus­weich­lich auf eine Katastrophe hinzielten.

Unter den Situationen, die die beiden mit Verhaltens­alterna­tiven konfron­tieren und ihnen mutige Problem­lösungen abverlangen, nimmt der Aufenthalt bei einer obskuren Gemein­schaft in einem verwahr­losten Luxushotel in den Bergen viel Raum ein. Hunderte Kinder tummeln sich auf dem Gelände, Wach­mann­schaften kontrol­lieren den Zugang, ein paar Anführer scheinen die Rituale um einen grotesken Knochenkult vorzugeben. Das Gerücht, dass eine geheimnis­volle Alte Heilung bringen werde, heizt die irrationale Stimmung an, die in der Massen­hysterie eines giganti­schen »festa del fuoco« kulminiert. Derlei Narren­schiff-Spektakel, normaler­weise ironisch-drastisch überzogen, sind Ammanitis Spezialität. Aus­gerech­net in dieser Dystopie wirkt die Szene jedoch allzu künstlich, befremdlich und unnötig.

In ihrem unbarmherzigen Umfeld agiert Anna emotionslos, pragmatisch, klug und unbeirrbar – eine starke Kämpferin. Beein­druckend die Reife, mit der sie ihren Bruder für die Zeit nach ihrem eigenen Tod vorbereitet. Es sind außer­gewöhn­liche Charaktere, die sich in einer brutalen Realität im Zeichen des Todes bewähren und mit denen wir existen­zielle Erfahrungen von Freud, Leid, Gefahr und Verlust durchleben. Acht Jahre lang hat der Autor nach eigenem Bekunden an dem Stoff gefeilt. Und dennoch geht der Roman kaum tiefer unter die Haut als seine Vorgänger, in denen sich Engagement und Herz des Autors im über­borden­den Fabulieren, der ironischen Note seiner Charakter­zeichnun­gen und der amüsierten Betrachtung selbst absurdester Episoden nieder­schlug. Das Tragische ist wohl nicht Ammanitis Stärke.


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Kommentare

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Zu »Anna« von Niccolò Ammaniti wurden 1 Kommentare verfasst:

Marion von Lojewski schrieb am 08.02.2018:

Ammanitis Roman ist erschütternd und nicht ein vordergründiges "Road-Movie",wie der Rezensent behauptet.Im Grunde genommen stellt Ammaniti unserer Zivilisation ein vernichtendes Urteil ,wenn er sie so wie in dieser Dystopie enden lässt. Letztlich ist dieser Roman eine einzige Kritik an der heutigen Erwachsenenwelt,mit der Pubertät und damit dem Abschied von der Kindheit beginnt heutzutage die hoffnungs-und rettungslose Dekadenz. Nur die Kinder könnten noch eine Chance haben zu überleben - aber dazu müsste die Erwachsenenwelt sich auf andere Werte besinnen und die Welt anders gestalten.als sie das heutzutage tut.
Damit passt dieser Roman zu allen anderen,die Ammaniti über die Schicksale von Kindern und Jugendliche geschrieben hat,ist nur härter und pessimistischer als bisher.

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