Crudelitas, Proditio, Fraus
Gruselig und makaber beginnt der Plot: In einem Abbruchhaus, das Obdachlosen vorübergehend einen Unterschlupf bietet, wird ein Torso gefunden: eine Leiche, der man an Stelle des zugehörigen Kopfes einen Ziegenkopf aufgesetzt hat, befestigt mit einem in den Leib gedrehten Gewindestab. Kurze Zeit später taucht ein zweiter Torso auf: Aus dem zugenähten Bauchfell eines Lamms schaut ein Leichenteil hervor. Aufgefunden wurde dieses Ensemble in einem gigantischen Nachtclub, in einem muffigen Eck, das für Menschen mit urophilen Neigungen reserviert ist und wo es nach Ausscheidungen stinkt. Schließlich sieht sich der Angestellte einer Consultinggesellschaft in seinem Büro einer ähnlich schauderhaft arrangierten Präsentation konfrontiert: Einem Puppenkörper wurde ein kahl rasierter Kopf aufgesetzt, am Rücken wurden Tierflügel befestigt, und aus einem Mantelärmel ragt eine Hühnerkralle ...
Für die Berliner Kriminalpolizei um Martin Zollanger kann es keinen Zweifel mehr geben: Hier agiert ein Serientäter, der sein Handwerk in aller Öffentlichkeit ausübt, sich bewusst den Überwachungskameras präsentiert. Will er entdeckt werden? Welche Motive leiten ihn? Empfindet er perverse Lust an Leichenschändung und Tierquälereien? Oder handelt es sich um einen auf Abwege geratenen Aktions-Künstler, der Körperwelten zur Schau stellen möchte?
Dann tauchen mittelalterliche Holzschnitte mit lateinischen Botschaften auf: "Nullus dolus contra casum" (S. 146). Kommissar Zollanger recherchiert in Bibliotheken und findet heraus, dass sich die inszenierte Leichenschau offenbar an klassischen Vorbildern orientiert: Zwischen 1338 und 1340 hat Ambrogio Lorenzetti im Rathaus von Siena zwei wunderbare Fresken geschaffen, die Allegorie des guten Regierens und die des schlechten Regierens. Der Täter, offenbar ein gebildeter Mensch, zitiert nun also aus der mittelalterlichen Wandmalerei, die den Sieneser Ratsherren und Bürgern die rechten Tugenden und die gefährlichen Untugenden nebst ihren sehr konkreten Folgen für das Gemeinwohl vor Augen führen sollte. Sein Blick ist freilich einseitig auf die Laster und Verbrechen gerichtet, denn seine Torso-Plastiken stellen Lorenzettis Personifizierungen von "Crudelitas, Proditio, Fraus" (Grausamkeit, Verrat, Betrug) nach (Wie schön: die Fresken sind auf Seiten 230 bis 232 abgebildet.). Und wozu die Mühe? Er will auf politische und moralische Missstände in der heutigen Berliner Gesellschaft hinweisen.
Vorab hatte er seine drei Holzschnitte Hans-Joachim Zieten zugeschickt, einem prominenten Bürger Berlins und charismatischen Mann der Öffentlichkeit. Der propagiert Anstand und Gerechtigkeit, scheut aber für sich selbst vor keiner Unanständigkeit zurück. Kurz nach der Wende hatte er ostdeutsche Betriebe in die Insolvenz getrieben, um sich dann die Schulden ganz rechtens vom Staat ersetzen zu lassen. Er ist verantwortlich für den – noch unter der Decke gehaltenen – Bankenskandal, der Berlin in den Ruin treiben wird.
Eric Hilger arbeitete als IT-Spezialist in dem gigantischen Konglomerat aus Banken, Beraterfirmen und Serviceunternehmen, dessen Vorstand und Jongleur Zieten ist. Schon früh hat Eric den Crash kommen sehen und vorsichtshalber sämtliche Daten kopiert. Vor wenigen Monaten fand man ihn erhängt an einem Baum. Was für die Polizei als eindeutiger Selbstmord gleich zu den Akten gelegt wurde, lässt Schwester Erin keine Ruhe. Die engagierte Alternative, die an sozialen Brennpunkten arbeitet und gute Kontakte in der Migrantenszene unterhält, findet in der Wohnung ihres Bruders Computerdateien, die sie mit Hilfe ihrer Verbindungen zu Hackern entschlüsseln kann. Das brisante Material hilft schließlich, Zieten zu Fall zu bringen.
Wie ist dieses Buch also?
Der Handlungsstrang der Leichenschau, die Verankerung im Mittelalter, die Verquickung mit der kunstgeschichtlichen Interpretation hat mir per se gut gefallen. Aber die Verbindung mit einem Bankenskandal finde ich denn doch zu weit hergeholt. Natürlich müssen dreckige Geschäfte lückenlos aufgedeckt werden – aber dafür gibt es doch wohl effizientere Methoden, als durch perverse Anschauungsobjekte einen indirekten und intellektuell verbrämten Fingerzeig aufzubauen.
Unbefriedigend fand ich auch die leider überwiegend klischeehaften Persönlichkeiten: Natürlich hängt der Ex-DDR-ler Martin Zollanger noch immer sozialistischen Idealen nach; natürlich ist das Wohlstandskind Erin von der Konsumgesellschaft angewidert, ist Vegetarierin, fährt kein Auto und lehnt Geld als Zahlungsmittel ab; natürlich treffen wir auf alte Stasi-Seilschaften, die einst systemfeindliche Subjekte in Haftanstalten folgenschwer folterten, natürlich ist Hans-Joachim Zieten nicht nur ein böser Banker, sondern auch menschlich ein Buhmann.
Auch Berlin stellt sich uns mit den bekannten Attributen dar: der Kiez mit seinen Obdachlosen und Migranten, das Rotlichtmilieu in allen seitenfüllenden Spielarten – es fehlt an Originalität.
Insgesamt liest sich "Torso" recht flüssig. Langeweile kommt nicht auf. Wiederholungen sorgen dafür, dass wir den Handlungsfaden nicht verlieren. Und Fleischhauer hat – nachdem ungefähr fünfzig Seiten vor dem Ende alles geklärt scheint – noch einen völlig überraschenden Schluss in petto ...