Rezension zu »Der tanzende Berg« von Elisabeth R. Hager

Der tanzende Berg

von


Eine heimgekehrte Tierpräparatorin, ihre unterschätzte Freundin, ihr Verflossener und ihre schräge Familie sind die Hauptfiguren in einem Szenario zwischen Tiroler Bergbauern und Kitzbüheler Schickeria, zwischen Tradition und Moderne, zwischen makabren Absurditäten und bitterer Realität.
Belletristik · Klett-Cotta · · 256 S. · ISBN 9783608984880
Sprache: de · Herkunft: de

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Verwurzelt statt zerbröselt

Rezension vom 05.11.2022 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Es ist eine Hass-Liebe, die Marie Scheringer mit ihrem versof­fenen, gries­grämi­gen Onkel verbindet. Seine Frau Hella und er hatten sie nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern als Baby zu sich genommen und auf ihrem beschei­denen Hof an Kindes­statt großge­zogen. Schon als Sieben­jährige ging sie ihm in seiner Werkstatt zur Hand und erlernte alles, was Tiroler Waid­männer als meister­liches Arbeiten rühmten. Franz Sche­ringer war die unum­strittene Koryphäe, wenn es um das effekt­volle Aus­stopfen erlegter Wildtiere ging. Keiner im weiten Umkreis von Kitzbühel vermochte wie er, aus blutigen Bälgen fast lebendige Trophäen zu formen, die in den guten Stuben stolzer Jäger als »Ausweise ihrer Männ­lichkeit« beein­drucken könnten. Als erregten all die Innereien, Flüssig­keiten, Schleime und Aus­dünstun­gen der auszu­weiden­den Tier­körper nicht schon genug Ekel in der kind­lichen Seele, into­nierte der Onkel noch gruselige Schauer­geschich­ten dazu und machte sich über Marie lustig, wenn die anima­lischen Fratzen sie bis ins Abend­essen hinein ver­folgten.

Kein Wunder also, dass sich Marie ihren Altersge­nossen nicht zugehörig fühlt, sich absondert. Dünn, blass, Kopfhörer im Ohr und schwarz gewandet, führt sie ein Eigen­leben, bleibt den einschlä­gigen Veran­staltun­gen im Dorf fern. Man beäugt sie mit Befremden und verpasst ihr den Beinamen »Bloody Mary«. Mit achtzehn entflieht sie »mit wehenden Fahnen« nach Wien. Doch Bande aus der Kindheit sind stark, und viel­leicht hat sie im Innersten sogar erhofft, was viele Jahre später geschieht: Kaum hat der Onkel Franz seinen Tod im Fluss gefunden, erkennt Marie, jetzt Mitte dreißig: »Du darfst wieder heim.« So zieht sie zurück ins Dorf und übernimmt die Werkstatt des Onkels.

Das wird keine Erfolgsgeschichte. Spannende Aufträge bleiben aus, denn weder die Einheimi­schen noch die Jäger­schaft bringen Verständ­nis auf für »eine allein­stehende Frau, die mit Einge­weiden hantierte und Tiere aus­stopfte«. Ab und zu finden Touristen Gefallen an den Produkten und erwerben einen Wolper­tinger, gern mit »hinter­fotzigem« Aussehen, als skurriles Mit­bringsel.

In Enttäuschung mündet auch eine weitere Hoffnung, die Marie gehegt hatte, als sie beschloss, in die Heimat zurückzu­kehren: Sie wollte ihren Mit­schüler Youni wieder­sehen. Der war als unbe­gleiteter Minderj­ähriger aus dem Bürger­krieg des Balkan in ihre 10. Klasse gekommen und hatte sich zur Verwun­derung aller auf den freien Platz neben Marie gesetzt. Da war es um sie geschehen. Doch was sie jetzt von ihrer Freundin Ursula (genannt »Butz«) berichtet bekommt, öffnet ihr die Augen für unschöne Wahr­heiten. Der »Mädchen­schwarm« war in die Drogen­szene ver­wickelt gewesen und ein Unruhe­stifter geblieben, der es nie schaffte, sein Leben in normale Bahnen zu lenken. Sein unerwar­teter Tod stürzt sie noch tiefer in ein emotio­nales Elend.

Eines Morgens – und damit setzt die Handlung dieses so origi­nellen wie unter­halt­samen, im Nachklang gesell­schafts­kriti­schen Romans ein – hat die rüstige Tante Hella wie üblich das Frühstück für »ihr verschro­benes Kind« bereitet, da klingelt das Telefon. Hella nimmt an, und ihre süßliche Stimmlage verrät Marie, dass es ums Geschäft geht, und zwar um ein großes. Als Geburts­tagsge­schenk für die Erbin des renom­mierten Kitz­büheler Nobel­hotels »Goldener Hahn« soll Marie binnen eines Tages deren kürzlich verstor­benes Chi­huahua-Hünd­chen aufbe­reiten. Der Senior­chef wünscht, seiner Tochter das Präparat als Höhepunkt des Fests vor der versam­melten Schicke­ria zu über­reichen. Zeitlich ist die Auftrags­arbeit kaum zu schaffen, doch – »Jessas­maria­und­josef« – es locken bitter benötigte zwei­tausend­sechs­hundert Euro!

In ihrer Beschreibung, wie Marie unter Zeitdruck und Tante Hellas einfalls­reicher Mitwir­kung aus dem hand­taschen­großen tiefge­kühlten Leichnam ein aller­liebstes Schoß­hündchen zu zaubern versucht, zündet Elisabeth R. Hager nun einen witzig-makabren Knaller nach dem anderen. Stich­wörter wie »Dampf­garer« müssen genügen, um anzu­deuten, was alles schief­geht und Marie zwingt, ihren gewohnten Perfektio­nismus zugunsten hand­festen Pfuschs hintan­zustellen.

Doch der kuriose Plot aus dem Tiroler Bergleben nur wenig abseits des turbu­lenten Jetsets verliert bald seine Leichtig­keit, je näher uns die Autorin an ihre Haupt­personen Marie, Ursula und Youni heran­führt. Wie viele andere, »die es zerbrö­selt hat«, sind sie Außen­seiter, alle auf ihre eigene Art, aus unter­schied­lichen Gründen und mit anderer Weise, damit umzugehen.

Ursula hat nur die Pflichtschule besucht und kann ihre Lehre nicht beenden. Der Traum­beruf der »Tochter vom Esel-Meyer« ist zeit­lebens der der Bäuerin, doch es ver­schlägt sie ins Bord­bistro der öster­reichi­schen Bundes­bahn und in den »Goldenen Hahn« als Küchen­hilfe und Zimmer­mädchen. Da ist sie nicht nur Freiwild für die männ­lichen Gäste, sondern auch Leid­tragende unter der Fuchtel der geld­gierigen »Chefleut« – groß­spurig, wenn es um sie selbst geht, ansonsten schlimme »Halsab­schneider«.

Obwohl die Haupthandlung an einem Tag spielt, lässt Elisabeth R. Hager ihre Ursula keine fort­laufende Geschichte erzählen. Es gilt nicht nur eine Menge an Vorge­schich­ten zu inte­grieren, sondern auch ein breites Panorama der Verhält­nisse in ihrem bäuer­lichen Lebens­umfeld zu entwerfen, das »eng getaktet« an die Jahres­zeiten gebunden ist. Das klingt dann für manchen nach guter alter Zeit, als Gender-Sternchen noch nicht einmal am Firma­ment blin­zelten. Altherge­brachte Anschau­ungen bestimmen den Weg jeder/s Einzelnen und wie sie/er ihr/sein Leben zu führen hat. »Bauern­kinder sind den ganzen Tag draußen, aber zum Arbeiten, nit zum Stra­wanzen, gell.« Mann und Frau sind einbe­toniert in ihren binär geschlechts­spezifi­schen Rollen. Im Erbfall geht der Hof an den ältesten Sohn und aus Prinzip eben nicht an die »Butz«. Da Bruder Mike aber »ein Süffler, ein Spieler« ist, rauscht unter seiner Ägide alles den Bach herunter, bis Grund und Boden schließ­lich fremden Leuten zufallen. So fügen sich aus den Erinne­rungen der »Butz« und von Marie, aus ihren Gesprä­chen mit Tante Hella und anderen sowie dem Dorf­tratsch nach und nach die Details zu einem Gesamt­bild, das nicht viel übrig lässt von der anfäng­lich vermu­teten Post­karten­idylle. Und natürlich ist die Zeit auch in Tirol keines­wegs stehen geblieben. Wie überall starrt man aufs Smart­phone, wischt übers Tablet, zappt durch die Fernseh­kanäle.

Ursulas Gedankenfülle ist dicht gepackt, und ihre Sprache ist be­merkens­wert wand­lungs­fähig. Der Dialekt mag für unsere Ohren herzig klingen, doch die Wortwahl ist bisweilen derb, und sie kann messer­scharf formu­lieren, was sie in ihrem gesell­schaft­lichen Umfeld beob­achtet. Luxus­hotels bezeich­net sie als »auf Profit ausge­richtete Galeeren«, und manche Menschen sehe man selten auf der Straße, »weil sie ihre Füße nur beim Lauf­training im Fitness­center benutzten oder beim Abschrei­ten eigens dafür ange­legter Land­schaften im Golfclub«. Gleich­zeitig berühren ihre einfühl­samen Natur­beschrei­bungen: Aus ihren Formu­lierungen steigen förmlich die Düfte von getrock­netem Heu, kräftigen Tannen­nadeln und modrigem Wald­boden auf.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2022 aufgenommen.


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