Der tanzende Berg
von Elisabeth R. Hager
Eine heimgekehrte Tierpräparatorin, ihre unterschätzte Freundin, ihr Verflossener und ihre schräge Familie sind die Hauptfiguren in einem Szenario zwischen Tiroler Bergbauern und Kitzbüheler Schickeria, zwischen Tradition und Moderne, zwischen makabren Absurditäten und bitterer Realität.
Verwurzelt statt zerbröselt
Es ist eine Hass-Liebe, die Marie Scheringer mit ihrem versoffenen, griesgrämigen Onkel verbindet. Seine Frau Hella und er hatten sie nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern als Baby zu sich genommen und auf ihrem bescheidenen Hof an Kindesstatt großgezogen. Schon als Siebenjährige ging sie ihm in seiner Werkstatt zur Hand und erlernte alles, was Tiroler Waidmänner als meisterliches Arbeiten rühmten. Franz Scheringer war die unumstrittene Koryphäe, wenn es um das effektvolle Ausstopfen erlegter Wildtiere ging. Keiner im weiten Umkreis von Kitzbühel vermochte wie er, aus blutigen Bälgen fast lebendige Trophäen zu formen, die in den guten Stuben stolzer Jäger als »Ausweise ihrer Männlichkeit« beeindrucken könnten. Als erregten all die Innereien, Flüssigkeiten, Schleime und Ausdünstungen der auszuweidenden Tierkörper nicht schon genug Ekel in der kindlichen Seele, intonierte der Onkel noch gruselige Schauergeschichten dazu und machte sich über Marie lustig, wenn die animalischen Fratzen sie bis ins Abendessen hinein verfolgten.
Kein Wunder also, dass sich Marie ihren Altersgenossen nicht zugehörig fühlt, sich absondert. Dünn, blass, Kopfhörer im Ohr und schwarz gewandet, führt sie ein Eigenleben, bleibt den einschlägigen Veranstaltungen im Dorf fern. Man beäugt sie mit Befremden und verpasst ihr den Beinamen »Bloody Mary«. Mit achtzehn entflieht sie »mit wehenden Fahnen« nach Wien. Doch Bande aus der Kindheit sind stark, und vielleicht hat sie im Innersten sogar erhofft, was viele Jahre später geschieht: Kaum hat der Onkel Franz seinen Tod im Fluss gefunden, erkennt Marie, jetzt Mitte dreißig: »Du darfst wieder heim.« So zieht sie zurück ins Dorf und übernimmt die Werkstatt des Onkels.
Das wird keine Erfolgsgeschichte. Spannende Aufträge bleiben aus, denn weder die Einheimischen noch die Jägerschaft bringen Verständnis auf für »eine alleinstehende Frau, die mit Eingeweiden hantierte und Tiere ausstopfte«. Ab und zu finden Touristen Gefallen an den Produkten und erwerben einen Wolpertinger, gern mit »hinterfotzigem« Aussehen, als skurriles Mitbringsel.
In Enttäuschung mündet auch eine weitere Hoffnung, die Marie gehegt hatte, als sie beschloss, in die Heimat zurückzukehren: Sie wollte ihren Mitschüler Youni wiedersehen. Der war als unbegleiteter Minderjähriger aus dem Bürgerkrieg des Balkan in ihre 10. Klasse gekommen und hatte sich zur Verwunderung aller auf den freien Platz neben Marie gesetzt. Da war es um sie geschehen. Doch was sie jetzt von ihrer Freundin Ursula (genannt »Butz«) berichtet bekommt, öffnet ihr die Augen für unschöne Wahrheiten. Der »Mädchenschwarm« war in die Drogenszene verwickelt gewesen und ein Unruhestifter geblieben, der es nie schaffte, sein Leben in normale Bahnen zu lenken. Sein unerwarteter Tod stürzt sie noch tiefer in ein emotionales Elend.
Eines Morgens – und damit setzt die Handlung dieses so originellen wie unterhaltsamen, im Nachklang gesellschaftskritischen Romans ein – hat die rüstige Tante Hella wie üblich das Frühstück für »ihr verschrobenes Kind« bereitet, da klingelt das Telefon. Hella nimmt an, und ihre süßliche Stimmlage verrät Marie, dass es ums Geschäft geht, und zwar um ein großes. Als Geburtstagsgeschenk für die Erbin des renommierten Kitzbüheler Nobelhotels »Goldener Hahn« soll Marie binnen eines Tages deren kürzlich verstorbenes Chihuahua-Hündchen aufbereiten. Der Seniorchef wünscht, seiner Tochter das Präparat als Höhepunkt des Fests vor der versammelten Schickeria zu überreichen. Zeitlich ist die Auftragsarbeit kaum zu schaffen, doch – »Jessasmariaundjosef« – es locken bitter benötigte zweitausendsechshundert Euro!
In ihrer Beschreibung, wie Marie unter Zeitdruck und Tante Hellas einfallsreicher Mitwirkung aus dem handtaschengroßen tiefgekühlten Leichnam ein allerliebstes Schoßhündchen zu zaubern versucht, zündet Elisabeth R. Hager nun einen witzig-makabren Knaller nach dem anderen. Stichwörter wie »Dampfgarer« müssen genügen, um anzudeuten, was alles schiefgeht und Marie zwingt, ihren gewohnten Perfektionismus zugunsten handfesten Pfuschs hintanzustellen.
Doch der kuriose Plot aus dem Tiroler Bergleben nur wenig abseits des turbulenten Jetsets verliert bald seine Leichtigkeit, je näher uns die Autorin an ihre Hauptpersonen Marie, Ursula und Youni heranführt. Wie viele andere, »die es zerbröselt hat«, sind sie Außenseiter, alle auf ihre eigene Art, aus unterschiedlichen Gründen und mit anderer Weise, damit umzugehen.
Ursula hat nur die Pflichtschule besucht und kann ihre Lehre nicht beenden. Der Traumberuf der »Tochter vom Esel-Meyer« ist zeitlebens der der Bäuerin, doch es verschlägt sie ins Bordbistro der österreichischen Bundesbahn und in den »Goldenen Hahn« als Küchenhilfe und Zimmermädchen. Da ist sie nicht nur Freiwild für die männlichen Gäste, sondern auch Leidtragende unter der Fuchtel der geldgierigen »Chefleut« – großspurig, wenn es um sie selbst geht, ansonsten schlimme »Halsabschneider«.
Obwohl die Haupthandlung an einem Tag spielt, lässt Elisabeth R. Hager ihre Ursula keine fortlaufende Geschichte erzählen. Es gilt nicht nur eine Menge an Vorgeschichten zu integrieren, sondern auch ein breites Panorama der Verhältnisse in ihrem bäuerlichen Lebensumfeld zu entwerfen, das »eng getaktet« an die Jahreszeiten gebunden ist. Das klingt dann für manchen nach guter alter Zeit, als Gender-Sternchen noch nicht einmal am Firmament blinzelten. Althergebrachte Anschauungen bestimmen den Weg jeder/s Einzelnen und wie sie/er ihr/sein Leben zu führen hat. »Bauernkinder sind den ganzen Tag draußen, aber zum Arbeiten, nit zum Strawanzen, gell.« Mann und Frau sind einbetoniert in ihren binär geschlechtsspezifischen Rollen. Im Erbfall geht der Hof an den ältesten Sohn und aus Prinzip eben nicht an die »Butz«. Da Bruder Mike aber »ein Süffler, ein Spieler« ist, rauscht unter seiner Ägide alles den Bach herunter, bis Grund und Boden schließlich fremden Leuten zufallen. So fügen sich aus den Erinnerungen der »Butz« und von Marie, aus ihren Gesprächen mit Tante Hella und anderen sowie dem Dorftratsch nach und nach die Details zu einem Gesamtbild, das nicht viel übrig lässt von der anfänglich vermuteten Postkartenidylle. Und natürlich ist die Zeit auch in Tirol keineswegs stehen geblieben. Wie überall starrt man aufs Smartphone, wischt übers Tablet, zappt durch die Fernsehkanäle.
Ursulas Gedankenfülle ist dicht gepackt, und ihre Sprache ist bemerkenswert wandlungsfähig. Der Dialekt mag für unsere Ohren herzig klingen, doch die Wortwahl ist bisweilen derb, und sie kann messerscharf formulieren, was sie in ihrem gesellschaftlichen Umfeld beobachtet. Luxushotels bezeichnet sie als »auf Profit ausgerichtete Galeeren«, und manche Menschen sehe man selten auf der Straße, »weil sie ihre Füße nur beim Lauftraining im Fitnesscenter benutzten oder beim Abschreiten eigens dafür angelegter Landschaften im Golfclub«. Gleichzeitig berühren ihre einfühlsamen Naturbeschreibungen: Aus ihren Formulierungen steigen förmlich die Düfte von getrocknetem Heu, kräftigen Tannennadeln und modrigem Waldboden auf.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2022 aufgenommen.