
Ein schwerer Weg
Anders als früher ist der Befund »nicht berauschend«. André Bernheim hat schon vieles weggesteckt: Bypass-OP, Milz-Entfernung, Rippenfellentzündung, Lungenembolie und eine Schädelfraktur, die ihm ein nächtlicher Angreifer mit einem Revolverkolben zugefügt hatte. Immer hat er sich wieder erholt.
Doch dieses Mal ist alles anders. Eines Morgens konnte der Achtundachtzigjährige nicht mehr aufstehen und nicht mehr sprechen: Gehirnschlag. Seine Tochter Pascale alarmierte den Rettungsdienst und ihre Schwester Emmanuèle, Schriftstellerin, Drehbuchschreiberin und Autorin dieses autobiografischen Romans.
Der Vater wurde auf der Intensivstation einer Pariser Klinik an die Monitore angeschlossen und erstversorgt, dann in die Neurologie verlegt. Er kann wieder sprechen – und sich aufregen: über das Doppelzimmer, das er mit einem »Greis« teilen muss, und weil er vor Hunger »stirbt«.
Denn Monsieur Bernheim ist anspruchsvoll. Der Kunstsammler – homosexuell, verheiratet, zwei erwachsene Töchter – ist eine schillernde Figur der Pariser Szene und wusste sein Leben aus vollen Zügen zu genießen. Wenige Tage vor dem Schlag war er noch auf Ischia.Um seine Frau, seit Jahren schwer depressiv und an Parkinson erkrankt, kümmert sich dauerhaft eine Krankenpflegerin. Ansonsten hat er bisher alles selbst erledigt, alle Zügel in der Hand behalten, nichts aus der Hand gegeben.
Nun erzwingen die Ereignisse Änderungen, und das dringend. Die Töchter benötigen Vollmachten. Es kommt zu absurden Szenen makabrer Komik, als ein schwerhöriger Notar mit dicken Brillengläsern vor seinen schielenden Augen an Vaters Krankenbett kommt und, weil er selber schlecht versteht, in Vaters Ohr brüllt, als sei dieser taub. Da stürzen die Töchter aus dem Zimmer auf den Gang und »schluchzen vor Lachen«.
Vaters Zustand verschlechtert sich rapide. Bald plappert er nur noch unverständliche Wortbrocken, dann kann er nicht mehr schlucken. Er liegt in einem Gitterbett, muss gewickelt werden, atmet durch eine Sauerstoffmaske. Ob es jemals wieder aufwärts geht, so sagt die Chefärztin zu den Töchtern, »wird allein die Zukunft zeigen«; »die seelische Verfassung« sei entscheidend; man gebe Antidepressiva und werde den Patienten zur Rehabilitation in ein anderes Krankenhaus verlegen.
Als Emmanuèle ihn dort besucht, ist sie überrascht. »Man hatte ihn rasiert. Ich fand, er sah besser aus.« Ihr Vater lächelt wieder »wie früher, mit strahlenden Augen«, und er spricht deutlich wie seit seinem Schlaganfall nicht mehr. Was er sagt, verstört seine Tochter allerdings aufs Äußerste und wird tiefgreifende Folgen haben: »Ich möchte, dass du mir hilfst, Schluss zu machen.«
Emmanuèle ist wie vor den Kopf gestoßen. Sie erinnert sich daran, dass ihr Vater, als sie dreizehn war, einmal so verzweifelt war, dass er davon sprach, sich erschießen zu wollen. Sie flieht aus dem Zimmer, rennt kopflos durch Straßen und Parks, bis sie von Regen und Schweiß durchnässt von der Nacht eingeholt wird. Ein Taxi bringt sie nach Hause, erst ein Schlafmittel macht sie »bereit für die Albträume«.
Zwar hat André Bernheim seine beiden Töchter ohne autoritären Druck aufwachsen lassen (Emmanuèle wurde 1955 geboren), doch jetzt fordert er mehrfach und unnachgiebig, sie mögen ihm Hilfe bei seinem letzten Schritt leisten: »Lass mich nicht im Stich.« In dieser ungeheuer vielschichtigen Problematik belässt er ihnen keine Wahlfreiheit. Nur an sich denkend, macht er sie zu Gehilfinnen, zu Mittätern, die nach den französischen Gesetzen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden können. Welche Instanz soll den Ausschlag geben für die unumgängliche Entscheidung der Frauen – der väterliche Wunsch? Die Gesetze? Moralische, ethische, religiöse Argumente?
Die Not, die insbesondere Emmanuèle in diesem Prozess durchleidet, bestimmt den Sprachstil des Buches, in dem sie schildert, wie sie schließlich zusammen mit ihrer Schwester dem Wunsch des Vaters Folge leistet. Die kurzen Sätze, bisweilen nur ein, zwei Wörter, jagen in einem präzisen Staccato dahin wie in einer guten Live-Reportage und wühlen auch die Emotionen des Lesers auf.
Emmanuèle lässt ihren Gefühlen nur dann freien Lauf, wenn keiner sie sieht. Dann weint sie heftig, zerfließt wie ein »riesiger Eisblock«, um gleich anschließend alles mit »Puder, Lippenstift, ein wenig Kajal« zu überdecken. Die Liebe zu ihrem Vater steht im Vordergrund. Sie hofft, dass er selbst doch noch umdenken oder das Schicksal eine Entscheidung treffen möge. In ihrer Bedrängnis (»Ich stehe das nicht durch.«) sucht sie einen Arzt auf, der ihr Medikamente verschreibt.
Mit Hilfe einer Freundin kontaktiert Emmanuèle eine Schweizer Sterbehilfe-Organisation. Dokumente müssen besorgt werden. Die Patientenakte des eigenen Vaters gibt man ihr nicht; nur über eine befreundete Medizinerin erhält sie sie. Nicht einmal die Terminfindung ist einfach: Pascale muss die Ferientermine ihrer Kinder berücksichtigen, und der ganze Mai ist ungünstig (»zu viele Feiertage«, das Festival in Cannes ...).
Die Schlussphase der Handlung bringt weitere geradezu skurril anmutende Situationen wie aus einem turbulenten Film. Auf Grund einer Anzeige werden die Schwestern aufs Polizeirevier einbestellt und getrennt verhört. Glücklicherweise zeigt eine Polizistin Verständnis (sie hat ihren Bruder nach einem langen Krebsleiden verloren), umarmt Emmanuèle und findet tröstende Worte: »Ich hätte das Gleiche getan wie Sie … Tun Sie, was Ihr Herz Ihnen sagt.« Nach Rücksprache mit dem Familienanwalt begleiten die Töchter ihren Vater jedoch nicht auf seiner letzten Reise. Sie bleiben in Paris, lenken sich durch einen Kinobesuch ab und warten auf das Telefonat aus der Schweiz.
Man hat zwei Fahrer angeheuert, um den Krankenwagen zu steuern. Die Tour verläuft abenteuerlich. Nach überstürztem Aufbruch gelingt es den beiden, den alten Mann in halsbrecherischer Fahrt auf die sichere Seite der schweizerischen Grenze zu schaffen und ihn in letzter Sekunde dem Zugriff der französischen Behörden zu entziehen. Den Grund des Krankentransports erfahren die Männer (beide Muslime) erst beim gemeinsamen Frühstück, und sie sind entsetzt: »Selbstmord verstößt gegen ihre Religion.« Noch einmal ist fernmündliche Überzeugungsarbeit nötig, bis endlich der Anruf der Kontaktperson vermeldet: »Alles ist gutgegangen.«
Emmanuèle Bernheims »Tout s'est bien passé« , von Angela Sanmann übersetzt, ist ein sehr individuell gestalteter, durch und durch persönlicher und doch diskreter Bericht über die letzte Lebensphase ihres außergewöhnlichen Vaters. Die Autorin blickt auch auf einige Episoden seiner Biografie zurück, im Mittelpunkt aber stehen die emotionalen und organisatorischen Turbulenzen, die sein dezidierter Wunsch nach einem selbstbestimmten Ende des Lebens auslöst, und ihre Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass die damit konfrontierten Angehörigen erheblich stärker belastet, wenn nicht sogar traumatisiert werden als derjenige, der für sich bereits eine klare Entscheidung getroffen hat.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2014 aufgenommen.