In dubio pro reo
Robert McGladdery ist 26 Jahre alt, als sein Leben am 20. Dezember 1961 »durch den Strang« beendet wird. Sein Todesurteil ist das letzte, das in Nordirland vollzogen wird. Verhaftet wurde er genau zehn Monate zuvor, und von jenem ersten bis zu seinem letzten Tag hat McGladdery seine Unschuld beteuert – während des Gerichtsverfahrens vor den Geschworenen, beim abschließenden Richterspruch, in seinem nachfolgenden Einspruch, in einem Begnadigungsgesuch aus dem Gefängnis, in seinen letzten Worten, niedergeschrieben in der Todeszelle. Doch kurz vor seinem Exitus vertraut er sich Pastor Vance, seinem Gefängnisgeistlichen, an und äußert den Wunsch, er möge sein Geständnis (»die volle Verantwortung für den Tod von Miss Pearl Gamble«) zur »öffentlichen Kenntnis bringen«. Was soll man davon halten?
Mit diesem bis heute nicht geklärten Fall hat sich der irische Autor Eoin McNamee in seinem Buch »Orchid Blue« auseinandergesetzt, und Hansjörg Schertenleib (selbst Schriftsteller) hat es jetzt übersetzt.
Der Tathergang ist simpel: Am 28.1.1961 besucht die neunzehnjährige Pearl Gamble mit ihrer Freundin Ronnie eine Tanzveranstaltung in Newry. Auch Robert und sein Freund Will Copeland sind dort. Man kennt einander nicht, aber Pearl wird dreimal mit Robert das Tanzbein schwingen. Pearl gilt als etwas unnahbar und hochnäsig; mit ihren leicht asiatisch-exotischen Gesichtszügen macht sie Jungs gerne an, lässt sie aber nicht zu nahe kommen. Auf ihrem Nachhauseweg, gegen 2.00 Uhr nachts, wird sie überfallen, geschlagen, mit sieben Messerstichen verletzt und dann erwürgt. Die nackte Leiche wird eine halbe Meile vom Tatort weggeschleppt und an einem Ort namens Weir’s Rock versteckt.
Der Verdächtige ist schnell identifiziert: Robert McGladdery soll ihr aufgelauert haben. Zwar hat er kein Motiv, es gibt keine Augenzeugen und keine forensischen Beweise. Aber ein paar Indizien genügen als scharfe Klinge, um Robert später den Lebensfaden zu durchtrennen.
Warum man ausgerechnet Robert als Schuldigen befindet, und das so sicher, dass sich die Polizei nicht einmal die Mühe macht, Freund Will näher zu durchleuchten (der nach dem Mordgeschehen für zwei Tage untertauchte), lässt sich nur mit den durch und durch versumpften Verhältnissen des Rechtsapparates im nordirischen Newry erklären.
Die Provinz befindet sich in permanenten politischen und sozialen Spannungen; dazu kommt Arbeitslosigkeit, die in Newry besonders hoch ist. Am Meer gelegen, ist diese »Stadt der Diebe« auf Sumpf erbaut. Bei Ebbe zieht ein allgemeiner Gestank nach Müll und Fäkalien aus dem Schlamm hoch und weht beständig über die zumeist nebelverhangene Stadt. In den Docks werden Frachtschiffe mit Kohle beladen; von daher wogt dreckig-schwarzer Staub übers Wasser und senkt sich auf Straßen und Plätze nieder. Die verschlossenen Menschen haben Hautkrankheiten aller Art; die Ärmsten streckt Tuberkulose nieder.
Hier also wird Robert am 18. Oktober 1935 unehelich geboren. Seine Mutter Agnes kümmert sich nicht sonderlich um ihn. Er schwänzt die Schule, vertrödelt seine Zeit mit Slum- und Zigeunerkindern im nahe gelegenen Eisenbahnbetriebswerk, macht später eine Schusterlehre, geht nach London, will sich dort im Bodybuilding ausbilden lassen, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Das bisschen Einkommen reicht, um sich in Spelunken herumzutreiben, »den Dandy« zu markieren und mit »Frauen, für die Anstand ein Fremdwort war«, zu amüsieren. Nach einem Jahr unter Kleinkriminellen und üblen Gestalten kehrt Robert zu Mutter Agnes nach Newry heim, wo er sich als feiner Pinkel gibt, »die Kleidung viel zu protzig für diese Stadt«.
Zwischen dem Mord und McGladderys Verhaftung vergehen knapp drei Wochen. Zeugenaussagen wie »McGladdery ist es nie im Leben gewesen … weil er nicht dazu fähig ist … nicht der Geck« halten die Polizei nicht davon ab, den mutmaßlichen Täter rund um die Uhr zu verfolgen, das Haus vom Dach bis zum Fundament zu durchsuchen, den Garten umzugraben, die Zisterne zu leeren. Weder finden sie die Tatwaffe, eine »sechskantige Schusterfeile« (eine solche soll McGladdery laut Augenzeugen »am Tag vor dem Mord bei Woolworth gekauft haben«), noch den Anzug, den er getragen haben soll – wobei manche behaupten, er sei hell, andere, er sei dunkel gewesen …
Der weitere Ablauf scheint vorprogrammiert. Die Polizei will klare Verhältnisse und hängt das Ding einem Kerl aus der Gegend an, der das kriminelle Profil dazu hat (schwierige Jugend, Kleinkrimineller, selbstherrliches Erscheinungsbild als Bodybuilder) und eine Gefahr darstellt. Robert hat mit Pearl getanzt, er hat Kratzer im Gesicht, und er soll die vermeintliche Tatwaffe gekauft haben. Und Richter Lance Curran sieht seine Aufgabe so: »Recht mit Gerechtigkeit gleichzusetzen ist ein Fehler. Eine faire Rechtsprechung ist ein Nebenprodukt unserer Justiz, nicht ihr Sinn und Zweck.« Der Henker ist bestellt, die Schlinge um McGladderys Hals zieht sich zu.
Am Ende des Romans ist der Leser entrüstet über die Art des Verfahrens, über die manipulierten Beweismittel, über Geschworene, die sich kaum Zeit zur Beratung genommen haben, über einen karrieresüchtigen Richter, der den Fall verhandeln durfte, obwohl er befangen war. Infolgedessen wird man geneigt sein, an Robert McGladderys Unschuld zu glauben. Doch nirgendwo kann man dem Autor eine Stellungnahme, eine Wertung entlocken. Schuldig oder unschuldig? Die Frage bleibt tatsächlich offen. »In dubio pro reo«?
Ein paralleler Handlungsstrang neben dem eigentlichen Plot schlägt den Leser fast noch mehr in Bann als das unabwendbare Schicksal des Todeskandidaten. Zur Klärung von dessen Schuldfrage trägt er zwar auch nichts bei, wirft aber ein dunkles Licht auf Richter Lance Curran, wobei dessen Verstrickungen ebenfalls rätselhaft bleiben. Neun Jahre zuvor war nämlich ein Mord geschehen, der verblüffende Ähnlichkeit mit dem Verbrechen an Pearl Gamble aufweist. Auch damals wurde ein Täter verhaftet und zum Tode verurteilt, später aber als geistesgestört begnadigt. Das Opfer war die neunzehnjährige Tochter des Richters Lance Curran. Jenem alten Fall spürt nun ein Londoner Ermittler nach. Er reist nach Irland, um den Pearl-Gamble-Mordfall zu beobachten, und stößt auf eine Wand des Widerstandes. Gegen den Filz, die Machenschaften und Absprachen der ausführenden Organe kommt er nicht an.
»Requiem« ist nicht nur ein Roman über ein sehr fragwürdiges, tödlich ausgehendes Justizverfahren, sondern er versetzt uns auch in ein atmosphärisch ungeheuer dicht gestaltetes soziales Umfeld, düster und morbide, dem zu entkommen kaum jemand eine Chance hat; umso leichter wird man dort zum Loser oder zum Buhmann gestempelt.