Ein moderner Mark Twain
Osttexas in den Dreißigern: Da hat die Rassentrennung noch keine Alternative. Die Jim-Crow-Gesetze bestimmen, dass Nigger im Bus hinten sitzen müssen und nur speziell für sie vorgesehene Läden, Kinos, Schulen und Krankenhäuser betreten dürfen. Wer nicht spurt, kann es mit dem Ku-Klux-Klan zu tun bekommen. Eine perspektivlose Zeit vor allem für Frauen, deren »Arbeitsplätze … so selten waren wie getaufte Klapperschlangen«.
Hier leben drei sechzehnjährige Weiße und eine Farbige als unzertrennliche Freunde: Sue Ellen, die Ich-Erzählerin; die bildschöne May Lynn; Terry, der ebenfalls verdammt gut aussieht (eine Augenweide, wenngleich er sich gern etwas zuviel Öl ins Haar schmiert; die Männer im Dorf verachten ihn als »Schwuchtel«), und das Niggermädchen Jinx.
Der Ort liegt in einem Feuchtgebiet am Sabine River, dem wasserreichsten Fluss in Texas. Man wohnt in Holzhäusern mit Veranda und Plumpsklo, oft auf Pfählen aufgebockt, die mit Kreosot (einem hochgiftigen Steinkohleteeröl) imprägniert sind. »Wir lebten wie Ratten auf einem Schiff, von dem wir wussten, dass es sinken würde.« Wie viele andere dieser Buden – verdreckt, baufällig, mit Holzplanken, die beim nächsten Schritt durchbrechen können – ist Sue Ellens Heim ein Ein-Raum-Haus, das man nach Bedarf unterteilen kann, indem man Decken über quer durchs Zimmer gespannte Leinen wirft.
Der größte Platzanteil gebührt naturgemäß Daddy, damit er den ganzen Tag untätig herumliegen kann, sofern er nicht gerade mit Dynamit Fische fängt. Ansonsten aktiviert er seine Muskeln nur, um Kautabak zu kauen, sich die Kante zu geben, seine Frau zu verprügeln oder sich des Nachts seiner Tochter zu nähern, was, wie er behauptet, »zwischen Vätern und Töchtern … ganz normal« sei.
Mama kann sich schon lange zu nichts mehr aufraffen. Die Herrschaft des Mannes – samt Züchtigungen – erkennt sie widerspruchslos an, wo doch auch die Bibel nichts anderes dazu sagt. Wenn sie sich elend fühlt, betäubt sie sich mit dem Allheilmittel, das ihr ein fliegender Händler regelmäßig verkauft: »eine Mixtur aus Alkohol … und Laudanum«. Sue Ellen weiß: So will sie später auf keinen Fall leben.
Auch May Lynn hatte Träume, der Not zu entfliehen, und ihre Chancen standen gar nicht schlecht. So toll, wie sie aussah, würde sie jeder Mann im Auto mitnehmen. (Sue Ellen dagegen glaubt, sie »hätte mich mitten auf die Straße legen und so tun müssen, als wäre ich tot, damit einer anhält, und auch dann wäre ich vielleicht wie eine tote Beutelratte überfahren worden.«) Ihre Wirkung auf Männer gab May Lynn die Zuversicht, sie könne es mal bis nach Hollywood schaffen und Filmstar werden.
Doch eines Tages findet Daddy sie – die Freunde sind dabei – in gänzlich unfotogener Positur im Fluss: aufgedunsen, stinkend, Füße und Handgelenke hinterrücks mit einer rostigen Drahtschlinge zusammengebunden, und mausetot. Sie aus dem Wasser zu ziehen gestaltet sich schwieriger als erwartet, denn der Mörder hat ihr eine Nähmaschine Marke Singer an die Füße gebunden.
Daddy und der von Terry herbeigeholte Constable sind für eine einfache Lösung, denn »viel getaugt hat sie eh nicht«. Niemand wird sie vermissen; warum schmeißen wir sie also nicht einfach wieder rein ins Wasser? Die Nähmaschine sollte man allerdings retten. Immerhin bewirken die drei Freunde, dass die Verstorbene wenigstens im Armengrab bestattet wird. Vor allem aber schmieden sie einen verrückten Plan: Sie wollen May Lynns Lebenstraum posthum in Erfüllung gehen lassen und sie nach Hollywood bringen. Und so nimmt das Abenteuer seinen Lauf …
Wessen Herz wird nicht schon bei diesem ebenso makabren und skurrilen wie emotionsstarken und vielversprechenden Romananfang höher schlagen? Wie einst Mark Twain in seinen Büchern über Tom Sawyer und Huckleberry Finn erzählt Joe R. Lansdale herzerwärmende Jugendabenteuer vor einem sozialen Hintergrund, den beide nicht im Geringsten beschönigen; beider Helden sind sympathische Außenseiter, die Widrigkeiten mutig entgegentreten, sich gegen Feinde entschlossen und klug zur Wehr setzen, im Verlauf ihrer Reise wachsen – und tiefe Menschlichkeit beweisen.
Die Handlung bietet gehörig Grusel, Angst einflößende Monster und vertretbar brutalen Horror, und wie Twain trifft Lansdale – in Hannes Riffels lebhafter Übersetzung – einen markanten, schnoddrigen Erzähl- und bisweilen deftigen Dialogton, der authentisch klingt und dennoch auf keine Differenzierungen und literarischen Ansprüche verzichten muss. Der Schauplatz fügt sicher nicht nur für uns Europäer eine reizvoll fremde, ja exotische Note hinzu, sondern wirkt auch auf moderne Amerikaner ziemlich befremdlich …
Wie in alten Zeiten schließt der Roman versöhnlich: Das Böse wird besiegt, und die Freunde erreichen ihr Ziel: Sie hatten sich auf den Weg gemacht, »um rauszufinden, wer wir waren und wo wir hinwollten«.
Joe R. Lansdales »Dunkle Gewässer« (»Edge of Dark Water« ) ist ein abgedrehter, intensiver, hintersinniger und eindringlicher Roman mit Figuren, die – unabhängig davon, ob sie »böse« oder »gut« sind – sorgfältig, ja liebevoll und mit Humor gezeichnet sind. Jinx, die »Niggerin«, lebt nach der Devise »Scheiß in eine Hand und wünsch dir was in die andere, und du wirst schon sehen, welche zuerst voll ist«. Und Sue Ellen stellt beim Anblick der toten May Lynn fest: »Wenn man tot ist, vergeht einem die Lust an so ziemlich allem.«
Joe R. Lansdale wurde 1951 in Gladewater, Texas, geboren und erhielt bedeutende Ehrungen für seine Romane, u.a. den American Mystery Award, den Edgar Award und sieben Bram Stoker Awards.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2013 aufgenommen.