Rezension zu »Die Wahrheit ist« von Eshkol Nevo

Die Wahrheit ist

von


Ein Schriftsteller reflektiert im literarisch mehrfach gebrochenen Rückblick sein Leben. Anlass dafür geben ihm Fragen seiner Leser. Autobiografisches und Fiktion sind nicht voneinander zu trennen.
Belletristik · dtv · · 430 S. · ISBN 9783423282192
Sprache: de · Herkunft: il

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Eine Gratwanderung

Rezension vom 13.08.2020 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Seit zwei Jahren schon steckt der Ich-Erzähler, um die vierzig Jahre alt, in einer Lebens­krise. Er benennt seine seelische Not – eine dauer­hafte Misstim­mung und Unlust, die ihn in eine Schreib­blockade geführt hat – als »akute affektive Störung« und diagnos­tiziert das Krank­heits­bild einer Dys­thymie, einer Art Depres­sion mit schwäche­ren, aber länger anhal­tenden Symptomen. Besserung ver­spricht er sich gerade durch sein literari­sches Talent (»Jetzt schreibe ich, um gerettet zu werden.«), doch wollen ihm partout keine interes­santen Geschich­ten aus der Feder sprudeln.

Da kommt ihm der Zufall wie gerufen. »Irgendein Online­redakteur« hat Fragen seiner User an den Autor gesammelt und ihm geschickt. Zwar moti­vieren sie unseren Ich-Erzähler nicht sonder­lich, aber immer­hin kann er sich über­winden, des Morgens nach Joggen, zwei Bechern Kaffee und einer Tafel Schoko­lade (»um ein paar Endor­phine freizu­setzen«) ein paar Antworten in die Tastatur seines PCs zu tippen.

»Haben Sie schon immer gewusst, dass Sie Schrift­steller werden wollen?«, lautet die aller­erste Frage, und »Nein.« seine Antwort, ehe er in Erinne­rungen an seine weit zurück­liegende Jugend­zeit abdriftet. So kommt ihm die Anekdote einer gemein­samen Nacht mit seinen vier besten Freunden in den Sinn. Jeder soll zum Ein­schlafen eine Ge­schichte erzählen. Seine eigene erntet einen Richtung weisenden Kommentar: »Bruder, aus dir wird nochmal ein Schrift­steller. Aber du musst lernen, dich kürzer zu fassen.«

Ehe aus dem Jungen tatsächlich ein Schrift­steller wird, er gar einen Lehrauf­trag für kreatives Schreiben an der Univer­sität Jerusalem innehat, wird er Soldat, kämpft während der Intifada in Gaza gegen die Palästi­nenser, studiert Psycho­logie, arbeitet als Werbe­texter, unter anderem in Diensten eines korrupten macht­hungrigen Empor­kömm­lings in der Politik – genug Stoff also für einen Literaten, so scheint es.

Doch in seinem privaten Umfeld vollzieht sich ein schleichender Prozess der Entfrem­dung, und der ist es, der zu seiner derzei­tigen schlech­ten Verfas­sung geführt hat. Seine geliebte Ehefrau Dikla hat ihn verlassen. Tochter Shira, ältestes der drei Kinder, hat sich für eine Schulzeit in einem Internat weit weg vom Vater ent­schieden. Beide haben es ihm übel genommen, dass er trotz ausdrück­lichen Verbots Auszüge aus ihrer beider Leben einge­scannt und in seine Ge­schichten eingebaut hat, teils ver­fremdet, teils deutlich identifi­zierbar und jedenfalls lebens­länglich öffentlich. Nun hat sich Shira die Freiheit genommen, in einem eigenen Blog über ihre Eltern zu plaudern.

Dass sein bester Freund und Vertrauter Ari schwer erkrankt in der Uniklinik dem Tode entgegen­sieht, nimmt dem von seinen Liebsten Verlas­senen den letzten Halt im Leben. Da er überdies mit seinem baldigen Ableben rechnet (»eine Sache der Gene« lässt einen Herz­infarkt fürchten) soll sein Roman sein letztes Werk sein.

Kaum maskiert ist dieser Ich-Erzähler ein Alter Ego des Autors, des israeli­schen Schrift­stellers Eshkol Nevo, der 1971 in Jerusalem geboren wurde und Enkel von Israels drittem Premier­minister Levi Eshkol ist (den er jedoch nie persön­lich kennen­gelernt hat). Eine weitere Spiege­lung ist in dem fiktiven skandina­vischen Krimi­autor Axel Wolf anzu­nehmen, der wieder­holt auftaucht und den der Ich-Erzähler geradezu als beneidens­wertes Vorbild darstellt. Seine Relation zu ihm gipfelt in einer skurrilen Begegnung in Jerusalem. Beim gemein­samen Abend­essen bricht Wolf am Tisch zusammen und berichtet unter Heul­attacken, dass er tief in einer Krise stecke. Deren grund­sätzliche Elemente (Schreib­blockade) und Ursachen (Trennung) haben wir da so ähnlich bereits gelesen.

Die vielen Leserfragen – gefühlt mögen es wohl ein­hundert an der Zahl sein – sind dem Autor (Nevo? dem Ich?) nicht mehr als Stimuli. »Wie autobio­grafisch sind Ihre Bücher? Wie gehen Sie mit Kritik um? Warum schreiben Sie nicht über den Holocaust?« Die Reak­tionen darauf sind keines­wegs immer befriedi­gende Antworten, aber oft interes­sante, wunder­liche oder toll­dreiste Ge­schichten. Manche bleiben sehr nah an der Realität (der israeli­schen Politik, der autobio­grafischen Fakten), manche ent­springen blanker Fantasie. So gibt es jede Menge Liebes­geschich­ten, die sich später als unwahr heraus­stellen – verzwei­felte Versuche, in Dikla Eifer­sucht zu wecken und sie dadurch für sich zurückzu­gewinnen? Irgend eine zurecht­gebogene Ge­schichte fällt dem Ich-Erzähler jeden­falls allemal ein, wie er selbst bekennt (»lüge ich schlicht und ergrei­fend … die Wahrheit ist … ich denke mir eine extreme, absurde Ge­schichte aus«), und wir Leser gewinnen Einblick in beacht­liches literari­sches Können.

Dem Thema Holocaust möchte er liebend gern auswei­chen, doch dem kann man nicht ent­fliehen, schon gleich nicht als Jude: Es folgt einem unaus­weichlich, wie eine leicht makabre, leicht ironische Ge­schichte voller Symbolik illus­triert. Auf einer seiner häufigen Lese­reisen durch die ganze Welt dient ihm ein Über­lebender des Holocaust seine umfang­reichen Lebens­erinne­rungen an. Das Manuskript­paket ist schwer zu tragen und will einfach nicht in den Reise­koffer passen. So lässt er die Papiere im Hotel­zimmer zurück. Doch freund­liche Geister senden sie zu einem späteren Ziel nach – wo sie »erneut vergessen« werden, und so fort, bis sie schließ­lich und endlich im heimi­schen Bücher­schrank ruhen.

In diesem vertrackten Stückwerk entlang unzusam­menhän­gender Fragen zwischen Wahrheit und Fiktion zu trennen (sofern einem dies wichtig erscheint), bleibt dem Leser über­lassen. Man braucht schon Durchhalte­vermögen, um das bisweilen krude Puzzle bis zum Ende zu lesen, denn ein durch­gehender Handlungs­faden ist ebenso wenig auszu­machen wie Spannungs­kurven. Statt­dessen verwirren gern plötz­liche Perspektiv­wechsel und Sprünge im Zeit- und Orts­gefüge. In den persön­lichsten Momenten sind aller­dings Zärt­lichkeit und Poesie zu finden. Immer wieder wird der Erzähler, allein­gelassen von Frau, Tochter und Freund, von Herzeleid gepeinigt. Dann kann er seine traurigen Gefühle nicht zurück­halten, seine Verlet­zungen nicht über­winden. Sein Kampf, dieje­nigen, die ihn verlassen haben, zurückzu­gewinnen, ist hoff­nungslos, obwohl er ihn mit allen Raffi­nessen führt. So scheint es keinen Ausweg für ihn zu geben.

Am Ende des sprachlich-literarisch anspruchs­vollen, auto­fiktional-viel­schich­tigen Buches, das von vielen Kritikern hochge­lobt, in die Shortlist des inter­nationalen Premio Lattes Grinzane aufge­nommen und von Markus Lemke über­setzt wurde, haben wir einen komplexen Einblick in eine komplexe Persön­lichkeit, in Vergan­genheit und Gegen­wart des Erzählers sowie seiner Heimat, des moder­nen Israels, gewonnen.


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