Die Wahrheit ist
von Eshkol Nevo
Ein Schriftsteller reflektiert im literarisch mehrfach gebrochenen Rückblick sein Leben. Anlass dafür geben ihm Fragen seiner Leser. Autobiografisches und Fiktion sind nicht voneinander zu trennen.
Eine Gratwanderung
Seit zwei Jahren schon steckt der Ich-Erzähler, um die vierzig Jahre alt, in einer Lebenskrise. Er benennt seine seelische Not – eine dauerhafte Misstimmung und Unlust, die ihn in eine Schreibblockade geführt hat – als »akute affektive Störung« und diagnostiziert das Krankheitsbild einer Dysthymie, einer Art Depression mit schwächeren, aber länger anhaltenden Symptomen. Besserung verspricht er sich gerade durch sein literarisches Talent (»Jetzt schreibe ich, um gerettet zu werden.«), doch wollen ihm partout keine interessanten Geschichten aus der Feder sprudeln.
Da kommt ihm der Zufall wie gerufen. »Irgendein Onlineredakteur« hat Fragen seiner User an den Autor gesammelt und ihm geschickt. Zwar motivieren sie unseren Ich-Erzähler nicht sonderlich, aber immerhin kann er sich überwinden, des Morgens nach Joggen, zwei Bechern Kaffee und einer Tafel Schokolade (»um ein paar Endorphine freizusetzen«) ein paar Antworten in die Tastatur seines PCs zu tippen.
»Haben Sie schon immer gewusst, dass Sie Schriftsteller werden wollen?«, lautet die allererste Frage, und »Nein.« seine Antwort, ehe er in Erinnerungen an seine weit zurückliegende Jugendzeit abdriftet. So kommt ihm die Anekdote einer gemeinsamen Nacht mit seinen vier besten Freunden in den Sinn. Jeder soll zum Einschlafen eine Geschichte erzählen. Seine eigene erntet einen Richtung weisenden Kommentar: »Bruder, aus dir wird nochmal ein Schriftsteller. Aber du musst lernen, dich kürzer zu fassen.«
Ehe aus dem Jungen tatsächlich ein Schriftsteller wird, er gar einen Lehrauftrag für kreatives Schreiben an der Universität Jerusalem innehat, wird er Soldat, kämpft während der Intifada in Gaza gegen die Palästinenser, studiert Psychologie, arbeitet als Werbetexter, unter anderem in Diensten eines korrupten machthungrigen Emporkömmlings in der Politik – genug Stoff also für einen Literaten, so scheint es.
Doch in seinem privaten Umfeld vollzieht sich ein schleichender Prozess der Entfremdung, und der ist es, der zu seiner derzeitigen schlechten Verfassung geführt hat. Seine geliebte Ehefrau Dikla hat ihn verlassen. Tochter Shira, ältestes der drei Kinder, hat sich für eine Schulzeit in einem Internat weit weg vom Vater entschieden. Beide haben es ihm übel genommen, dass er trotz ausdrücklichen Verbots Auszüge aus ihrer beider Leben eingescannt und in seine Geschichten eingebaut hat, teils verfremdet, teils deutlich identifizierbar und jedenfalls lebenslänglich öffentlich. Nun hat sich Shira die Freiheit genommen, in einem eigenen Blog über ihre Eltern zu plaudern.
Dass sein bester Freund und Vertrauter Ari schwer erkrankt in der Uniklinik dem Tode entgegensieht, nimmt dem von seinen Liebsten Verlassenen den letzten Halt im Leben. Da er überdies mit seinem baldigen Ableben rechnet (»eine Sache der Gene« lässt einen Herzinfarkt fürchten) soll sein Roman sein letztes Werk sein.
Kaum maskiert ist dieser Ich-Erzähler ein Alter Ego des Autors, des israelischen Schriftstellers Eshkol Nevo, der 1971 in Jerusalem geboren wurde und Enkel von Israels drittem Premierminister Levi Eshkol ist (den er jedoch nie persönlich kennengelernt hat). Eine weitere Spiegelung ist in dem fiktiven skandinavischen Krimiautor Axel Wolf anzunehmen, der wiederholt auftaucht und den der Ich-Erzähler geradezu als beneidenswertes Vorbild darstellt. Seine Relation zu ihm gipfelt in einer skurrilen Begegnung in Jerusalem. Beim gemeinsamen Abendessen bricht Wolf am Tisch zusammen und berichtet unter Heulattacken, dass er tief in einer Krise stecke. Deren grundsätzliche Elemente (Schreibblockade) und Ursachen (Trennung) haben wir da so ähnlich bereits gelesen.
Die vielen Leserfragen – gefühlt mögen es wohl einhundert an der Zahl sein – sind dem Autor (Nevo? dem Ich?) nicht mehr als Stimuli. »Wie autobiografisch sind Ihre Bücher? Wie gehen Sie mit Kritik um? Warum schreiben Sie nicht über den Holocaust?« Die Reaktionen darauf sind keineswegs immer befriedigende Antworten, aber oft interessante, wunderliche oder tolldreiste Geschichten. Manche bleiben sehr nah an der Realität (der israelischen Politik, der autobiografischen Fakten), manche entspringen blanker Fantasie. So gibt es jede Menge Liebesgeschichten, die sich später als unwahr herausstellen – verzweifelte Versuche, in Dikla Eifersucht zu wecken und sie dadurch für sich zurückzugewinnen? Irgend eine zurechtgebogene Geschichte fällt dem Ich-Erzähler jedenfalls allemal ein, wie er selbst bekennt (»lüge ich schlicht und ergreifend … die Wahrheit ist … ich denke mir eine extreme, absurde Geschichte aus«), und wir Leser gewinnen Einblick in beachtliches literarisches Können.
Dem Thema Holocaust möchte er liebend gern ausweichen, doch dem kann man nicht entfliehen, schon gleich nicht als Jude: Es folgt einem unausweichlich, wie eine leicht makabre, leicht ironische Geschichte voller Symbolik illustriert. Auf einer seiner häufigen Lesereisen durch die ganze Welt dient ihm ein Überlebender des Holocaust seine umfangreichen Lebenserinnerungen an. Das Manuskriptpaket ist schwer zu tragen und will einfach nicht in den Reisekoffer passen. So lässt er die Papiere im Hotelzimmer zurück. Doch freundliche Geister senden sie zu einem späteren Ziel nach – wo sie »erneut vergessen« werden, und so fort, bis sie schließlich und endlich im heimischen Bücherschrank ruhen.
In diesem vertrackten Stückwerk entlang unzusammenhängender Fragen zwischen Wahrheit und Fiktion zu trennen (sofern einem dies wichtig erscheint), bleibt dem Leser überlassen. Man braucht schon Durchhaltevermögen, um das bisweilen krude Puzzle bis zum Ende zu lesen, denn ein durchgehender Handlungsfaden ist ebenso wenig auszumachen wie Spannungskurven. Stattdessen verwirren gern plötzliche Perspektivwechsel und Sprünge im Zeit- und Ortsgefüge. In den persönlichsten Momenten sind allerdings Zärtlichkeit und Poesie zu finden. Immer wieder wird der Erzähler, alleingelassen von Frau, Tochter und Freund, von Herzeleid gepeinigt. Dann kann er seine traurigen Gefühle nicht zurückhalten, seine Verletzungen nicht überwinden. Sein Kampf, diejenigen, die ihn verlassen haben, zurückzugewinnen, ist hoffnungslos, obwohl er ihn mit allen Raffinessen führt. So scheint es keinen Ausweg für ihn zu geben.
Am Ende des sprachlich-literarisch anspruchsvollen, autofiktional-vielschichtigen Buches, das von vielen Kritikern hochgelobt, in die Shortlist des internationalen Premio Lattes Grinzane aufgenommen und von Markus Lemke übersetzt wurde, haben wir einen komplexen Einblick in eine komplexe Persönlichkeit, in Vergangenheit und Gegenwart des Erzählers sowie seiner Heimat, des modernen Israels, gewonnen.