Rezension zu »Hätte ich dein Gesicht« von Frances Cha

Hätte ich dein Gesicht

von


Wer als junge Frau in Seouls Unterhaltungsbetrieb mitspielen will, muss sich erbarmungslosen, oft schmerzlichen Spielregeln unterwerfen. Kein Makel, keine Schwäche wird toleriert. Was als Belohnung für die vollständige Selbstaufgabe lockt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als hohle Illusion.
Belletristik · Unionsverlag · · 288 S. · ISBN 9783293005860
Sprache: de · Herkunft: us

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Richtig schön oder tschüss

Rezension vom 17.11.2022 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Über Südkorea wissen die meisten von uns nicht viel mehr zu sagen als ein paar vage Klischees. Nach dem Zweiten Weltkrieg von der nörd­lichen Hälfte des Landes getrennt, stieg der Süden rascher als andere Staaten im fernen Osten zu einer wirt­schaft­lichen Großmacht auf und brachte Konzerne und Marken hervor, die bis heute bedeu­tende global players sind. Disziplin, Fleiß und Klugheit der Bevöl­kerung gelten als Grundlage des Erfolgs. Doch der Preis einer solchen Leistungs­gesell­schaft ist hoch, der Druck, unter dem die Menschen stehen, gewaltig. Dass das Land die zweit­höchste Suizid- und die nied­rigste Gebur­tenrate der Welt hat, mag das bestä­tigen.

Der Debütroman der gebürtigen Amerika­nerin Frances Cha, die lange Jahre in Korea gear­beitet hat und heute mit ihrer Familie dort und in den USA lebt, beleuch­tet, wie sich die Entwick­lung dieser Gesell­schaft auf die Ge­schlechter­rollen ausge­wirkt haben. In der Wirt­schaft und der Arbeits­welt haben die Männer das Sagen. Sie werden bevorzugt einge­stellt, während Frauen selbst mit guter Ausbil­dung um jeden Arbeits­platz kämpfen müssen. Ihre Aufgabe ist es, den tradi­tionellen (seit jeher von Männern festge­legten) Rollen­bildern zu genügen, und dazu gehört auch, Schön­heits­standards anzu­streben (auch sie von Männern definiert). Was das bedeutet, schildert die Autorin am Beispiel von fünf Frauen aus einfachen Verhält­nissen, die dem allum­fassen­den Erwar­tungs­druck ausge­liefert sind und sich bis an die Schmerz­grenze bemühen, den auf­gezwun­genen Anforde­rungen zu genügen.

Worum es dabei konkret geht, mag man als aufge­klärte erwach­sene Nord­europäe­rin kaum für möglich halten. Der ›Wert‹ einer Korea­nerin bemisst sich offenbar zunächst einmal an nichts anderem als ober­fläch­lichsten physi­schen Ausfor­mungen ihrer Körper­partien, etwa der Geometrie des Gesichts, der Symmetrie der Augen­lider, der Position des Unter­kiefers. Da nur Perfek­tion akzep­tiert wird, muss, wenn das natür­liche Aussehen die Ideal­vorstel­lung auch nur gering­fügig verfehlt, ein Chirurg nach­helfen. Dessen Kunst­fertig­keit ist nicht nur teuer, sondern auch fehler­trächtig. Ob eine Frau sozial erfolg­reich sein darf, hängt also von ihrer Finanz­kraft und vom Zufall ab: Wer kein Geld hat, wendet sich an einen billigen Operateur, aber auch dem teuersten Arzt kann das Messer um den Bruchteil eines Milli­meters abrut­schen. Frauen, die sich dem absurden irratio­nalen Wettbe­werb verwei­gern und so bleiben, wie die Natur sie geschaf­fen hat, haben keine Chance, »im koreani­schen Sinn jemals als hübsch zu gelten«. Viele haben die in der Gesell­schaft verbrei­teten Ideal­vorstel­lungen komplett interna­lisiert, kennen in ihren Gesprä­chen mit anderen Frauen kein anderes Thema und leiden ernsthaft unter ihren ›Defekten‹.

Frances Chas Protagonistinnen heißen Ara, Kyuri, Miho, Sujin und Wonna, sie sind etwa gleichen Alters (Mitte dreißig) und mitein­ander befreun­det.

Kyuri hat, wie es scheint, das große Los gezogen. Mehrere Opera­tionen haben ihr Gesicht zur Makel­losig­keit perfek­tioniert, was sie jetzt für einen Traumjob quali­fiziert: Sie arbeitet als Animier­mädchen im ange­sehens­ten »Room-Salon« in Seouls Ver­gnügungs­viertel Gangnam, wo einfluss­reiche, wohl­habende Männer die Abende mit ihren Geschäfts­partnern verbrin­gen.

Auch Miho kann Erfolge verbuchen. Sie ist in einem Kinder­heim aufge­wachsen, später führte sie ein Kunst-Stipen­dium für einige Zeit nach New York. Zurück in Korea verkehrt sie mehr oder weniger frei­willig im Milieu der Reichen, die im »begehrten Kunst­viertel« Seouls resi­dieren. Hier liegt ihre gespon­serte Galerie, wo sich ihre Kunst­werke gut verkaufen.

Ara ist es nicht so gut ergangen. In der brutalen Ausein­ander­setzung mit einer Jungen­bande hat sie ihre Stimme verloren. Sie verdient ihren Lebens­unter­halt als Stylistin in einem Friseur­salon und teilt sich mit ihrer Schul­freundin Sujin eine winzige Wohnung gegenüber der von Kyuri. Ihr großer Traum ist, einen bestimm­ten Super-Popstar live zu erleben, womöglich backstage zu treffen.

Sujin, die die Schule abge­brochen hat, arbeitet in einem Nagel­studio. Auch sie wäre gern eine Mitspie­lerin im lukra­tiven Enter­tain­ment­betrieb, doch weil sie sich einem plasti­schen Chirurgen zweiter Wahl anver­traute, hat sie nun ein großes Problem: »Die Falte an ihrem rechten Augenlid sitzt ein klein bisschen zu weit oben.« Sie ist die bemit­leidens­werteste Figur. Nach einer neuer­lichen Operation ist ihr Gesicht ge­schwollen und muss für Monate unter einer Maske versteckt werden. Das kann sie den Job im Nagel­studio kosten. Darüber hinaus strapa­ziert sie mit ihrer ständigen Fragerei nach einer Anstel­lung im Room-Salon die Freund­schaft mit Kyuri.

Aus Kyuris Perspektive bekommen wir die vermeintlich glamou­röse Realität derer vorge­führt, die es geschafft haben, sich nach dem Ideal formen zu lassen. Sie weiß, welch hohen Preis ihre Lebens­weise fordert (»arbeitet, bis der Körper ruiniert ist«), behält das aber für sich – viel­leicht um Sujin nicht zu des­illusio­nieren. Was der als er­strebens­wertes Privileg erscheint, nämlich wohl­situier­te Männer charmant zu um­schmei­cheln und dafür gut bezahlt zu werden, ist für Kyuri längst wider­wärtiger Zwang. Ihre Kunden sind »blasierte Könige«, »feiste, ver­schwitzte Typen«, launische Wider­linge, und »Gentlemen bekomme ich überhaupt nur im Fernsehen zu Gesicht«. Nicht nur vom Wohl­wollen der Kund­schaft ist sie abhängig, sondern auch von dem der häss­lichen Madam, die den Room-Salon leitet und sie ganz nach Belieben drang­salieren oder feuern kann. So ist Kyuri zu einem Strom­linien­wesen reduziert, dem jegliche Natür­lich­keit abhanden gekommen ist – die physische hat sie sich weg­operie­ren lassen, die psychi­sche muss sie unter­drücken, um nirgendwo anzuecken.

Wonna ist als einzige der Protagonistinnen, die in der Straße mit den unzäh­ligen Bars wohnen, verhei­ratet. Sie wuchs bei ihrer Groß­mutter auf, einer bös­artigen, aggres­siven Frau, und ihr Erwach­senen­dasein ist nicht weniger problem­beladen. Zwar hat ihr Mann eine gut bezahlte Stelle, aber ihr Kinder­wunsch will sich einfach nicht erfüllen. Als sie nach drei Fehlge­burten erneut schwanger wird, geht auch sie arbeiten, um dem ersehnten Kind eine optimale Zukunft zu sichern. Ihre Chefin, eine allein­stehende Karriere­frau, hat aller­dings keiner­lei Verständ­nis – nicht für ihre Wünsche, nicht für ihre Nöte, nicht für ihre Rechte.

Die Biografien der Hauptfiguren in diesem bitteren Roman haben ein ähnliches Grund­muster. Sie kommen aus einfachen, traditions­verhafte­ten Verhält­nissen und geben nun alles für ein modernes Leben in Wohlstand, wie es in ihrer Gesell­schaft definiert wird. Sie unter­werfen sich diesen Zielen und auch den vor­gesehe­nen Wegen, sie zu erreichen, obwohl dies unwei­gerlich fatale körper­liche und seelische Beein­trächti­gungen zur Folge hat. Sie erkennen ihre Beschädi­gungen und erleben, wie ihre Träume zer­platzen wie Seifen­blasen, doch sind sie nicht imstande, sich von unrealis­tischen Idealen zu distan­zieren, ihnen einge­redete ›Makel‹ als Ausprä­gungen einer indivi­duellen Persön­lichkeit zu akzep­tieren, ihre Stärken zu erkennen und ein selbstbe­stimmtes Leben zu gestalten. Gleich­zeitig entfrem­den sie sich ihren Wurzeln, der Lebens­weise ihrer länd­lichen Heimat, den Anschau­ungen ihrer Familien.

Die Aufteilung auf mehrere Perspektiven und Ich-Erzäh­lerinnen, die sich kapitel­weise abwech­seln, zer­stückelt den Lesefluss und erschwert den Zugang zu einer ohnehin sehr fremd­artigen Kultur. Zusam­menhalt entsteht durch die Quer­bezüge in den Erzäh­lungen der Frauen, die, obwohl jede ihr eigenes Päckchen zu tragen hat, einander auf anrüh­rende Weise zur Seite stehen. Die Quellen ihres Leids sind die gleichen: eine leistungs­orien­tierte, patriar­chali­sche Gesell­schaft mit strikten Hierar­chien, die Frauen kaum Chancen zu freier Entfal­tung zuge­stehen. Gleich­zeitig fördert die systema­tische Benach­teili­gung Rivalität, Eifer­sucht und Neid zwischen den Frauen, so dass nicht einmal ihre Freund­schaf­ten unge­fährdet bleiben.


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