Rezension zu »Kleiner Versager« von Gary Shteyngart

Kleiner Versager

von


Belletristik · Rowohlt · · Gebunden · 480 S. · ISBN 9783498064327
Sprache: de · Herkunft: us

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Zum Schreien komisch. Zum Weglaufen traurig.

Rezension vom 25.03.2016 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Mit zehn Jahren tippt Gary Shteyngart einen Sainz-Fiktschn-Roman (fünfzig Seiten abseits jeder Ortho­gra­fie) in die Kugel­kopf-Schreib­maschi­ne seines Vaters. Noch keine dreizehn ist er, als er die Thora satirisch neu erfindet und (zum authen­tischen Aufrollen) auf Endlos­papier ausdruckt. Gerade mal vierzig ist er, als er seine Auto­biografie verfasst. Ein »Versager«?

Das kommt auf die Perspektive an. Seine Eltern – Antipoden der heutigen ›Heli­kopter­eltern‹ – machen von Anfang an kein Hehl daraus, was sie von ihrem ersten (und einzigen) Kind halten. Es kommt am 5. Juli 1972 im Lenin­grader Otto-Geburts­haus zur Welt, mit einem »Riesen­schädel« als »Dackel in Menschen­gestalt«, und erhält den Namen Igor. Tradi­tions­gemäß wird der Neu­gebo­rene stramm in Tücher gewickelt – zu eng für Igor. Fast stran­guliert erreicht er die elter­liche Wohnung und bedarf eines not­ärzt­lichen Haus­besuchs, um sich nicht gleich wieder zu verabschieden.

Die nächsten dreizehn Jahre hat das uner­wartet »schlecht funk­tionie­rende Lebe­wesen« mit dem asthma­ti­schen Schleim seiner Lungen zu kämpfen, wird »in eine Festung aus Kissen und Bett­decken« versenkt, von den Eltern liebe­voll, verängs­tigt, traurig, wütend und ent­täuscht versorgt. »Ach, du Rotznase«, seufzt Vater Semjon, wenn er das »kaputte Kind« in seinen Armen hält, während Mutter es guten Mutes »Sol­nyschko« (kleiner Sonnen­schein) benennt. Im Sommer ent­flieht die Familie der schäd­lichen Luft Lenin­grads zu einem Urlaub auf der Krim.

Igors Eltern streiten, dass die Fetzen fliegen. Sie sind »zu ver­schie­den für eine glück­liche Ehe«. Die Mutter ent­stammt altem »Peters­burger Bil­dungs­bürger­tum« und blickt ver­ächt­lich herab auf die schwie­rigen dörf­lichen Wurzeln des Vaters (»primi­tiv und pro­vin­ziell«), während dieser die andere Seite für »hoch­näsig und ver­logen« hält. Aber beide sind intel­ligent, kultu­rell ambi­tioniert und leis­tungs­fähig. Der Vater baut große Tele­skope in einer Fabrik, er hat eine blü­hende Fantasie und schrift­stelleri­sches Talent.

Zu seinem Söhnchen aber ist er un­nach­giebig streng. Aus dem Kind soll mal etwas werden, zum Beispiel ein Kosmo­naut, Traum­beruf aller russi­schen Jungs. Aus seinem Heimat­dorf kennt Semjon die dort seit Langem bewähr­ten dras­tischen Maß­nah­men zur Formung des Nach­wuchses. »Wenn du jeman­den dazu bringen willst, dich zu lieben, zum Beispiel ein Kind, solltest du es ordentlich ver­dreschen.« Solange Igor dem Vater nur auf die Nerven geht, kommt er mit einem harm­losen »Nacken­klatscher« davon; schlim­mer sind die »schwin­del­erre­gen­den Schläge«, die eine »un­ver­brüch­liche Verbin­dung zum Kind« her­stel­len sol­len. Nur zum Wohle des Knaben zwingt Semjon ihn, eine extra in der Woh­nung montierte Sprossen­wand empor­zu­han­geln. Das soll ihm seine un­über­wind­liche Höhen­angst aus­treiben und den Weg in den Welt­raum ebnen.

De facto erzeugt Semjon mit seinen rusti­kalen Ab­här­tungs­metho­den eine Fülle neuer Ängste. Angst vorm Absturz, Angst, der Vater werde ihm noch mehr zusetzen, ihn er­schrecken, von der Spros­sen­wand schub­sen. Angst, der Vater könne ihn beim Ver­steck­spiel nicht finden, sei gar nicht ehrlich besorgt, wenn er jammert: »Ich habe meinen Sohn verloren!« Angst vorm Ein- und Aus­atmen. Nichts wird ihm geschenkt. Nach dem Ver­steck­spiel unter der alles über­ragen­den Lenin-Statue auf dem Mos­kauer Platz hat sich das fragile Kind erkältet, heftige Asthma­attacken und die schmerz­hafte Therapie mit feuer­heißen Schröpf­glä­sern mal­trä­tie­ren ihn.

Igors Mutter wendet subtilere Strate­gien an. Sie ist eine »Exper­tin für die Schweige­bestra­fung« und kann das Söhn­chen tage­lang igno­rieren. Sein Schreien und Flehen be­ein­dru­cken sie nicht. Die verzwei­felte An­dro­hung »Wenn du nicht mehr mit mir sprichst, will ich nicht mehr leben« ist ihr nichts als Stoff für thea­tra­lisches Nach­spielen der Episode zwecks Be­lusti­gung der Kaffee­runde.

Nicht nur Igors Psyche und schwäch­licher Körper leiden unter diesen Be­din­gun­gen, sondern auch seine Soziali­sierung. Erst mit fünf Jahren schließt er eine Freund­schaft. Wla­di­mir, Schwim­mer und Schlitt­schuh­läufer, ist Bol­sche­wik und verehrt Lenin.

Mit fünf beschließt Igor, Schrift­steller zu werden, und seine Groß­mutter Galja, Jour­nalis­tin bei der Lenin­grader Abend­zeitung, er­mun­tert und unter­stützt ihn auf kind­gerechte, fan­tasie­volle Art. Eine abge­drehte kleine Geschichte über »Lenin und seine magische Gans« (nach Nils-Hol­gers­son-Motiven) ist sein erstes Produkt, und es ist noch nach vielen Jahren vorlesbar.

Zwei Jahre später emigrieren die Shteyn­garts mit den Groß­eltern väter­licher­seits nach Amerika. Dort ge­nießen sie Freiheit, Fort­schritt und Asthma­spray, aber sie bleiben vor­erst arm, iso­liert und als »Kom­munis­ten« unwill­kommen. Obwohl aus Igor (»so heißt Fran­ken­steins Gehilfe«) jetzt Gary (wie Filmstar Cooper) wird, erwartet ihn auch hier kein Zucker­schlecken. Wegen unzu­reichen­der Sprach­kennt­nisse wird er in der jüdischen Tages­schule zurück­gestuft, als »vermale­deite Rote Renn­maus, ein Kommi« verlacht. Um in seiner Außen­seiter­rolle zu über­leben, kultiviert er mit der Zeit seine Liebe zum »Witzigen«, wählt den »Humor« und das Schreiben als Zu­fluchts­orte. Seine erste englische Geschichte handelt von Flyboy, einem Weltraum-Kampf­piloten mit eigen­williger Aus­sprache, sie heißt »Die Prüfunk« [sic!] und trieft vor Hass auf sich selbst und auf alle Menschen, die auf ihn ein­schlagen. Auf einer Frühform von Com­puter­tas­tatur schreibt er seine eigene Thora, nennt sie »Gnorah«, ver­schmilzt als Person mit seiner aus­ufern­den Sa­tire und erntet als »Gary Gnu der Dritte« toben­des Ge­läch­ter und endlich etwas posi­tive Auf­merk­sam­keit. Zwar wird der Jung­autor noch lange nicht geliebt, so wie er es sich ersehnt, doch immer­hin avanciert er vom »nicht ge­sell­schafts­fähi­gen Spinner zum ge­dulde­ten Ex­zent­riker«.

Bei seinen Eltern kann er auf diesem Weg natürlich keinen Blumen­topf gewinnen. Für sie bleibt er »ein grotten­schlech­ter Schüler«, der sich seine Zukunft versaut. In einem Misch­masch aus Englisch und Rus­sisch nennt die hart­herzi­ge Mutter ihren Sohn »failurtschka«, kleiner Versager. Bis Gary die Schmähung adelt, indem er seinen sar­kas­tischen auto­bio­grafi­schen Roman damit betitelt (»Little Failure. A Memoir« Gary Shteyngart: »Little Failure. A Memoir« bei Amazon , übersetzt von Mayela Gerhardt) und diesen seinen Schmähern widmet, müssen weitere leid­volle Jahre ver­gehen. Zwölf davon sind von psycho­analy­tischer Behand­lung begleitet. Sie gibt ihm Rückhalt, trotz seiner Eltern zu wachsen, hält ihn davon ab, sich Selbst­mord­ge­danken zu ergeben, und setzt ihn am Ende in die Lage, den Satz über seine Lippen zu bringen, den ihm der Psy­chia­ter als Gegen­gift gegen alle herab­setzen­den An­fein­dun­gen der Eltern ein­ge­trich­tert hat: »Ich bin kein schlechter Sohn.«

Im Juni 2011 reist Gary mit seinen Eltern nach Russland, um die Orte ihres früheren Lebens zu besuchen, darunter Semjons Heimat­dorf. Dort enthüllt der Vater endlich ein dunkles Kapitel seiner Ver­gan­gen­heit. Der mitt­ler­weile in der Psycho­analyse erfah­rene Sohn kann danach manches »ver­stehen«, nicht aber ver­zeihen oder lieben. Immer­hin versöh­nen sich Vater und Sohn, begeg­nen einander auf Augen­höhe. Gary kann seine Ver­gangen­heit zu­sam­men­falten, nach vorne blicken, und »die zweite Hälfte meines Lebens be­ginnt«.

Zur ersten Hälfte hat Gary Shteyngart inzwischen hin­reichen­de Distanz gefunden, um sie auf unter­halt­same, un­ver­krampfte Weise zu erzählen. Er plaudert im Prinzip chrono­logisch voran, aber Zukünf­tiges und Ver­gan­genes lassen sich nicht bändigen. Erleb­nisse und Erinne­rungen sprudeln reich­haltig, und er gar­niert sie mit scharfen Be­obach­tungen, intelli­genten Re­flexio­nen sowie mit Bemer­kungen, die das ganze Spek­trum zwischen Witz, Ironie, Sarkasmus, Zynis­mus und tieferer Be­deutung aus­schöpfen. Jede Menge Sei­tenhiebe erhalten die Politik und die jüdische, ameri­kanische und russi­sche Kultur, wie sie der Familie auf den Stationen ihres Lebens­wegs von Lenin­grad über Berlin-Schöne­feld, Wien, Rom, New York und die ameri­kanische Provinz begegnen. Sich selbst nimmt der Autor ver­ständ­nis­voll, mit viel Ironie, aber zum Glück nie­mals larmoyant aufs Korn. Eine wichtige Rolle über­nehmen die vielen Schwarz-Weiß-Fotos direkt aus dem Fami­lien­album. Den meisten haftet eine eigen­artig melan­choli­sche Aura an, die durch die iro­nisch-witzi­gen Bild­unter­schrif­ten eher noch verstärkt wird.

Ein »Versager«? Keine Spur.


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