Rezension zu »Die letzten Entdecker« von Naomi J. Williams

Die letzten Entdecker

von


Historischer Roman · Dumont · · Gebunden · 496 S. · ISBN 9783832197704
Sprache: de · Herkunft: us

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Bei Amazon kaufen

Weltreisende mit offenen Augen und Ohren

Rezension vom 26.03.2016 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Als der erfahrene französische Kapitän Jean-François de Galaup de La­pé­rouse 1785 in See stach, hatte er ein paar Jahr­zehnte Ver­spätung. Frank­reich war auf den Meeren der Welt ins Hinter­treffen geraten. Ob die Briten nun schneller, drauf­gänge­rischer oder ge­schick­ter organi­siert waren, sie hatten seit über zwei­hun­dert Jahren den Union Jack rund um den Globus auf jedem Strand gehisst, an dem eines ihrer Schiffe ange­landet war. Kauf­leute hatten Handels­statio­nen gegründet, Wissen­schaftler den Ort ver­messen, das Terrain sondiert, Flora und Fauna be­schrie­ben und ge­zeichnet. Auch Portu­giesen, Spanier und Nieder­länder waren längst global unter­wegs.

Dennoch gibt der französische König Ludwig XVI. La­pé­rouse den kost­spieli­gen Auftrag, mit zwei hoch­modern aus­ge­statte­ten und hoch­quali­fiziert besetz­ten Schiffen, der Bous­sole und der Astro­labe, den Pazifik in der nörd­lichen und süd­lichen Hemi­sphäre zu erkunden. Ein am­bitio­nier­tes, mehr­jähriges Unter­nehmen, das Frank­reich Prestige und einen größeren Happen der welt­weiten Handels­möglich­keiten ver­schaf­fen soll.

Doch welchen Ruhm gibt es noch zu erringen, wo die Ozeane längst von lukra­tiven Handels­routen durch­zogen, alle bekannten Inseln in Besitz genom­men und verwaltet, Häfen und Un­tiefen auf den Seekarten verzeich­net sind? Es gibt kaum einen Bereich zwischen Nord- und Südpol, dem Bau raffi­nierter Navi­ga­tions­instru­mente und medizi­nischem Wissen (etwa um Skorbut), in dem nicht Briten als Weg­bereiter und Ex­perten gelten. Über allen thront James Cook, der in den vergan­genen zwei Jahr­zehnten drei ungemein ertrag­reiche Welt­reisen unter­nom­men hatte und bei seiner letzten zu Tode gekom­men war. Das ist erst sechs Jahre her. Eine Marmor­büste des Uner­reich­baren steht auf dem Schreib­tisch in La­pé­rouse' Kajüte.

Daneben begleitet den Kommandanten noch eine zweite pro­gramma­tische Büste. Jean-Jacques Rousseau (sieben Jahre zuvor ver­stor­ben) steht für die aufge­klärte, ratio­nale Haltung, mit der die Fran­zosen der pazi­fischen Welt zu begegnen beab­sichti­gen, als Rei­sende mit offenen Augen und Ohren. Krämer­klein­geist, Unter­jochung, Aus­beu­tung, Missio­nierung und In­tole­ranz sollen ein Ende haben.

Aber alle sind sich darüber im Klaren, dass für den Igel keine Sensa­tionen mehr zu holen sind, wenn er dem Hasen hinter­her­segelt. Viel­leicht findet man irgend­wo in den Weiten noch ein bislang über­sehenes Eiland, einen Küsten­strich, der Frank­reich einmal zu irgend etwas nütze sein kann. Aber wahr­schein­lich wird es bei kleinen Ehren bleiben. See­leute werden es zu schätzen wissen, wenn auf ihren Karten die eine oder andere Geister­insel, die nie mehr war als eine Nebel­bank im Tele­skop, getilgt und die irre­füh­rend fehler­hafte Position einer Bucht oder eines Riffs endlich korri­giert wird. In aka­demi­schen Kreisen wird gewür­digt werden, was für neue Tiere, Pflanzen, Minerale die ehr­geizi­gen Wis­sen­schaft­ler an fernen Ge­staden auf­spüren.

Uns stellt sich die (ketzerische) Frage: Trägt das alles als Roman­stoff? Was den Ertrag seiner weiten Rei­sen betrifft, bleibt La­pé­rouse ewiger Zweiter. Selbst das La­pé­rouse-Museum in seiner Heimat­stadt Albi umfasst nur zwei (unbe­dingt sehens­werte!) Räume. Und steht nicht auch das litera­rische Sujet im Schatten briti­scher Vor­reiter? Gelun­gene histo­rische Romane vor kolo­nia­lem Hinter­grund an exo­tischen Schau­plät­zen gibt es zuhauf (z.B. David Mitchells »Die tausend Herbste des Jacob de Zoet«, um nur einen einzigen – und in vieler­lei Hinsicht ver­gleich­baren – zu nennen). In puncto Drei­mast-Aben­teuern auf den Welt­meeren hat Patrick O'Brian (1914-2000) eine groß­artige Roman­serie um den pflicht­be­wusst-konser­vativen Kapitän Jack Aubrey und seinen libe­ralen Freund, den Schiffs­arzt Stephen Maturin verfasst, die mit histo­rischem und nauti­schem Fach­wissen und feiner Charak­ter­zeich­nung glänzt (Ver­fil­mung von Russell Crowe: »Master & Com­man­der – Bis ans Ende der Welt«).

Naomi J. Williams überrascht gleich in ihrem Debüt­roman (»Landfalls« Naomi J. Williams: »Landfalls« bei Amazon ) mit einem gänzlich anderen Zugang. In vier­zehn Kapiteln, einem Prolog und einem Epilog gestaltet sie aus den unter­schied­lichs­ten Per­spek­tiven Epi­soden, die sich vor der Abreise in London, in Welt­gegen­den zwischen Sibi­rien und Kali­fornien und – zwanzig Jahre nach La­pé­rouse' Tod – daheim in Albi zuge­tragen haben könnten. Offi­ziere und Mann­schafts­grade, Priester, Fami­lien­ange­hörige, Einge­borene und Kolo­nial­be­amte erzählen, schreiben offi­zielle und private Briefe, re­flek­tieren, tragen ins Logbuch ein. Wir lesen aus­führ­liche Kon­ver­satio­nen, Tisch­gesprä­che mit feinen Damen, Er­örte­run­gen in der Offi­ziers­messe, Ver­hand­lun­gen mit Gou­ver­neu­ren, spani­schen Mönchen, rus­si­schen Sol­daten und Bauern. Wir lesen von bis zur Selbst­auf­gabe Pflicht­be­wuss­ten, von Tapferen, Ehr­geiz­lingen, Auf­rechten, Sauf­bolden, Idea­listen und Ver­bohr­ten. Wir lesen detaillierte Be­richte von hin­der­nis­reichen Über­land­reisen, Festi­vitäten, Ritualen. Wir lesen an­schau­liche Be­schrei­bungen von Unter­künf­ten, Kleidung, Mahl­zeiten. Wir lesen von Er­wartun­gen, Erfolgen, Frustra­tionen, Opti­mis­mus, Skepsis und folgen­reichen Fehlern.

Was wir selten oder gar nicht lesen (und ich lange ver­misst habe), sind Szenen aus dem Alltag auf hoher See, von lebens­be­droh­lichen Stürmen, von kämpfe­rischen Aus­ein­ander­setzun­gen, aus La­pé­rouse' beweg­tem Vor­leben (u.a. im Indi­schen Ozean, im Ameri­kani­schen Unab­hängig­keits­krieg) oder über­haupt Dra­ma­tisches. So etwas, wie auch das katastro­phale Ende der Expe­dition im Jahr 1788, als Bous­sole und Astro­labe unter bis heute nicht voll­ständig geklärten Um­stän­den mit Mann und Maus spurlos ver­schwan­den, erscheint nur indirekt, als Rand­notiz, in der Rück­schau.

Die Kunst der Aussparung des Selbst­ver­ständ­lichen? Mehr als das. Verglichen mit O'Brian fehlen Salz­wasser-Aben­teuer, verglichen mit Joseph Conrad fehlen Span­nungs­bögen und wuch­tige Tragik. Wer auf diese Elemente und selbst auf eine kon­sistente Plot-Linie ver­zich­ten kann, wird einen multi­per­spekti­vi­schen, multi­stilis­tischen, multi­episo­dischen Ge­sell­schafts­roman genießen, der gele­gent­lich auf Schiffs­plan­ken spielt. Am Ende setzen sich aus den un­end­lich vielen Mosaik­stein­chen zahl­reiche wunder­bare, diffe­ren­zier­te Cha­rak­ter­bilder zu­sam­men, wobei die er­staun­lichen Porträts von Rand­figuren tradi­tionel­ler Ge­schichts­for­schung – die Ehe­frau eines Gou­ver­neurs in Chile, ein Inuit-Mädchen in Alaska, die Ehe­frau eines fran­zösi­schen Schiff­brüchi­gen auf den Salo­monen – am nach­hal­tigs­ten be­ein­drucken. Vor allem hier erweist Naomi J. Williams bereits in ihrem Debüt­roman über­zeugen­de Qualität und ge­stal­te­rische Origi­na­lität. Interessant auch, dass über all die Unter­haltun­gen und Zweit- und Dritt­hand-Berichte das Wesen einer sol­chen welt­um­spannen­den Ent­deckungs­reise, ihre Unwäg­bar­keiten und Ge­fahren, ihr Tragik-, Ent­täu­schungs- und Glücks­poten­zial sehr intensiv zu erspüren sind, ohne dass derlei jemals sze­nisch aus­ge­breitet wird.

Bleibt lobend zu erwähnen, dass der Ab­fas­sung dieses origi­nellen Romans gewal­tige Re­cher­chen voraus­ge­gan­gen sind. Selbst in dieser Hin­sicht um­schifft die Autorin aller­dings allzu nahe Lie­gen­des: Hinsicht­lich Segel­kunde, Nautik, Natur­kunde, Geo­logie erfah­ren wir nur Ober­fläch­liches. Umso sach­kundi­ger schreibt sie über winter­liche Lebens­be­dingun­gen in Sibi­rien, die Tricks der Porträt­maler, über Kupfer­stich­faksimiles und bio­grafi­sche Details ihrer (his­tori­schen) Figuren. Den Groß­teil ihres Buches gestal­tet Naomi J. Williams freilich aus ihrer reichen, dis­zipli­nier­ten Fantasie.

Ein intelligent konzipiertes, psychologisch fein­sinniges, elegant formu­liertes (von Monika Köpfer aus­ge­zeich­net über­setzt), leicht zu unter­schätzen­des Erstlings­werk, das leider Gefahr läuft, die­jenigen, die durch Thema und Titel ange­lockt werden, zu ent­täuschen, und die­jenigen, die es be­geis­tern könnte, durch Titel und Thema ab­zu­schrecken.


War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Die letzten Entdecker« von Naomi J. Williams
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon


Kommentare

Zu »Die letzten Entdecker« von Naomi J. Williams wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top