Rezension zu »Gehe hin, stelle einen Wächter« von Harper Lee

Gehe hin, stelle einen Wächter

von


Belletristik · DVA · · 320 S. · ISBN 9783421047199
Sprache: de · Herkunft: us

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe Taschenbuch E-Book Hörbuch CD

Das Gewissen: eine Insel

Rezension vom 28.10.2015 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Jean Louise Finch, 26, hat wie jedes Jahr Sehn­sucht nach ihrer Heimat. Deswegen reist sie aus dem mon­dänen, aufge­klärten New York, wo sie lebt und arbeitet, nach Maycomb, der Klein­stadt in Ala­bama, wo sie geboren wurde und auf­wuchs. Zwei Wochen später ist das hero­ische Bild, das sie von ihrem Vater gehegt hatte, in Trüm­mern und sie selbst zur Er­wach­senen gereift.

Jean Louise hat stets respektvoll und bewundernd zu Atticus Finch auf­ge­schaut – ein renom­mierter An­walt, aufge­schlos­sener Gentle­man und die »mäch­tigste moralische Kraft in ihrem Leben«. Jetzt, mit 72 Jahren, ist er aller­dings von Arthritis geplagt und auf Hilfe ange­wiesen. Statt des schwarzen Haus­mädchens Calpurnia, die Jean Louise und ihren kürzlich verstor­benen Bruder Jem nach dem frühen Tod der Mutter liebevoll aufge­zogen hatte und inzwischen selbst aus Alters­gründen in den Kreis ihrer Familie zurück­ge­kehrt ist, führt jetzt die resolute Tante Alexandra das Regiment, haupt­säch­lich darauf bedacht, dass das Ansehen der feinen Familie keinen Schaden nimmt. Da sind Konflikte mit der frei­sinni­gen Jean Louise, die sich um Ver­haltens­kodizes nicht schert, vor­pro­gram­miert.

Auch dem liebens­würdigen Onkel Jack fällt auf, wie sehr sich seine Nichte im Norden verändert hat. Selbst ein unkon­ventio­neller Lebens­künstler, hat er aber immer ein offenes, vertrauens­volles Ohr für sie.

Schon am Bahnhof traf Jean Louise ihren alten Schul­freund Hank wieder. Atticus hatte sich des begab­ten Jungen aus zer­rütte­ten Verhält­nissen früh ange­nommen. Jetzt ist er 31 und bereit, den Platz seines Zieh­vaters in dessen Kanzlei einzu­nehmen. Dann wäre er auch ge­sell­schaft­lich quali­fiziert, seine Jugend­liebe Jean Louise (damals »Scout« genannt) zu heiraten und eine Familie zu gründen. Obwohl Jean Louise seine Zunei­gung erwidert (sie ist »fast in ihn verliebt«) und sich ein Leben im unver­fälscht geblie­benen May­comb gut vorstellen kann, will sie sich noch nicht fest­legen. Sie hat das inner­familäre Gebot »Liebe, wen du willst, aber heirate deines­gleichen« verinner­licht und fürchtet, womög­lich könnte eines Tages nach der Hochzeit »der Mann auftauchen, den sie von vorn­herein hätte heiraten sollen«.

In der Schlüsselszene des Romans hockt Jean Louise wie früher auf ihrem Stamm­platz auf dem Balkon des Gerichts­saals. Unten leitet Atticus Finch eine Bürger­ver­samm­lung. Neben ihm sitzt ihr Verlobter Hank, und beide hören dem fremden Gast­redner zu, wie er sich für die »Wahrung der Lebens­weise der Süd­staa­ten« ereifert. Die Wort­fetzen, die zu ihr herauf dringen, quälen sie wie Messer­stiche: »Weder von irgend­welchen Niggern noch vom Obersten Bundes­gericht oder sonst wem« werde sich der Mann »sagen lassen, was er zu tun habe ... Rasse so stroh­dumm ... grund­legende Minder­wertig­keit ... unge­waschen und stin­kend ... eure Töchter heiraten ... die Rasse bastar­disie­ren ...«. Um »den Süden (zu) retten«, wolle er – unter Be­ru­fung auf Gottes Willen – dafür sorgen, dass »die Rassen getrennt bleiben«.

Wie geht dies mit der Szene an gleicher Stelle aus ihrer Jugend zu­sam­men, an die sie sich nun erinnert? Ihr Vater hatte mutig die Vertei­di­gung eines schwarzen Jungen über­nommen, der der Ver­gewal­tigung eines vier­zehn­jährigen weißen Mädchens ange­klagt war. Unge­achtet der Vor­verur­tei­lung in der Öffent­lich­keit war Atticus Finch von seiner Unschuld über­zeugt – und erwirkte am Ende einen Frei­spruch.

Und nun erlebt sie, wie der furchtlose, gütige, gerechte Anwalt, der seinen Kindern das Rüst­zeug für ein men­schen­freund­liches, welt­offenes Leben mit­gege­geben hat, neben einem grölen­den Rassisten ausharrt, ohne ihm die Stirn zu bieten. Im Gegen­teil: Atticus Finch spricht sich selbst für die Beibe­haltung der Se­gre­gation aus. Von seiner Tochter zur Rede gestellt, begründet er seine Haltung mit der Sorge, dass die in Washing­ton propa­gierte staats­bürger­liche Gleich­stellung der Schwarzen den Nieder­gang des Südens ein­leiten werde. »Willst du scharen­weise Neger in unseren Schulen und Theatern? Willst du sie in unserer Welt?«

Für Jean Louise fällt eine Fassade, zerbricht eine Ikone. Sie muss sich einer neuen, häss­lichen Realität stellen – der Broschüre »Die schwarze Pest« auf Vaters Zei­tungs­stapel, seiner Vorstands­position im Bür­ger­rat, seiner Sym­pathie für den Ku-Klux-Klan – und ihrer eigenen Blind­heit.

Zutiefst enttäuscht erklärt Jean Louise ihren Vater inner­lich für »tot«, geht ihm aus dem Wege, will sich wieder nach New York ab­setzen. Erst im Verlauf vieler Gespräche, ins­beson­dere mit Onkel Jack, begreift sie, was gesche­hen ist. »Die Insel eines jeden Menschen, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Ge­wissen. So etwas wie ein kollek­tives Gewissen gibt es nicht«, hält Jack ihr vor Augen. Je mehr sie ihren Vater ideali­sierte und über­höhte, desto mehr gab sie von ihrer eige­nen kriti­schen Ge­wissens­instanz auf, de­finierte durch sein Vorbild sich selbst – sein Gewissen wurde ihr Gewissen, und sie bezog daraus ihre ei­gene mora­lische Sicher­heit.

Jetzt erkennt sie, dass sie »farben­blind« war, indem sie nur das Gute, die Huma­nität in ihrem Vater (und in sich) wahr­zuneh­men bereit war und seine (ihre) Fehl­bar­keit gar nicht ins Kalkül zog. Der »Seh­fehler« schützte auch ihre eigene Integri­tät. Aus dieser Falle konnte sie sich nicht selbst befreien; erst das scho­ckie­rende Erlebnis im Gerichts­saal öffnete ihre Augen für die verbor­genen Wahr­heiten, um den Preis, dass auch ihr allzu hoch­mütiges Selbst­bild ins Wanken geriet. »Du muss­test dich selber ab­stoßen, oder er musste dich weg­stoßen, damit du als eigen­ständiges Wesen funk­tionie­ren konntest.«

Als übler Rassist, wie seine zornige Tochter es ihm an den Kopf wirft, will sich Atticus Finch nicht be­schimp­fen lassen. Er vertritt die Ansicht des Gründer­vaters Thomas Jeffer­son, dass Staats­bürger­rechte ver­dient werden müssen, nicht »leicht­fertig vergeben« werden dürfen, wie es jetzt unter dem Druck der NAACP für die schwarze Bevöl­kerung der Süd­staaten durch­gesetzt wird. Diese aber, »als Volk noch in den Kinder­schuhen«, »rück­ständig« und wirt­schaft­lich wie poli­tisch ahnungs­los, sei nicht reif für das kost­bare »Privi­leg« etwa des Wahl­rechts, geschweige denn für verant­wortungs­volles Regie­ren im Interesse des Ganzen (»Wir [Weißen] sind nämlich in der Unter­zahl.«). Wenn Atticus fürchtet, dass zum Bei­spiel das schuli­sche Niveau gesenkt werde, »um es den Neger­kin­dern anzu­passen«, so gibt er gewiss den Zukunfts­ängsten der großen Mehrheit ›anstän­diger‹ weißer Ameri­kaner sei­ner Zeit Ausdruck.

Der Roman endet versöhnlich. Jean Louise kann mit Atticus Frieden schließen, sich ab­nabeln, mit sich ins Reine kommen, erwachsen werden.

Die amerikanische Schrift­stelle­rin Harper Lee aus Monroe­ville, Alabama, (wo im Nach­bar­haus Truman Capote aufwuchs, zwei Jahre älter und ein lebens­langer enger Freund) wurde 1960 schlag­artig welt­be­rühmt, als ihr Roman »To Kill a Mocking­bird« (biblio­grafische Über­sicht am Ende) erschien, 1962 mit Gregory Peck als Atticus Finch groß­artig verfilmt und seit­her in über 40 Millio­nen Exemplaren verkauft. Ähnlich ihrem Kollegen Jerome D. Salinger (»The Catcher in the Rye«, 1951; »Der Fänger im Roggen«) zog sie sich aus der Öffent­lich­keit zurück, gab keine Inter­views mehr, bekun­dete, kein zweites Buch schrei­ben zu wollen.

Kein Wunder also, dass bereits die Ankün­digung eines neuen Romans riesiges Aufsehen und Speku­latio­nen hervor­rief. Ihrem Vorsatz, nichts Neues zu ver­öffent­lichen, ist die Auto­rin nicht wirklich untreu ge­worden, denn »Go Set A Watch­man« – der Titel ist ein Bibel­zitat (Jesaja 21:6) – war bereits 1957 fertig, also vor ihrem Debüt-Meister­werk. Genau­genom­men ist es dessen erste Version. Die tüchtige Lektorin des Verlags­hauses Harper & Brothers erkannte das heraus­ragende erzäh­leri­sche Talent der jungen Schrift­stel­le­rin (Präzi­sion, Empfind­samkeit und Un­mittel­barkeit des Stils, die frische Leich­tig­keit des iro­nisch ge­färb­ten Tons), riet ihr aber zu einigen Ände­rungen: Rück­verset­zung aus der Gegen­wart der Fünf­ziger in die Dreißi­ger­jahre, Ich-Perspek­tive der burschi­kosen, quirligen, klugen Göre »Scout« statt des reifen Er­zäh­lers in der 3. Person, stärkere Akzentu­ierung der Gerichts­verhandlung um den unschuldig angeklagten Schwarzen (den die Geschwo­renen trotz Atticus Finchs Einsatz jetzt schuldig sprechen), ungebro­chene He­roi­sierung des Vaters als auf­rechter Kämpfer für Gerech­tigkeit. Mit diesen substan­tiellen Modifi­kationen verlor der Roman zwar an Diffe­renziert­heit der (manchmal etwas dozierend vorge­stellten) Posi­tionen, ge­wann aber an Klarheit, Aus­drucks­kraft und Akzep­tanz, denn er traf den Zeitgeist besser und bot eingängi­gere, erbau­lichere Identi­fikation mit dem grund­anständigen, unbe­irr­baren Anwalt des guten neuen Ameri­kas der Kennedy-Jahre (wobei der zwie­spälti­gere weiße Patriot Atticus Finch I. gewiss die realitäts­nähere Variante war). So erschuf Harper Lee, über zwei Jahre hinweg von ihrer Lektorin begleitet, einen Klassiker der Welt­litera­tur, der seit seiner Ver­öffent­lichung zum Lese­kanon nicht nur ame­rikani­scher Bildungs­insti­tu­tionen gehört.

Wozu aber wurde nun – nach einem halben Jahr­hundert – die ›Vor­stufe‹ des Meister­werks ver­öffent­licht? Der welt­weite Orga­nisa­tions- und Publi­city­auf­wand (das Original erschien im Sommer 2015 fast gleich­zeitig mit vielen Über­setzun­gen) ging mit einiger Geheim­nis­tuerei und Speku­latio­nen um die Auf­findung des Manu­skripts, um die Absichten (oder Geld­sorgen?) der neun­und­achtzig­jährigen Autorin in Monroe­ville, um die Machen­schaften ihrer Anwäl­tin einher. Welche Motive auch immer da­hinter stecken: Die Lektüre lohnt sich, egal ob man die wunder­voll erzählte Geschichte in ihrer eigen­ständigen Quali­tät genie­ßen oder zusätz­lich über die Akzent­ver­schie­bungen zum ›offi­ziellen‹ Debüt reflek­tieren möchte.

Ausgaben:

• »Go Set A Watchman« Harper Lee: »Go Set A Watchman« bei Amazon;
• »Gehe hin, stelle einen Wächter« (Übersetzung von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel) Harper Lee: »Gehe hin, stelle einen Wächter« bei Amazon ;

• »To Kill a Mockingbird« Harper Lee: »To Kill a Mockingbird« bei Amazon (auch als Schul­aus­gaben mit Vokabel­hilfen er­hält­lich, z.B. von Diester­weg Harper Lee: »To Kill a Mockingbird« bei Amazon );
• »To Kill a Mockingbird & Go Set A Watchman« (Doppelausgabe) Harper Lee: »To Kill a Mockingbird / Go Set A Watchman« bei Amazon
• »Wer die Nachtigall stört« (in neuer Übersetzung, Juli 2015) Harper Lee: »Wer die Nachtigall stört« bei Amazon .


War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Gehe hin, stelle einen Wächter« von Harper Lee
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe Taschenbuch E-Book Hörbuch CD


Kommentare

Zu »Gehe hin, stelle einen Wächter« von Harper Lee wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top