Freundschaft und Vergeltung
von Helmut Krausser
Was der junge Anthony Brewer 1965 in seinem englischen Internat erlebte, hielt ihn sein Leben lang im Bann. Sein Zimmergenosse Chris, ein skrupelloser Anführer und Manipulator, dominierte dort das gesamte Geschehen. Die ungelösten Geheimnisse um sein spurloses Verschwinden werden fünfzig Jahre später zu Anthonys Obsession.
Schillernde Wahrheiten
Helmut Krausser ist ein Multitalent. Der 1964 geborene Wahl-Berliner hat sich als Schriftsteller, Dichter, Bühnenautor, Komponist und Schachspieler einen Namen gemacht. Doch trotz seiner zahllosen Veröffentlichungen, drei Romanverfilmungen und Übersetzungen in viele Sprachen ist er dem großen Publikum noch unbekannt geblieben. Das sollte sich ändern.
»Freundschaft und Vergeltung«, sein neuester Roman, ist beste und anspruchsvolle Unterhaltung. Der Berlin Verlag preist ihn als Spannungsroman an, ist jedoch weit mehr als das. Er behandelt Themen wie coming of age, Internatsleben, Sinnerfüllung im Alter, Musik im Wandel der Zeit. Seine Handlung trägt sich 1965 und 2015 in Großbritannien zu, spielt also mit unterschiedlichen Raum-, Zeit- und Kulturmilieus.
Erzählt wird uns die ganze Geschichte von Anthony Brewer, einem 67-jährigen Anwalt im Ruhestand. Ende 1965 sollte er als Siebzehnjähriger seinen Schulabschluss in einem Internat ablegen und zog dazu in Raven Hall ein, einem südenglischen Institut, dessen Renommee mit den Jahren so zerbröselt war wie das schlossähnliche Gebäude. Das kurze biografische Intermezzo prägte Anthony für sein ganzes Leben. Denn am Weihnachtswochenende jenes Jahres verschwanden dort vier Menschen, und niemals konnte aufgeklärt werden, was mit ihnen geschehen war.
Anthony studierte Jura, gründete eine Familie, wurde ein erfolgreicher Anwalt. Während eines Urlaubs im Jahr 1985 suchte er noch lebende Beteiligte des Raven-Hall-Zwischenfalls auf und hielt ihre Darstellungen auf Tonband fest. Erst weitere dreißig Jahre später stellte er sich als Pensionär der Aufgabe, nun konsequent nach der Wahrheit zu suchen. Die Reise, auf die er sich begab, warf auch auf seine eigene Vergangenheit ein neues Licht.
Im Mittelpunkt des erzählerischen Interesses stehen zunächst die Charaktere der Schüler, der Lehrerschaft, der Dienstboten und ihre komplexen Beziehungen zueinander. All dies gestaltet der Autor mit Akribie und stilsicherer Sprache aus der Perspektive seines Protagonisten. Sie wird ergänzt durch schriftlich oder auf Tonband registrierte Aussagen, Beobachtungen und Deutungen anderer Beteiligter. Die Erzähltechnik lässt also hoffen, dass sich beim Lesen ein klares Bild ergeben möge. Doch weit gefehlt – der Autor hat anderes mit uns vor.
Die Schlüsselfigur lernen wir schon auf den ersten Seiten kennen, wie auch Anthony gleich bei der Eisenbahnfahrt zum Internat mit Christian Bradshaw, 18, konfrontiert wird. Dessen Auftreten fasziniert und verstört alle mitreisenden Internatsnovizen, und jeder ahnt, dass »Chris« bald alle Zügel in der Hand halten wird. Anthony ist hin und her gerissen zwischen Fassungslosigkeit, Bewunderung, Staunen, Respekt, Verachtung, Hass – und Ängsten, denn ausgerechnet mit diesem Jungen wird er seine Stube teilen müssen.
Von Anfang an reklamiert Chris eine elitäre Sonderstellung. Sein Vater, verkündet er großspurig, habe Raven Hall mit einer großzügigen Spende aus finanzieller Schieflage gerettet. Um Vorschriften und Konventionen schert er sich nicht, sondern macht seine eigenen Regeln. Schon im Zug zückt er provokant einen Flachmann, und für die Lehrerschaft hat er keinerlei Respekt übrig.
Als Blender und Manipulator ist Chris ein Naturtalent. Mit sicherem Gespür für die Wirkung seiner Worte und Taten steuert er die Befindlichkeit der anderen nach Belieben, kann Eindruck machen, Neid anstacheln, überrumpeln, erniedrigen, dreiste Lügen als Wahrheiten verkaufen, andere gegeneinander ausspielen und lässt in allem seiner Willkür freien Lauf.
Eine bedeutende Rolle spielt bei dieser Altersgruppe alles, was mit Erotik zu tun hat. Chris’ plastische Schilderungen seiner einschlägigen Erfahrungen fesseln jeden Zuhörer, und in seinen Beleidigungen sind es häufig die sexuellen Untertöne, die die hilflosen Opfer am tiefsten verletzen.
So sehr sich Chris daneben benimmt, über jede Regel hinwegsetzt und jeden Anstand vermissen lässt, stehen seine Anhänger loyal zu ihm. Auch Anthony empfindet tiefe Abneigung, kann sich aber ebenso wenig wie die anderen der Aura und den Manipulationen des Zimmergenossen entziehen, zumal es ihm ja auch Vorteile verschaffen könnte, als Chris’ Freund angesehen zu werden.
Es sind freilich nicht nur diabolische Züge, die Chris’ Wesen ausmachen. Seine Analysen gesellschaftlicher Zusammenhänge und Machtverhältnisse zeugen von scharfem Intellekt. Er kann Shakespeare auswendig zitieren, sich selbst das Gitarrespielen beibringen, er komponiert und textet beeindruckende Lieder. Mit diesem Hintergrund gelingt es ihm, beachtliche Aktionen zu realisieren – auch wenn sie am Ende immer nur seinem Ego dienen, erschreckend aggressiv, erniedrigend, heimtückisch sind.
Nur Unterordnung und Mitgefühl sind ihm fremd – was ihn schon einige Schulverweise gekostet hat.
In einer Schlüsselszene demütigt Chris zuerst einige Mitschüler und animiert sie dann, ein niederträchtiges Lied (dreistimmig!) zu grölen, das eine Gruppe von Lehrern bloßstellt und bezichtigt, Orgien zu veranstalten. Es ist offensichtlich, dass der so charismatische wie skrupellose Schüler eiskalt seine Grenzen ausreizt. Längst ist eine Bestrafung überfällig, wenn nicht der Verweis von der Schule. Doch er hält ein Pfand in der Hand: Er hat sich an die schöne Junglehrerin Deborah Rodgers herangemacht, erpresst sie mit einem intimen Geheimnis und kann, als er vor ein Gremium zitiert wird, sogar noch den Gentleman geben, anstatt im Mindesten einzulenken.
Der dritte Teil erzählt Anthonys Leben im Ruhestand (2015). Seine Frau wünscht sich mehr Gemeinsamkeit, doch die ungelösten Rätsel aus seiner Jugend ziehen Anthony nun erst recht in ihren Bann. Er gibt sich als Journalist aus, studiert Polizeiakten, spürt noch lebende Personen auf, recherchiert im Internet, gründet einen Blog. Das Mysterium wird seine Obsession und er selbst zum Leidtragenden. Jede Rückmeldung in seinem Blog löst bei ihm Alarm aus, teilweise reagiert er auf absurd überzogene Weise. Wie ihm dabei fake news untergeschoben werden, die er begeistert zu neuen Wahrheiten kürt, die ihn aber nur wieder wie einen Anfänger auf falsche Fährten locken, ist für ihn frustrierend und tragisch, für uns dagegen ein irrwitziges Lesevergnügen.
Für den Protagonisten hält die Handlung bittere Erfahrungen bereit: vermeintliche Minderwertigkeit, verpasste Chancen der Selbstverwirklichung, unterdrückte sexuelle Regungen, unerfüllte Liebe, die zerrissene Haltung zu Chris, den er verachtet und gleichzeitig von seinem bewunderten Wesen nur zu gern selbst etwas abgehabt hätte.
Auch für uns Leser ist die Lektüre ungewohnt, verwirrend und vielleicht frustrierend: Wo wir gewohnheitsmäßig die Entschleierung der Wahrheit erwarten, erleben wir deren zunehmende Verschleierung. Nach wenigen Seiten entwickelt sich die Lektüre zu einem Wechselbad der Ereignisse, das jeden klaren Durchblick verhindert. Der Mix an Textsorten bringt Abwechslung und Perspektivenvielfalt, aber auch manche Redundanz. Ehrgeizige Leser sollten sich davon nicht um ihre Aufmerksamkeit bringen lassen, denn Erkenntnisse sind hier nicht von Dauer. Was ist wahr, was ist Schein, wer spricht aufrichtig, wer manipuliert wen? Die Antworten wandeln sich ständig. Auch die sympathische Deborah, angehimmelt von Jung und Alt, ist kein Unschuldslamm. Als der erste Teil schließt, ist das Ende so offen wie am Anfang: Da auch Deborah und Chris unter den vier im Winter Verschwundenen sind, können beide Opfer oder Mörder der anderen drei Personen sein – oder sind sie womöglich als Liebespaar geflohen? Und es sind noch ganz andere Varianten denkbar.
Im Kern dieses Romans geht es um Subjektivität und Unberechenbarkeit von Wahrheit. Rastlos sucht Anthony Brewer nach der Wahrheit und scheitert schmerzlich daran, denn je nach Perspektive, Empfinden, Charakter, Erinnerung, Verdrängen, Schuld und persönlichen Intentionen hat jede Figur ihre eigene Wahrheit geformt. Mit Anthony müssen auch wir zu scheitern lernen. Wie seinen Erzähler führt der Autor uns durch das Dickicht konkurrierender Aussagen, die allesamt für sich reklamieren, wahr zu sein, und einander doch ganz oder teilweise widerlegen. Mit solcher Unschärfe müssen wir leben, auch unliebsame Alternativen dulden. Nur eine Sicht als gültige Wahrheit zuzulassen ist naiv und kann gefährlich werden.