Rezension zu »Freundschaft und Vergeltung« von Helmut Krausser

Freundschaft und Vergeltung

von


Was der junge Anthony Brewer 1965 in seinem englischen Internat erlebte, hielt ihn sein Leben lang im Bann. Sein Zimmergenosse Chris, ein skrupelloser Anführer und Manipulator, dominierte dort das gesamte Geschehen. Die ungelösten Geheimnisse um sein spurloses Verschwinden werden fünfzig Jahre später zu Anthonys Obsession.
Belletristik · Berlin Verlag · · 352 S. · ISBN 9783827014160
Sprache: de · Herkunft: de

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Schillernde Wahrheiten

Rezension vom 17.08.2024 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Helmut Krausser ist ein Multitalent. Der 1964 geborene Wahl-Berliner hat sich als Schrift­steller, Dichter, Bühnen­autor, Komponist und Schach­spieler einen Namen gemacht. Doch trotz seiner zahllosen Ver­öffent­lichun­gen, drei Roman­verfil­mun­gen und Über­setzun­gen in viele Sprachen ist er dem großen Publikum noch unbekannt geblieben. Das sollte sich ändern.

»Freundschaft und Vergeltung«, sein neuester Roman, ist beste und anspruchs­volle Unter­haltung. Der Berlin Verlag preist ihn als Span­nungs­roman an, ist jedoch weit mehr als das. Er behandelt Themen wie coming of age, Internats­leben, Sinn­erfül­lung im Alter, Musik im Wandel der Zeit. Seine Handlung trägt sich 1965 und 2015 in Groß­britan­nien zu, spielt also mit unter­schied­lichen Raum-, Zeit- und Kultur­milieus.

Erzählt wird uns die ganze Geschichte von Anthony Brewer, einem 67-jähri­gen Anwalt im Ruhe­stand. Ende 1965 sollte er als Sieb­zehn­jäh­riger seinen Schul­abschluss in einem Internat ablegen und zog dazu in Raven Hall ein, einem süd­engli­schen Institut, dessen Renom­mee mit den Jahren so zer­bröselt war wie das schloss­ähnliche Gebäude. Das kurze biogra­fische Inter­mezzo prägte Anthony für sein ganzes Leben. Denn am Weih­nachts­wochen­ende jenes Jahres ver­schwanden dort vier Menschen, und niemals konnte aufge­klärt werden, was mit ihnen geschehen war.

Anthony studierte Jura, gründete eine Familie, wurde ein erfolg­reicher Anwalt. Während eines Urlaubs im Jahr 1985 suchte er noch lebende Betei­ligte des Raven-Hall-Zwischen­falls auf und hielt ihre Dar­stellun­gen auf Tonband fest. Erst weitere dreißig Jahre später stellte er sich als Pensionär der Aufgabe, nun konse­quent nach der Wahrheit zu suchen. Die Reise, auf die er sich begab, warf auch auf seine eigene Ver­gangen­heit ein neues Licht.

Im Mittelpunkt des erzähle­rischen Interesses stehen zunächst die Charak­tere der Schüler, der Lehrer­schaft, der Dienst­boten und ihre komplexen Bezie­hungen zuein­ander. All dies gestaltet der Autor mit Akribie und stil­sicherer Sprache aus der Per­spek­tive seines Prota­gonisten. Sie wird ergänzt durch schrift­lich oder auf Tonband regis­trierte Aussagen, Beobach­tungen und Deutungen anderer Betei­ligter. Die Erzähl­technik lässt also hoffen, dass sich beim Lesen ein klares Bild ergeben möge. Doch weit gefehlt – der Autor hat anderes mit uns vor.

Die Schlüsselfigur lernen wir schon auf den ersten Seiten kennen, wie auch Anthony gleich bei der Eisen­bahn­fahrt zum Internat mit Christian Bradshaw, 18, kon­frontiert wird. Dessen Auftreten faszi­niert und verstört alle mit­reisen­den Internats­novizen, und jeder ahnt, dass »Chris« bald alle Zügel in der Hand halten wird. Anthony ist hin und her gerissen zwischen Fas­sungs­losig­keit, Bewun­derung, Staunen, Respekt, Verach­tung, Hass – und Ängsten, denn ausge­rech­net mit diesem Jungen wird er seine Stube teilen müssen.

Von Anfang an rekla­miert Chris eine elitäre Sonder­stellung. Sein Vater, verkündet er groß­spurig, habe Raven Hall mit einer groß­zügigen Spende aus finan­zieller Schief­lage gerettet. Um Vor­schrif­ten und Konven­tionen schert er sich nicht, sondern macht seine eigenen Regeln. Schon im Zug zückt er provokant einen Flachmann, und für die Lehrer­schaft hat er keinerlei Respekt übrig.

Als Blender und Manipulator ist Chris ein Natur­talent. Mit sicherem Gespür für die Wirkung seiner Worte und Taten steuert er die Befind­lichkeit der anderen nach Belieben, kann Eindruck machen, Neid ansta­cheln, über­rumpeln, ernied­rigen, dreiste Lügen als Wahr­heiten verkaufen, andere gegen­einan­der aus­spielen und lässt in allem seiner Willkür freien Lauf.

Eine bedeutende Rolle spielt bei dieser Alters­gruppe alles, was mit Erotik zu tun hat. Chris’ plas­tische Schilde­rungen seiner ein­schlägi­gen Erfah­rungen fesseln jeden Zuhörer, und in seinen Beleidi­gungen sind es häufig die sexuellen Untertöne, die die hilflosen Opfer am tiefsten verletzen.

So sehr sich Chris daneben benimmt, über jede Regel hinweg­setzt und jeden Anstand vermissen lässt, stehen seine Anhänger loyal zu ihm. Auch Anthony empfindet tiefe Abneigung, kann sich aber ebenso wenig wie die anderen der Aura und den Mani­pulatio­nen des Zimmer­genossen entziehen, zumal es ihm ja auch Vorteile ver­schaffen könnte, als Chris’ Freund angesehen zu werden.

Es sind freilich nicht nur diabo­lische Züge, die Chris’ Wesen ausmachen. Seine Analysen gesell­schaft­licher Zusam­men­hänge und Macht­verhält­nisse zeugen von scharfem Intellekt. Er kann Shake­speare auswendig zitieren, sich selbst das Gitarre­spielen bei­bringen, er kompo­niert und textet be­ein­dru­ckende Lieder. Mit diesem Hinter­grund gelingt es ihm, beacht­liche Aktionen zu reali­sieren – auch wenn sie am Ende immer nur seinem Ego dienen, erschre­ckend aggressiv, ernied­rigend, heim­tückisch sind.

Nur Unterordnung und Mitgefühl sind ihm fremd – was ihn schon einige Schul­verweise gekostet hat.

In einer Schlüsselszene demütigt Chris zuerst einige Mit­schüler und animiert sie dann, ein nieder­träch­tiges Lied (drei­stimmig!) zu grölen, das eine Gruppe von Lehrern bloß­stellt und bezich­tigt, Orgien zu veran­stalten. Es ist offen­sichtlich, dass der so charisma­tische wie skrupel­lose Schüler eiskalt seine Grenzen ausreizt. Längst ist eine Bestra­fung über­fällig, wenn nicht der Verweis von der Schule. Doch er hält ein Pfand in der Hand: Er hat sich an die schöne Jung­lehrerin Deborah Rodgers heran­gemacht, erpresst sie mit einem intimen Geheimnis und kann, als er vor ein Gremium zitiert wird, sogar noch den Gentleman geben, anstatt im Mindesten einzu­lenken.

Der dritte Teil erzählt Anthonys Leben im Ruhestand (2015). Seine Frau wünscht sich mehr Gemein­samkeit, doch die unge­lösten Rätsel aus seiner Jugend ziehen Anthony nun erst recht in ihren Bann. Er gibt sich als Jour­nalist aus, studiert Polizei­akten, spürt noch lebende Personen auf, recher­chiert im Internet, gründet einen Blog. Das Mysterium wird seine Obsession und er selbst zum Leid­tragen­den. Jede Rück­meldung in seinem Blog löst bei ihm Alarm aus, teilweise reagiert er auf absurd über­zogene Weise. Wie ihm dabei fake news unterge­schoben werden, die er begeis­tert zu neuen Wahr­heiten kürt, die ihn aber nur wieder wie einen Anfänger auf falsche Fährten locken, ist für ihn frustrie­rend und tragisch, für uns dagegen ein irr­witziges Lese­ver­gnügen.

Für den Protagonisten hält die Handlung bittere Erfah­rungen bereit: ver­meint­liche Minder­wertig­keit, verpasste Chancen der Selbst­ver­wirk­lichung, unter­drückte sexuelle Regungen, uner­füllte Liebe, die zerris­sene Haltung zu Chris, den er verachtet und gleich­zeitig von seinem bewun­derten Wesen nur zu gern selbst etwas abgehabt hätte.

Auch für uns Leser ist die Lektüre ungewohnt, verwir­rend und viel­leicht frus­trierend: Wo wir gewohn­heits­mäßig die Ent­schleie­rung der Wahrheit erwarten, erleben wir deren zuneh­mende Ver­schleie­rung. Nach wenigen Seiten ent­wickelt sich die Lektüre zu einem Wechsel­bad der Ereig­nisse, das jeden klaren Durch­blick ver­hindert. Der Mix an Text­sorten bringt Abwechs­lung und Per­spektiven­vielfalt, aber auch manche Redundanz. Ehr­geizige Leser sollten sich davon nicht um ihre Auf­merk­samkeit bringen lassen, denn Er­kennt­nisse sind hier nicht von Dauer. Was ist wahr, was ist Schein, wer spricht auf­richtig, wer mani­puliert wen? Die Antworten wandeln sich ständig. Auch die sym­pathi­sche Deborah, ange­himmelt von Jung und Alt, ist kein Un­schulds­lamm. Als der erste Teil schließt, ist das Ende so offen wie am Anfang: Da auch Deborah und Chris unter den vier im Winter Ver­schwun­denen sind, können beide Opfer oder Mörder der anderen drei Personen sein – oder sind sie womög­lich als Liebes­paar geflohen? Und es sind noch ganz andere Varianten denk­bar.

Im Kern dieses Romans geht es um Subjek­tivität und Un­be­re­chen­barkeit von Wahrheit. Rastlos sucht Anthony Brewer nach der Wahrheit und scheitert schmerz­lich daran, denn je nach Per­spek­tive, Empfinden, Charakter, Erinne­rung, Ver­drängen, Schuld und persön­lichen Inten­tionen hat jede Figur ihre eigene Wahrheit geformt. Mit Anthony müssen auch wir zu scheitern lernen. Wie seinen Erzähler führt der Autor uns durch das Dickicht kon­kurrie­render Aussagen, die allesamt für sich rekla­mieren, wahr zu sein, und einander doch ganz oder teilweise wider­legen. Mit solcher Unschärfe müssen wir leben, auch unlieb­same Alter­nativen dulden. Nur eine Sicht als gültige Wahrheit zuzu­lassen ist naiv und kann ge­fähr­lich werden.


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