Rezension zu »Kleine Monster« von Jessica Lind

Kleine Monster

von


Dass ihr Siebenjähriger mit einer Mitschülerin »etwas« angestellt habe, wirft seine Mutter aus der Bahn. Misstrauen nistet sich in ihrer Seele ein, gegen die Lehrerin, gegen ihren Mann, gegen ihr Kind, und Probleme ihrer eigenen Kindheit holen sie ein.
Belletristik · Hanser · · 256 S. · ISBN 9783446281448
Sprache: de · Herkunft: de

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Psychogramm einer belasteten Mutter

Rezension vom 25.08.2024 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Der erste Reflex trügt. Die »Kleinen Monster«, die der Titel plaka­tiert, sind keine Grund­schul­kinder mit dem Teufel im Nacken. Die Roman­handlung lockt uns aller­dings erst einmal auf genau diese Fährte. Wir erinnern uns an Medien­berichte, Repor­tagen und Spiel­filme, die Zwischen­fälle mit Minder­jährigen und sexuellen Aktivi­täten themati­sieren. Ob hinter so einem Ereignis lediglich früh­kindlich-un­schul­dige Neugier der Kinder oder die unge­wöhn­liche Veran­lagung eines Kindes oder Miss­brauch durch Ältere steckt, ob über­stei­gerte Vorsicht der Betreuer, psycho­logi­scher Ehrgeiz oder allzu miss­traui­sche Reak­tionen von Eltern auf Ver­haltens­weisen ihrer Kinder das Vor­komm­nis hoch­kochen lassen, das ist manchmal kaum zu ent­scheiden.

Jessica Lind lässt uns jeden­falls erst einmal im Dunkeln tappen. Statt auf dem Pausenhof zu spielen, blieben Luca, 7, und Alena im Klassen­raum. Dabei ist irgend etwas geschehen, und Alena sagt, nicht zum ersten Mal. Luca soll eine Grenze über­schritten haben. Er schweigt dazu. Die Lehrerin wittert Schlimmes, muss dem Verdacht nach­gehen, bestellt Lucas Eltern Jakob und Pia zu einem Gespräch ein.

Jacob ist entspannt, hat von seinem Sohn nichts erfahren, sieht also keinen Anlass, eine Affäre loszu­treten, und will rasch zur Tages­ord­nung zurück­kehren.

Pia ist viel emotionaler und sehr beun­ruhigt. Gegen­über der sorgsam formu­lieren­den Lehre­rin kann sie Schroff­heit und Trotz kaum zurück­halten. Auch ihr hat Luca keine Auskünfte gegeben. Doch schon die Tatsache, dass man sie aus der Whatsapp-Eltern­gruppe ausge­schlos­sen hat, bringt ihr inneres Gleich­gewicht ins Wanken. Was mögen die anderen über sie reden? Werden sie ihre Kinder gegen Luca auf­hetzen?

Vorsorglich lässt sie ihren Sohn wegen ver­meint­licher Krank­heits­symp­tome zu Hause. Die gemein­same Zeit nutzt Pia, um ihm ein Ge­ständ­nis zu entlocken. Jedoch beißt sie auf Granit. Je länger Luca schweigt, umso mehr verliert sich die Mutter in ihren Ängsten. Sie be­fürchtet nun Charak­ter­eigen­schaf­ten und Ge­fühls­welten, die sie nie zuvor in ihrem Sohn geahnt hat. Ist er viel­leicht ein kleines Monster? Einen Beleg für seine Hinter­hältig­keit findet sie eines Morgens in Gestalt eines feuchten Flecks auf seinem Bett­tuch. Dahinter müssen Schuld­gefühle stecken. Der Junge möchte der Be­stra­fung ent­gehen und das Mitge­fühl seiner Eltern wecken. »Er mani­puliert uns … Kinder sind nicht nur kleine Engel. Ganz im Gegenteil.« Jakob traut seinen Ohren nicht, aber Pia ist aufge­wühlt.

Freundlicherweise wird Jessica Lind für uns das Pausen­geheim­nis am Schluss des Buches auf­decken , aber für den Plot ist das Rätsel geradezu irrele­vant. Was Luca in der Pause mit Alena ange­stellt hat, rückt nun in den Hinter­grund, zumal er weiter eisern schweigt. Statt­dessen rückt die Autorin ihre Ich-Erzäh­lerin in den Fokus. Je inten­siver Pia über ihr Kind reflek­tiert, desto deut­licher meint sie Zu­sam­men­hänge zwischen ihm und ihrer eigenen fami­liären Historie zu erkennen, und der Schwer­punkt der Erzäh­lung verlagert sich auf dieses Feld.

Pias Eltern hatten sich entschlossen, ein fremdes Kind zu adop­tieren. Sie wollten »einem Kind eine Chance geben, mit dem es die Welt nicht so gut meint«. Dass so ein Ver­wal­tungs­akt Jahre braucht, war ihnen nicht klar genug. Während der Warte­zeit wurde Pia, ihre leib­liche Tochter, geboren, und als die zwei Jahre alt war, durften sie sich in einem Heim endlich ihr »Wunsch­kind« aussuchen. Sie wählten die in ihrer gesamten Ent­wick­lung zurück­geblie­bene vierzehn Monate alte Romi. Während der Vater, Ingenieur, uner­müd­lich arbeitete, um die finan­zielle Lage zu sichern, wandte die Mutter, eine starke und domi­nante Hausfrau, all ihre Liebe und Kraft auf, damit Romi den Anschluss an ihre Alters­genos­sen fände. Binnen weniger Monate hatte sie das geschafft. Dann wurde Linda geboren, die zweite leib­liche Tochter.

Die drei Mädchen bilden eine ver­schwo­rene Einheit, aber das kann über die Unter­schiede nicht hinweg­täuschen und ver­hindert nicht, was ge­schieht. Die mütter­lichen Zu­schrei­bungen »die Große, die Ver­nünf­tige« (Pia), »Wunsch­kind« (Romi) und »Sonnen­schein« (Linda) bergen Potenzial für allerlei Emo­tionen und Rivali­täten. Romi und Pia kämpfen bestän­dig um ihre Stellung bei der Mutter, deren Hin­wen­dung die eine nicht verlieren und die andere gewinnen mag.

Eines Tages wendet ein furcht­barer Unfall das Schick­sal der Familie: Die kleine Linda ertrinkt im See. Einzig Romi ist zugegen, kann aber nicht viel zur Auf­klärung beitragen. Es ist »die Große«, die sich fortan die gesamte Schuld zu­schreibt, denn sie hätte Acht geben müssen, und da ent­lastet sie auch nicht, dass sie an jenem Tag krank im Bett lag. Die Familie zer­bricht. Die Mutter ver­härtet und ver­schließt sich, und Romi wird zu ande­ren Pflege­eltern gegeben.

Das Trauma wirkt sich nun, viele Jahre später, auf Pias Haltung zu ihrem eigenen Sohn aus. »Seit Lindas Unfall tragen wir alle einen Abgrund in uns«, sagt sie, und fürchtet, auch Luca könnte das »Dunkle« in sich tragen. Dann ist es Pias Aufgabe, den Jungen vor sich selbst zu be­schützen, und dieses Mal muss sie alles richtig machen.

Das komplexe Gefühlsgemenge ihrer Protagonistin gestaltet die öster­reichi­sche Autorin im Zu­sammen­spiel mit den Ereig­nissen ihres Alltags. Schon von der Bewäl­tigung ihres Lebens als Mutter und Ehefrau über­fordert, schafft es Pia nicht, den schweren Mantel ihres dama­ligen Versagens abzu­legen. Die Beziehung zu Jakob wird belastet durch bisher nicht vorhan­dene Neid­ge­fühle auf dessen glück­liche Kind­heit und Leich­tig­keit des Seins. Auch dass er normal mit Luca umzu­gehen weiß, miss­fällt ihr eher: »uner­schütter­lich … wie ein Stein … tröst­lich wie ein Kuschel­tier. Nur halt nicht auf­richtig.« Sie hingegen ist ange­sichts des beharr­lichen Schwei­gens ihres Sohnes kaum in der Lage, ihr Miss­trauen gegen­über dem Kind abzu­bauen. Trotz alldem weicht Pia, die Expertin im Auf­recht­erhal­ten ihrer Fassade, jedem Gespräch aus.

Das zentrale Anliegen dieses Romans erschließt sich erst nach und nach. Denkt man zunächst, der Plot ziele auf eine Kritik an Eltern, die ihr eigenes Kind zu ihrem Lebens­inhalt über­höhen und deshalb glauben, es vor jeglicher Gefahr ab­schirmen und maximal ver­wöhnen zu müssen, rückt der Fokus schon bald auf Pia und die Lang­zeit­folgen, die der schick­sal­hafte Unfall bei ihr ausge­löst hat. Am Ende erweist sich der Roman vor allem als Seelen­porträt einer trauma­tisier­ten Mutter, die sich selbst analy­siert, so gut sie kann, aber aus ihrem sich immer schneller drehenden Hamster­rad nicht mehr heraus­kommt. Obwohl die Autorin die Ent­wick­lung ihrer Protago­nistin sprach­lich sehr präzise, einfühl­sam und glaub­haft erzählt, hat sie nach meinem Emp­finden doch auch reichlich Gefühls­duselei und Küchen­psycho­logie hinein­kons­truiert.


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