Kleine Monster
von Jessica Lind
Dass ihr Siebenjähriger mit einer Mitschülerin »etwas« angestellt habe, wirft seine Mutter aus der Bahn. Misstrauen nistet sich in ihrer Seele ein, gegen die Lehrerin, gegen ihren Mann, gegen ihr Kind, und Probleme ihrer eigenen Kindheit holen sie ein.
Psychogramm einer belasteten Mutter
Der erste Reflex trügt. Die »Kleinen Monster«, die der Titel plakatiert, sind keine Grundschulkinder mit dem Teufel im Nacken. Die Romanhandlung lockt uns allerdings erst einmal auf genau diese Fährte. Wir erinnern uns an Medienberichte, Reportagen und Spielfilme, die Zwischenfälle mit Minderjährigen und sexuellen Aktivitäten thematisieren. Ob hinter so einem Ereignis lediglich frühkindlich-unschuldige Neugier der Kinder oder die ungewöhnliche Veranlagung eines Kindes oder Missbrauch durch Ältere steckt, ob übersteigerte Vorsicht der Betreuer, psychologischer Ehrgeiz oder allzu misstrauische Reaktionen von Eltern auf Verhaltensweisen ihrer Kinder das Vorkommnis hochkochen lassen, das ist manchmal kaum zu entscheiden.
Jessica Lind lässt uns jedenfalls erst einmal im Dunkeln tappen. Statt auf dem Pausenhof zu spielen, blieben Luca, 7, und Alena im Klassenraum. Dabei ist irgend etwas geschehen, und Alena sagt, nicht zum ersten Mal. Luca soll eine Grenze überschritten haben. Er schweigt dazu. Die Lehrerin wittert Schlimmes, muss dem Verdacht nachgehen, bestellt Lucas Eltern Jakob und Pia zu einem Gespräch ein.
Jacob ist entspannt, hat von seinem Sohn nichts erfahren, sieht also keinen Anlass, eine Affäre loszutreten, und will rasch zur Tagesordnung zurückkehren.
Pia ist viel emotionaler und sehr beunruhigt. Gegenüber der sorgsam formulierenden Lehrerin kann sie Schroffheit und Trotz kaum zurückhalten. Auch ihr hat Luca keine Auskünfte gegeben. Doch schon die Tatsache, dass man sie aus der Whatsapp-Elterngruppe ausgeschlossen hat, bringt ihr inneres Gleichgewicht ins Wanken. Was mögen die anderen über sie reden? Werden sie ihre Kinder gegen Luca aufhetzen?
Vorsorglich lässt sie ihren Sohn wegen vermeintlicher Krankheitssymptome zu Hause. Die gemeinsame Zeit nutzt Pia, um ihm ein Geständnis zu entlocken. Jedoch beißt sie auf Granit. Je länger Luca schweigt, umso mehr verliert sich die Mutter in ihren Ängsten. Sie befürchtet nun Charaktereigenschaften und Gefühlswelten, die sie nie zuvor in ihrem Sohn geahnt hat. Ist er vielleicht ein kleines Monster? Einen Beleg für seine Hinterhältigkeit findet sie eines Morgens in Gestalt eines feuchten Flecks auf seinem Betttuch. Dahinter müssen Schuldgefühle stecken. Der Junge möchte der Bestrafung entgehen und das Mitgefühl seiner Eltern wecken. »Er manipuliert uns … Kinder sind nicht nur kleine Engel. Ganz im Gegenteil.« Jakob traut seinen Ohren nicht, aber Pia ist aufgewühlt.
Freundlicherweise wird Jessica Lind für uns das Pausengeheimnis am Schluss des Buches aufdecken , aber für den Plot ist das Rätsel geradezu irrelevant. Was Luca in der Pause mit Alena angestellt hat, rückt nun in den Hintergrund, zumal er weiter eisern schweigt. Stattdessen rückt die Autorin ihre Ich-Erzählerin in den Fokus. Je intensiver Pia über ihr Kind reflektiert, desto deutlicher meint sie Zusammenhänge zwischen ihm und ihrer eigenen familiären Historie zu erkennen, und der Schwerpunkt der Erzählung verlagert sich auf dieses Feld.
Pias Eltern hatten sich entschlossen, ein fremdes Kind zu adoptieren. Sie wollten »einem Kind eine Chance geben, mit dem es die Welt nicht so gut meint«. Dass so ein Verwaltungsakt Jahre braucht, war ihnen nicht klar genug. Während der Wartezeit wurde Pia, ihre leibliche Tochter, geboren, und als die zwei Jahre alt war, durften sie sich in einem Heim endlich ihr »Wunschkind« aussuchen. Sie wählten die in ihrer gesamten Entwicklung zurückgebliebene vierzehn Monate alte Romi. Während der Vater, Ingenieur, unermüdlich arbeitete, um die finanzielle Lage zu sichern, wandte die Mutter, eine starke und dominante Hausfrau, all ihre Liebe und Kraft auf, damit Romi den Anschluss an ihre Altersgenossen fände. Binnen weniger Monate hatte sie das geschafft. Dann wurde Linda geboren, die zweite leibliche Tochter.
Die drei Mädchen bilden eine verschworene Einheit, aber das kann über die Unterschiede nicht hinwegtäuschen und verhindert nicht, was geschieht. Die mütterlichen Zuschreibungen »die Große, die Vernünftige« (Pia), »Wunschkind« (Romi) und »Sonnenschein« (Linda) bergen Potenzial für allerlei Emotionen und Rivalitäten. Romi und Pia kämpfen beständig um ihre Stellung bei der Mutter, deren Hinwendung die eine nicht verlieren und die andere gewinnen mag.
Eines Tages wendet ein furchtbarer Unfall das Schicksal der Familie: Die kleine Linda ertrinkt im See. Einzig Romi ist zugegen, kann aber nicht viel zur Aufklärung beitragen. Es ist »die Große«, die sich fortan die gesamte Schuld zuschreibt, denn sie hätte Acht geben müssen, und da entlastet sie auch nicht, dass sie an jenem Tag krank im Bett lag. Die Familie zerbricht. Die Mutter verhärtet und verschließt sich, und Romi wird zu anderen Pflegeeltern gegeben.
Das Trauma wirkt sich nun, viele Jahre später, auf Pias Haltung zu ihrem eigenen Sohn aus. »Seit Lindas Unfall tragen wir alle einen Abgrund in uns«, sagt sie, und fürchtet, auch Luca könnte das »Dunkle« in sich tragen. Dann ist es Pias Aufgabe, den Jungen vor sich selbst zu beschützen, und dieses Mal muss sie alles richtig machen.
Das komplexe Gefühlsgemenge ihrer Protagonistin gestaltet die österreichische Autorin im Zusammenspiel mit den Ereignissen ihres Alltags. Schon von der Bewältigung ihres Lebens als Mutter und Ehefrau überfordert, schafft es Pia nicht, den schweren Mantel ihres damaligen Versagens abzulegen. Die Beziehung zu Jakob wird belastet durch bisher nicht vorhandene Neidgefühle auf dessen glückliche Kindheit und Leichtigkeit des Seins. Auch dass er normal mit Luca umzugehen weiß, missfällt ihr eher: »unerschütterlich … wie ein Stein … tröstlich wie ein Kuscheltier. Nur halt nicht aufrichtig.« Sie hingegen ist angesichts des beharrlichen Schweigens ihres Sohnes kaum in der Lage, ihr Misstrauen gegenüber dem Kind abzubauen. Trotz alldem weicht Pia, die Expertin im Aufrechterhalten ihrer Fassade, jedem Gespräch aus.
Das zentrale Anliegen dieses Romans erschließt sich erst nach und nach. Denkt man zunächst, der Plot ziele auf eine Kritik an Eltern, die ihr eigenes Kind zu ihrem Lebensinhalt überhöhen und deshalb glauben, es vor jeglicher Gefahr abschirmen und maximal verwöhnen zu müssen, rückt der Fokus schon bald auf Pia und die Langzeitfolgen, die der schicksalhafte Unfall bei ihr ausgelöst hat. Am Ende erweist sich der Roman vor allem als Seelenporträt einer traumatisierten Mutter, die sich selbst analysiert, so gut sie kann, aber aus ihrem sich immer schneller drehenden Hamsterrad nicht mehr herauskommt. Obwohl die Autorin die Entwicklung ihrer Protagonistin sprachlich sehr präzise, einfühlsam und glaubhaft erzählt, hat sie nach meinem Empfinden doch auch reichlich Gefühlsduselei und Küchenpsychologie hineinkonstruiert.