Morden im Dienste der Erkenntnis
Als das Kind im Jahre 1171 geboren wird, sind die Umstände widrig, und es ist dem Tode geweiht. Doch ein Fremder haucht dem Säugling in der finsteren Hütte der Hebamme Leben und seine Seele ein und entschwindet auf Nimmerwiedersehen. Kurz darauf betritt Walther von Ascisberg die Kate – zu spät, um den Unbekannten mit seinen dunklen Künsten dingfest zu machen. Den Säugling reißt er an sich, um ihn zu ersticken – besinnt sich aber, beatmet ihn und schenkt ihm damit zum zweiten Mal das Leben. Damit haften dem kleinen Jungen von Anfang an mystische Züge an: Ist der zwei Mal "Wiedergeborene" ein "Untoter"? Steht er mit geheimen Mächten im Bunde?
Walther nimmt den kleinen Jungen mit zu seinem Waffenbruder Fürst Sigimund [sic] von Laurin. Die Ehefrau des Schmieds soll das Baby stillen, und wenn es den Winter überlebt, soll es mit Konrad, dem Stammhalter, großgezogen werden. Dabei werden dem "Bastard" seltene Privilegien zuteil: Er erhält Unterricht gemeinsam mit Konrad, als wäre er dessen leiblicher Bruder. Isenhart lernt schnell und eifrig: lesen und schreiben, Latein, Mathematik und Kampfeskunst. Wissbegierig und kritisch, hinterfragt er oft, was Pater Hieronymus ihm vorstellt; auf Grund seiner eigenen Beobachtungen und Überlegungen kommt er manchmal zu ganz anderen, einleuchtenderen Erklärungen zum Beispiel für Naturphänomene. Doch Pater Hieronymus droht ihm mit Prügeln, wenn er die traditionelle Lehre oder gar Gottes Schöpfertum anzweifelt.
Im Laufe der Zeit wächst zwischen Isenhart und Konrads jüngerer Schwester Anna eine zarte Liebesbeziehung, die sie jedoch nur in aller Heimlichkeit ausleben können. Wegen des Standesunterschiedes ist eine Vermählung natürlich unvorstellbar, und Anna ist auch schon einem alten Burgherrn versprochen. Dieser Beziehungskonflikt endet auf tragische Weise, als Isenhart Anna grausam ermordet auf dem Waldboden liegend findet – der Täter hat ihr das Herz herausgerissen. Schnell ergreifen die Häscher den Händler Alexander von Westheim; der wird verurteilt und hingerichtet, obwohl er seine Unschuld beteuert und den Abt des Klosters von Mullenbrunnen der Tat bezichtigt.
Jahre später wird erneut ein junges, reines Mädchen ermordet aufgefunden, ebenfalls mit herausgerissenem Herzen. Da wird Isenhart klar, dass von Westheim unschuldig getötet wurde und offenbar ein Serientäter sein Unwesen treibt. Was für ein Mensch mag das sein? Um Lust geht es ihm nicht, denn er hat sich an den Jungfrauen nicht vergangen. Warum ist er nur an den Herzen der Toten interessiert?
Diversen Hinweisen und Verdachten folgend, macht Isenhart sich mit Konrad auf den Weg. Bei Walther von Ascisberg erfährt er erstmals etwas über seine Herkunft, über eine Beziehung seines Vaters zu einer Magd. Seinen Vater habe man zuletzt in Toledo gesehen; nach entsetzlichen Ereignissen soll er Gott abgeschworen und sich mit einem arabischen Medicus umgeben haben. War er auch in Jerusalem? Isenhart ist fest entschlossen, seinen Vater zu finden; gleichzeitig folgt er den Spuren des Täters, der noch weitere Opfer ohne Herzen zurück lässt ...
Im gruseligen anatomischen Kellerlabor einer Burg findet Isenhart genaue Aufzeichnungen über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers, und er versteht, dass der Mörder offenkundig von wissenschaftlichem Erkenntnisdrang geleitet wird. Was Isenhart fasziniert, ja geradezu zu einer neuen Bewertung der Taten bringt, schockiert Konrad, der die Gebote der Kirche uneingeschränkt achtet.
Holger Karsten Schmidt entführt den Leser in die Welt des Mittelalters. Das Alltagsleben ist nicht nur für die einfache Bevölkerung ein harter Überlebenskampf, sondern auch für die Adligen und ihr Gefolge. Die unerbittliche Natur, Krankheiten, menschliche Grausamkeit, Machtkämpfe und die Kreuzzüge bringen unendliches Leid, kosten unzählige Menschenleben. All dies schildert der Autor fachkundig und anschaulich. Aber es geht ihm um mehr. Der Roman führt vor, in welchen Konflikten sich das seinen Verstand gebrauchende Individuum im geschlossenen und streng hierarchisch gegliederten Weltbild des Mittelalters einen Weg suchen musste. Die Anschauung legte dem denkenden Menschen schon damals gewisse Schlussfolgerungen nahe: Dass Bäume ihr Laub abwerfen, ist eine Schutzfunktion; wenn wir genau beobachten, wie Vögel fliegen, können auch wir Menschen vielleicht eines Tages fliegen; wenn wir etwas über unseren Körper wissen möchten, müssen wir ihn untersuchen. Doch in einer Gesellschaft, die sich allein nach dem richtet, was die Kirche und die Herrschenden vorschreiben und zulassen, sind derlei Gedanken und Verfahren der Erkenntnisgewinnung ketzerisch und verboten. Isenhart wird im Laufe seiner Reisen immer stärker in solche Konflikte hineingezogen. Er wächst an ihnen und entwickelt sich, erzogen, angetrieben und geleitet, zu einem Kämpfer für ein aufgeklärteres Weltbild (für das seine Zeit natürlich noch lange nicht reif ist).
So ganz klar ist mir nicht geworden, welches Genre der Autor eigentlich vorrangig bedienen will. Sein Roman ist ein Krimi, denn mit strenger Logik werden Morde aufgeklärt. Viel Raum nehmen Medizin, Philosophie und fortschrittliche Gedanken ein. Daneben spielt der Autor aber auch mit Fantasy-Motiven (Wiedergänger, Untote; Schauerstimmungen; die doppelte Wiederbelebung des Säuglings, mystisch überhöht durch das "Einhauchen der Seele"; die eigenartigen Wandlungen des Abts von Mullenbrunnen, den wir in Toledo wiederfinden, usw.) , die mich bisweilen fürchten ließen, die Sache könne ins Irrationale kippen. Doch bleiben diese Stimmen letztendlich bei den Abergläubischen, den Ungebildeten, den Mystifizierern, während die Romanhandlung im Wesentlichen auch für uns moderne Menschen glaubhaft und überzeugend ist. Dessen ungeachtet hätte der Autor etliche Nebenstränge, ständige Wiederholungen und ähnliche Seitenfüller ohne Schaden weglassen können.
Unterm Strich ein gutes Buch!