Einhundertzehn Prozent Wahrheit – ehrlich!
Damit Sie gleich Bescheid wissen: »Alle meine Geschichten [beruhen] auf tatsächlichen Erlebnissen«, versichert uns der Autor. Eiskalt hat er den Fakten ins Auge geblickt, um alsdann »die Realität ohne beschönigende Worte ... exakt so« wiederzugeben, »wie es tatsächlich passiert ist«. Nur ab und an macht er von seiner dichterischen Freiheit Gebrauch, das »reine Erlebnis« »ein wenig mit Wahrheit« auszuschmücken. Gut sechzig solche kleinen Einblicke in die Wirklichkeit flunkert uns der Autor zu.
Zum Beispiel reist Herr Evers gern mit der Bahn, denn die ist immer pünktlich. Ausnahmen bestätigen lediglich die Regel. Interessant wird es erst, wenn Züge gar nicht kommen. Dann haben wir das Glück, einen Bahnhof einmal ganz anders wahrnehmen zu dürfen. Der Hauptbahnhof von Witten etwa ist ohne Züge derart attraktionsfrei, dass man sich zu Tode langweilt. »Zwischen den Bahnsteigbereichen A und B liegen auch schon ein paar Fahrgäste.«
Hier verspürt Horst Evers etwas Erhabenes, darf er doch selbst an dem famosen »astrophysischen Phänomen« der »Raum-Zeit-Löcher« teilhaben, wie es kein Geringerer als Stephen Hawking beschrieb: Zeit kann, wenn sie »zum völligen Stillstand kommt, implodieren und sogar Materie zerstören.«
Mit lockerer, aber spitzer Zunge plaudert Horst Evers in diesem Erzählband über Gott und die Welt. Die Themen, denen er sich in seinen kurzen Anekdoten widmet, sind die Erscheinungen unseres Alltags, die wir alle bemerken oder lieber ignorieren, die uns wundern, ärgern oder amüsieren. Es sind menschliche Schwächen und Stärken, Zeitgeisterscheinungen, Errungenschaften aller Art, die er scharf- und hintersinnig, intelligent und unterhaltsam aufs Korn nimmt und oft ins Absurde entführt, während er mit uns verbal durch Stadt und Land bummelt und dabei seine Augen hierhin und dorthin schweifen lässt. Als Kabarettist und durch Lesungen ist der (1967 geborene) Autor weit über Berlin hinaus bekannt, wo er seit Jahren eine wöchentliche Radio-Kolumne betreibt. 2002 erhielt er den »Deutschen Kabarettpreis« (Kategorie Programmpreis), 2008 den »Deutschen Kleinkunstpreis« (Kategorie Kleinkunst).
Herr Evers, unser Reiseleiter, ist ein gutmütiger Geselle. Schon des öfteren hat er sich breitschlagen lassen, den Nachwuchs von Freunden zu versorgen, wenn Not am Kind ist (etwa Unterrichtsausfall) und die Erziehungsberechtigen Besseres zu tun haben. Die wissen, dass die »treue Seele« damit nicht nur Opfer bringt; schließlich ist es doch »eine schöne Abwechslung, auch für ihn ..., der hat aber auch immer ein Glück.« Zum Beispiel, wenn er mit neun Zehnjährigen ins Schwimmbad zieht und der kleine Sergej unterwegs seinen Schwimmbeutel verliert. Ein besitzloses Gepäckstück in der U-Bahn bedeutet Bombengefahr, Polizeieinsatz und Sprengung des Objekts. Zwar kann Herr Evers den Schupo rechtzeitig von der Harmlosigkeit des Fundstückinhalts überzeugen, aber der Beamte revanchiert sich süffisant: »Ah, tagsüber schwimmen gehen können. Ja, so gut möchte ich es auch gern mal haben.« Etwas später fehlt Karolines Beutel. Auf Nachfrage bekennt sie, sie habe ihn absichtlich abgelegt, denn »sie wolle das mit dem Sprengen mal sehen« ... Wie es weitergeht? Davon nur so viel: Die Kleinen überstehen den Nachmittag heil.
Kinder sind ein Quell der Freude und unerschöpfliche Themenlieferanten. Gibt es wahre Kindheit ohne das Erlebnis des Zeltens? Kann man ohne diese Glückserfahrung zu einem lebensbejahenden Menschen heranwachsen? Wieder einmal lässt sich Herr Evers von den Argumenten und Prophezeiungen seiner Freundin überrollen: Wie schön – er und das Kind in freier Natur! »Sie werde uns beneiden«, während sie ihren Geburtstagsgutschein einlöst und ein paar Tage im »Luxus-Wellness-Hotel« verbringt ...
Für dieses Buch sollte man sich Zeit nehmen und es nicht von vorn bis hinten durchlesen, sondern lieber mal zwischendurch einzelne Geschichten als Lesesnack genießen. Denn es bietet jede Menge geistreiche, verblüffende, kreative und einfach witzige Sinn-, Satz- und Wortkonstrukte, die zu schön sind, um sie einfach hintereinander weg zu konsumieren. Ein Beispiel ist der Titel; hier noch einige Gemmen: Fehler wie am neuen Berliner Flughafen macht doch jeder, und »wem das noch nicht passiert ist, der werfe die erste Rolltreppe.« – »Unter meinem Körperäußeren bin ich eigentlich ziemlich schlank.« – »Es ist mir damals schon sehr schwergefallen, Dinge aus heutiger Sicht zu betrachten.« – »S-Bahn-Waiting« – »bedeutungssimulierendes Realitätsgehupe« ...
Für alle, die mit sich und der Welt immer noch nicht zufrieden sind, empfiehlt Herr Evers einen Perspektivwechsel. Bedenken Sie, wie elend sich ein Berg fühlt, »wenn ständig Menschen von ihm runterfallen«.