Holt Harry Hole!
Rund um die Uhr bewachen Polizisten die geheimnisvolle Person, die auf der Intensivstation des Reichshospitals von Oslo liegt. Man hofft, dass der Patient aus dem Koma erwacht, denn seine Aussage könnte das fehlende Puzzlesteinchen sein, um einen alten Fall endlich aufzuklären.
Der Nesbø-Fan erinnert sich sogleich: Der da im Krankenbett ruht, kann niemand anders sein als Harry Hole, der legendäre Protagonist von nun bereits neun Bestseller-Krimis des cleveren norwegischen Autors. Harry Hole war in seinem letzten, spektakulär spannenden Fall »Die Larve« einem russischen Drogenboss lebensgefährlich nahe gekommen. Doch als das Bettlaken angehoben wird, stellt sich heraus: Harry ist es nicht.
Den Nesbø-Fan enttäuscht das nicht, denn er liebt es, dass sein Autor ihn immer wieder an der Nase herumführt. Was für tolle Wendungen mag er in Harry Holes zehntem Fall noch in petto haben?
Der Noch-nicht-Nesbø-Fan dagegen könnte im Nachhinein ein bisschen gefrustet sein, denn der Handlungsfaden um den Komapatienten wird arg in die Länge gezogen, bis er ziemlich ausgeleiert ist.
Den Fall kann man in wenigen Sätzen zusammenfassen: Ein wählerischer Serienmörder geht in Oslo um. Im Visier hat er ausschließlich Polizisten. Die lockt er an Tatorte, an denen vor Jahren, am gleichen Tag, zur gleichen Zeit, Verbrechen verübt wurden, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnten.
Nesbø entwickelt hieraus eine sehr komplexe Handlung. Der Nesbø-Fan wird sagen, sie sei virtuos und stimmig gestaltet. Der Noch-nicht-Nesbø-Fan könnte sie überladen finden. Wer sich nicht konsequent täglich voran arbeitet, wird bei diesem sechshundert-Seiten-Wälzer trotz des hilfreichen Personenverzeichnisses Mühe haben, alle Fäden in der Hand zu behalten. Denn der Autor schickt uns auf mehrere Handlungsebenen, zu zahlreichen Haupt- und Nebenschauplätzen und in einige Sackgassen. Er baut etliche Charaktere auf, denen wir hinterhältige Morde zutrauen. Des öfteren gehen wir seinen falschen Spuren gehörig auf den Leim.
Nesbø spielt den Ball hoch, wir jagen ihm hinterher und opfern manche Stunde des Schlafes, um aufzuholen. Vergebens. Seinen Täter hält der Autor nämlich immer hübsch im Schatten und zieht dessen Motiv erst am Ende als Kaninchen aus dem Hut: »Er tötet aus Liebe, nicht aus Hass, Gier oder irgendwelchen sadistischen Trieben.« Als »Apostel der Gerechtigkeit« fühlt er sich auserkoren, Polizisten zu töten, die »ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, sich von Faulheit und Gleichgültigkeit steuern lassen«. Schön und gut, aber es klafft doch eine gehörige Plausibilitätslücke zwischen der ungebremsten Bestialität der Polizistenschlächterei und der bis dato behutsam aufgebauten unauffällig-stillen Vita des Täters. Aber gut – wir wollen ja bis zum Schluss getäuscht werden, und außerdem bleibt sich Nesbø tatsächlich bis zu allerletzten Seite treu … Halten Sie die Augen offen!
Zurück auf »Los«. Wenn Harry Hole nicht über die Komastation zurück ins Krimi-Leben darf, wie dann? Was ist aus ihm geworden? Lebt er überhaupt noch? Über gut ein Drittel hin weht allein sein Geist über der Ermittlungsgruppe um Katrine Bratt, Beate Lønn, Gunnar Hagen und Polizeipsychologe Stale Aune. »Was hat Harry immer gesagt? Intuition ist nur die Summe der vielen kleinen Dinge, die das Hirn noch in Worte fassen kann.«
Zweihundert Seiten lang hält Nesbø dicht; dann dürfen auch wir Leser erfahren, was für niemanden sonst ein Geheimnis ist: Der erfahrene Ermittler gibt jetzt sein Wissen an den Nachwuchs weiter. Im überfüllten Auditorium des Hörsaals der Polizeihochschule erläutert er vor zukünftigen Staats- und Bürgerschützern seine Devise: »Finde das Motiv und du hast den Täter.« Nur ein sehr starkes Motiv könne jemanden antreiben, »die psychologische Schwelle« zu überwinden, welche »rational denkende und emotional normale Menschen« vor der Tötung eines Mitmenschen schützt. (An dieser Theorie gemessen, überzeugen Täter und Motiv des vorliegenden Falles leider nicht ganz.)
Lange braucht man den Dozenten nicht zu bitten, bis er einwilligt, an der Aufklärung der Polizistenmorde mitzuwirken. Er weiß ja nicht, dass er damit sogar sein Lebensglück aufs Spiel setzt. Der brutale Polizistenmörder bringt nämlich Harrys langjährige Geliebte Rakel und ihren Sohn Oleg in seine Gewalt. Nur mit einem Trick gelingt es, die beiden zu befreien. Andernfalls wäre Harry ein ›Lonesome Wolf‹ geblieben und der Krimi um einen ungewöhnlich sentimentalen Schluss gebracht.
Zwar bleiben Gewalt und brutale Grausamkeiten bei Nesbø nie aus, aber in »Politi« (übersetzt von Günther Frauenlob) treibt er sie bei weitem nicht so weit wie in den blutigen Vorgängerromanen. Schließlich sind all die Intrigen, politischen Machenschaften, rücksichtslosen Egoismen und Mordkomplotts, mit denen der Autor uns schockiert, schon schlimm genug für »rational denkende und emotional normale Menschen«.