Klara vergessen
von Isabelle Autissier
Juri, ein Ornithologe aus den USA, wird von seinem sterbenden Vater in Murmansk gebeten, das bisher tabuisierte Schicksal seiner Mutter Klara zu erkunden. Juri verfolgt ihre Spuren zurück durch siebzig Jahre russischer Geschichte und erfährt viel Schreckliches und Abgründiges.
Leben, das andere diktieren
Murmansk – das ist kein Wort, das Sehnsüchte weckt. Es ist der Name eines russischen Seehafens am Nordmeer, 250 Kilometer nördlich des Polarkreises und etwa 150 Kilometer östlich der Grenze zu Finnland gelegen. Die Marinebasis ist als Schiffsfriedhof berühmt-berüchtigt. Dutzende Reaktorschiffswracks verrotten und vergiften das Meer, so wie schon die Strahlung der größten überirdischen Atomexplosion aller Zeiten seit sechzig Jahren »im Wasser, in der Luft, in den Tieren und den Menschen« unsichtbar wirkt.
Hier verbrachte Juri Rubinowitch seine triste Kindheit und harte Jugend, bis er mit dreiundzwanzig fortzog und sich in den USA ein gutes Leben als Ornithologe einrichtete. Obwohl er sich bei seiner Abreise geschworen hatte, »nie wieder zurückzukehren«, fliegt er 2017 (weitere dreiundzwanzig Jahre später) in seine Heimatstadt zurück. Er tut das weder aus eigenem Antrieb noch gern, sondern weil ihn auf verschlungenen Wegen der Wunsch seines sterbenskranken Vaters nach einem Wiedersehen erreicht hat. Mit seiner Reise hebt Juri eine jahrelange Barriere des Schweigens und der emotionalen Separation auf und kann selbst nur diffus umschreiben, was ihn dazu bewogen hat – ganz sicher nicht Reue, aber vielleicht der Impuls, ein »Zeichen« senden, »Frieden schließen«, Selbstvorwürfen vorbeugen zu wollen, die »ausgestreckte Hand nicht ergriffen zu haben«.
Denn die Beziehungen in der Familie Rubinowitch sind schon seit sieben Jahrzehnten schwer belastet, hochproblematisch und geheimnisumwittert. Juris Großeltern waren in der Stalin-Ära wichtige Wissenschaftler, die Uranvorkommen aufspüren und nutzen halfen. Soweit Juri weiß, starb seine Großmutter Klara Anfang der Fünfzigerjahre, also lange vor seiner Geburt, an TBC, und seinen Großvater Anton hat er nur als in sich gekehrten, melancholischen alten Mann in Erinnerung. Ihr Sohn Rubin, sein Vater, war als Kapitän eines Fischtrawlers ein respektierter Mann mit dem Privileg, eine der begehrten modernen Wohnungen mit Küche und Toilette in den neuen sowjetischen Wohnblocks zu beziehen. Rubins Frau Reva hatte sich von der Heirat sozialen Aufstieg erhofft, aber der Seemann entpuppte sich als gewalttätiger, untreuer Säufer. Schließlich starb sie »ebenso unbeachtet …, wie sie gelebt hatte«.
Juris Leben entwickelt sich in diesem Umfeld zu einem Martyrium voller Prügel und ohne Liebe. Nicht einmal seine Mutter hatte ihm Zärtlichkeiten geschenkt, so »dass er sich an jeden einzelnen Kuss von ihr erinnern konnte«. Wenn der Vater nach Monaten auf See seinen ungeliebten Sohn wiedersieht, gerät er über dessen Schwäche, Zaghaftigkeit und Introvertiertheit in unkontrollierten Zorn und schlägt und demütigt ihn hemmungslos. Damit er ein echter Mann werde, verordnet er ihm harte Trainingseinheiten, Später zwingt er ihn zu einer rauen Fischfangtour, um ihn dem wahren Leben auszusetzen.
Nun steht Juri am Sterbebett dieses herzlosen alten Menschen, ohne Gefühle der Anteilnahme für ihn aufzubringen. Doch ihn erwartet Überraschendes. Ehe es zu spät ist, enthüllt ihm Rubin ein Geheimnis um seine Mutter Klara. Sie galt stets als Wurzel allen Übels der Familie, sie habe Rubins Leben verpfuscht, aber alles Konkretere war tabu. Jetzt ist die Zeit reif, über das Schicksal der Frau zu sprechen. Sie arbeitete als Wissenschaftlerin in leitender Funktion, ihr Mann Anton war als wissenschaftlicher Mitarbeiter ihr Untergebener. Auf dem Höhepunkt der stalinistischen Willkürherrschaft wurde sie verhaftet, wodurch Anton und Rubin, ihr fünfjähriger Sohn, zurückblieben. Merkwürdigerweise haben die beiden niemals den Versuch unternommen, die wahren Umstände der Verhaftung und den Verbleib der Ehefrau und Mutter zu erkunden.
Erst jetzt auf dem Totenbett möchte Rubin die ganze Wahrheit erfahren und beauftragt seinen Sohn zu recherchieren. Juri steht ein langer, steiniger Weg bevor – zurück durch drei Generationen einer Familie, die manch dunkle Geheimnisse bewahrt, und in die brutale Vergangenheit des Stalinismus.
Isabelle Autissier, französische Weltumseglerin und Schriftstellerin, hat nach ihrem beeindruckenden Debütroman »Herz auf Eis« [› Rezension] mit dem Nachfolger »Oublier Klara« einen thematisch und inhaltlich völlig andersartigen Roman vorgelegt. (Die deutsche Übersetzung hat wieder Kirsten Gleinig gefertigt.) Sie erzählt vom Schicksal einer Frau, die mitten aus ihrem Alltag heraus spurlos verschwindet wie Millionen Sowjetbürger in jener dunklen Zeit. Indem sie ihren drei Protagonisten Juri, Rubin und Klara jeweils eine eigene Erzählstimme gibt, um ihr Leben individuell darzustellen, entwickelt sie einen feinfühligen, atmosphärisch dichten Roman, durch dessen Innenperspektiven der Leser den Figuren in ihrer Auseinandersetzung mit den äußerst schwierigen Zeitumständen sehr nahe kommt. Entbehrung, Unterdrückung und Gewalt dominieren, Glück ist ein Ausnahmezustand. Juri findet es, wenn er den Flug der Gänse und Eiderenten studiert und sich dabei in ein freieres Leben hineinträumt. Rubin geht in seinen Fischfangexpeditionen im Polarmeer auf, die die Autorin als packende Kämpfe auf Leben und Tod in tosender See schildert.
Juris Recherchen sind mühselig. Er studiert Klaras eigene Aufzeichnungen in ihrem Geografiebuch, erhält spärliche Unterlagen von einer Menschenrechtsorganisation (deren Arbeit im Auftrag Putins behindert wird) und folgt hartnäckig jedem kleinsten Hinweis. So erfährt er, was für eine Schande die Verhaftung einer politischen Dissidentin für ihre Familie bedeutete. Einen solchen Makel konnte man allenfalls mildern, indem man die Person »vergaß«, also jede Erinnerung an sie auslöschte und sich nahtlos in das politische System einfügte.
Juri soll Klara also aus dem Vergessen wiederholen. Er kann ihren Weg durch diverse Lager verfolgen, wo sie grausame Behandlungen durchlitt. Schließlich wird sie auf eine Insel gebracht, um wieder als Geologin zu arbeiten. Dort lernt sie indigene Nomaden kennen, die ihr in ihrem weiterhin lebensbedrohend wechselhaften Schicksal zeitweise Sicherheit verschaffen können. Dann verliert sich ihre Spur.
Isabelle Autissiers dicht gefüllter Roman ist allumfassend. Die spannende, zutiefst berührende Familiengeschichte eröffnet dem Enkel nicht nur die Geheimnisse um Klara, sondern auch die enge Verquicktheit der Schicksale seiner Großeltern, seines Vaters und seines eigenen. Die private Erzählung steht auf dem historisch realen Unterbau der jüngeren Geschichte Russlands seit Stalin über den Kalten Krieg und die Perestroika bis zu Putin. Hervorragend detailreiche Beschreibungen vermitteln Aussehen und Lebensgefühl der sich verändernden Phasen – Großstädte und menschenleere Tundra, Wohnblocks und Nomadenzelte, Aufbau und Verfall, ewige Jahreszeiten, uralte Legenden und modernste westliche Einflüsse. Mit all dem illustriert die Autorin, was vom Menschen in einem totalitären System bleibt. Sie zeichnet ein skeptisches Menschenbild, in dem das Böse überwiegt. Missgunst und Denunziation im unerbittlichen Konkurrenzkampf sind alltäglich, aber um nicht unterzugehen, erscheint bisweilen selbst ein Mord unausweichlich.