
Long Bright River
von Liz Moore
In einer apokalyptisch anmutenden Hochburg der Drogen, der Prostitution und der Kriminalität tötet ein Serienmörder junge Frauen. Eine tapfere Streifenpolizistin, die um ihre eigene prekäre Existenz ringen muss, nimmt seine Spur auf.
Leben, wo nur Tod ist
Die Geschichte, die Liz Moore unter dem trügerischen Titel »Long Bright River« erzählt, ist nichts weniger als ein einziger Albtraum. Als sich 1683 dreizehn Quäker- und Mennonitenfamilien aus Krefeld in der Nähe des Delaware ansiedelten, mag ihnen der ruhig und klar dahinfließende Strom wie eine paradiesische Variante des Rheins erschienen sein, von dessen Ufern sie vor Elend, Unfreiheit und Verfolgung über den Ozean aufgebrochen waren. Wo sie ihr Germantown erbauten, liegt heute Kensington, eines der schlimmsten Armuts- und Drogenviertel der Eineinhalb-Millionen-Metropole Philadelphia, und dort ist nicht die entfernteste Reminiszenz an ein Paradies zu entdecken.
Der Plot dieses Kriminal- und Gesellschaftsromans ist sehr konkret mit der Realität dieser Stadt verwoben. Unter der Schlagzeile »Trapped by the Walmart of Heroin « berichtete die New York Times am 10. Oktober 2018 von den erschreckenden Zuständen entlang der Kensington Avenue, »the largest open-air narcotics market for heroin on the East Coast«, einer Zone unsäglichen Leids, wo Fixer, Junkies, Dealer, Kriminelle, Prostituierte und Obdachlose ein trauriges Leben am Rande des allgegenwärtigen Todes fristen. »Kensington-Rutsche« nennen manche Sarkastiker die Straße: »Die Hälfte der Leute auf den Gehwegen sinkt allmählich Richtung Erde, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen können.«
In dem desaströsen Umfeld aus Gesetzlosigkeit, Armut, Sucht und Verzweiflung macht die wackere Protagonistin und Ich-Erzählerin dieses Romans ihren Job als Streifenpolizistin. Michaela (»Mickey«) Fitzpatrick, 32, muss dafür ihre ganze Kraft aufbringen, obwohl ihre private Existenz sie schon bis zum Äußersten fordert. Aus der prekären Geschichte ihrer eigenen Familie ist sie als Einzige mit einem bürgerlichen Broterwerb hervorgegangen, doch Sicherheit kann ihr der nicht geben. Seit der Vater ihres Sohnes die Unterhaltszahlungen eingestellt hat, musste sie den Vierjährigen aus der privaten Kita nehmen, seinem Freundeskreis entreißen und ihr Haus verkaufen. Ihr Vorgesetzter, Sergeant Kevin Ahearn, weiß nichts von den privaten Problemen der alleinerziehenden Mutter, registriert jedoch sehr wohl, dass sie häufig zu spät zum Dienst erscheint.
Schon Mickeys Mutter starb Ende der Achtzigerjahre den Drogentod. Daraufhin nahm die lieblose, gefühlskalte Großmutter Mickey und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Kacey bei sich auf. Die beiden Mädchen waren unzertrennlich, schliefen in einem Bett, vertrauten sich ihre Geheimnisse an. Doch sie sind unterschiedliche Charaktere. Mickey ist zurückhaltend, introvertiert, bereit, Verantwortung für die Jüngere zu übernehmen. Kacey fiel durch unruhiges Verhalten und schrille Kleidung auf, setzte sich resolut für Schwächere, ungerecht behandelte Mitschüler ein. Nach Alkoholexzessen, Medikamentenmissbrauch und Schulverweisen entfernte sie sich von Mickey. Als sie mit sechzehn Jahren nach einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert wurde, warf die Großmutter sie aus dem Haus, hatte sie doch bereits mit ihrer Tochter alle Etappen der Sucht durchlitten und wollte die Hölle nicht noch einmal durchleben. Damit war Kaceys Abstieg freilich vorgezeichnet. Nun ist Kacey schon seit fünf Jahren verschwunden und die Suche nach ihr Mickeys Hauptanliegen neben der Fürsorge für ihren Sohn.
Im Übrigen belastet Mickeys Gewissen ein Ereignis aus ihrem Streifendienst. Mehr als zehn Jahre war sie mit dem erfahrenen älteren Polizisten Truman Dawes unterwegs gewesen, als ihn ein Kleinkrimineller mit einem Baseballschläger niederschlug. Sie verfolgte den Aggressor, ließ ihn aber laufen, als er sie mit einer Waffe bedrohte. Seither fühlt sie sich schuldig, feige versagt zu haben. Aber Truman blieb bis heute ihr engster Vertrauter.
An Trumans Stelle wurde Mickey ein spätberufener Quereinsteiger zugeteilt, fast zehn Jahre älter als sie. Durch Angeberei und Strebertum verscherzt sich der so unsympathische wie unerfahrene Eddie Lafferty von Anfang an die Sympathie seiner Kollegin. Dennoch muss sie natürlich mit ihm zusammenarbeiten, auch als an einem stillgelegten Bahngleis eine weibliche Leiche gefunden wird. Immer wenn es sich wie hier um eine Drogentote handelt, fällt es Mickey besonders schwer, routiniert ihren Job zu erledigen, denn augenblicklich schießt ihr durch den Kopf, das Opfer könnte ihre Schwester sein.
Der Plot dieses aufwühlenden Romans entwickelt sich langsam und in zwei Richtungen. Rückblickend eröffnet sich uns die leidvolle Geschichte einer hoffnungslosen, dysfunktionalen Familie. In der erzählten Zeit voranschreitend folgen wir mit Mickey der Spur eines Serienkillers, der junge Prostituierte ermordet. Darüber hinaus lässt die Autorin aber mit beeindruckender Beobachtungsgabe das deprimierende Setting der Handlung vor unserem inneren Auge erstehen. Die Wechselwirkung zwischen dem Stadtbild und dem Schicksal der Bewohner schlägt sich in den realitätsnahen, teils reportageähnlichen Schilderungen nieder (»stuckverzierte Backsteinhäuser … vom Unglück ihrer Bewohner heimgesucht … Gassen … hinter den Häusern …, als hätten diese sich über die Passanten geärgert und ihnen eingeschnappt die Kehrseite zugewandt … der typische Geruch … die Eiseskälte [leerstehender Fixerhäuser] mit ihren zugenagelten Fenstern … Matratzen … übersät mit Pappe und Mülltüten … In einem Badezimmer fehlen Klo und Wanne: Es sind nur noch zwei gähnende Löcher im Boden vorhanden«). Da rotten ehemalige Fabrikgebäude vor sich hin, Brachland verwildert, in verfallenen Ruinen spritzen sich Abhängige gestrecktes Heroin oder werfen abenteuerlich gemixte Pillen ein, in verwahrlosten Blocks finden Suchtkranke Unterschlupf und Hilfe im Entzug.
Mickey, die sich in dieser trostlosen Gegend mit traumwandlerischer Sicherheit bewegt, könnte ein guter Cop sein, stünde sie nicht permanent unter emotionalem Druck. Die Angst, ihre Schwester in dieser Umgebung tot aufzufinden, verengt sie immer stärker (»Ich kann fast mein Herz schmecken … Als wäre es irgendwie hochgerutscht und versuchte, durch meine Kehle zu entwischen.«). Überdies belastet sie, wie wir von Anfang an spüren, ein düsteres Geheimnis, das sie nicht einmal Truman zu enthüllen wagt. Über Jahre versucht sie die Geschichte zu verdrängen, doch deren Sprengkraft ist übermächtig.
Stütze und Last zugleich ist Thomas, Mickeys intelligenter und sensibler Sohn, den sie über alles liebt. Wenn sie Schichtdienst hat, muss sie ihn einer Babysitterin anvertrauen, wohl wissend, wie er seelisch und körperlich unter ihrer Abwesenheit leidet. Sie tut alles, um ihm zuteil werden zu lassen, was in ihrer eigenen Kindheit fehlte – Liebe, Bildung, Freude. Doch ihre Lebensumstände konterkarieren ihre Bestrebungen auf ergreifende Weise. Zum tragischen Kulminationspunkt entwickelt sich die liebevoll geplante kleine Party zu Thomas’ fünftem Geburtstag in einer McDonalds-Filiale in einem besseren Wohnviertel Philadelphias. Nicht nur das Kind und seine Mutter, auch der Leser wird die quälende Szene niemals vergessen.
Liz Moores fesselnder, erschütternder und bitterer Kriminalroman, von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann kongenial übersetzt, beginnt mit dem Fund einer Leiche und endet mit der Geburt eines Kindes. Die Rahmung möchte man gern als Flämmchen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft interpretieren. Doch weit gefehlt. Das Baby war bereits im Leib seiner drogensüchtigen Mutter dem Tod geweiht. Kaum auf der Welt, schreit es vor Schmerzen und wird auf der Intensivstation notdürftig medikamentös versorgt. Am Ende erweist sich »Long Bright River« als »ein langer, leuchtender Fluss verstorbener Seelen«.
Dieses Buch ist eine triste Lektüre. Dennoch habe ich es in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2020 aufgenommen.
Nachtrag: Im Juli 2020 erschien übrigens ein weiterer Roman, der sich mit der Opioidkrise befasst: Lee Childs »Der Bluthund« [› Rezension].