Rezension zu »Long Bright River« von Liz Moore

Long Bright River

von


In einer apokalyptisch anmutenden Hochburg der Drogen, der Prostitution und der Kriminalität tötet ein Serienmörder junge Frauen. Eine tapfere Streifenpolizistin, die um ihre eigene prekäre Existenz ringen muss, nimmt seine Spur auf.
Kriminalroman · C.H. Beck · · 413 S. · ISBN 9783406748844
Sprache: de · Herkunft: us

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Leben, wo nur Tod ist

Rezension vom 25.03.2020 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Die Geschichte, die Liz Moore unter dem trügeri­schen Titel »Long Bright River« erzählt, ist nichts weniger als ein einziger Albtraum. Als sich 1683 dreizehn Quäker- und Mennoniten­familien aus Krefeld in der Nähe des Delaware ansie­delten, mag ihnen der ruhig und klar dahin­fließende Strom wie eine paradie­sische Variante des Rheins erschie­nen sein, von dessen Ufern sie vor Elend, Unfrei­heit und Verfol­gung über den Ozean aufge­brochen waren. Wo sie ihr German­town erbauten, liegt heute Kensing­ton, eines der schlimms­ten Armuts- und Drogen­viertel der Einein­halb-Millionen-Metro­pole Phila­delphia, und dort ist nicht die entfern­teste Reminis­zenz an ein Paradies zu entdecken.

Der Plot dieses Kriminal- und Gesellschafts­romans ist sehr konkret mit der Realität dieser Stadt verwoben. Unter der Schlag­zeile »Trapped by the Walmart of Heroin « berich­tete die New York Times am 10. Oktober 2018 von den erschre­ckenden Zuständen entlang der Kensing­ton Avenue, »the largest open-air narcotics market for heroin on the East Coast«, einer Zone unsäg­lichen Leids, wo Fixer, Junkies, Dealer, Krimi­nelle, Prostitu­ierte und Obdach­lose ein trauriges Leben am Rande des allgegen­wärtigen Todes fristen. »Kensing­ton-Rutsche« nennen manche Sarkas­tiker die Straße: »Die Hälfte der Leute auf den Gehwegen sinkt allmäh­lich Richtung Erde, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen können.«

In dem desaströsen Umfeld aus Gesetz­losig­keit, Armut, Sucht und Ver­zweif­lung macht die wackere Protago­nistin und Ich-Erzäh­lerin dieses Romans ihren Job als Streifen­poli­zistin. Michaela (»Mickey«) Fitz­patrick, 32, muss dafür ihre ganze Kraft auf­bringen, obwohl ihre private Existenz sie schon bis zum Äußersten fordert. Aus der prekären Ge­schichte ihrer eigenen Familie ist sie als Einzige mit einem bürger­lichen Broter­werb hervor­gegan­gen, doch Sicher­heit kann ihr der nicht geben. Seit der Vater ihres Sohnes die Unter­halts­zahlun­gen einge­stellt hat, musste sie den Vierjäh­rigen aus der privaten Kita nehmen, seinem Freundes­kreis entreißen und ihr Haus verkaufen. Ihr Vorge­setzter, Sergeant Kevin Ahearn, weiß nichts von den privaten Problemen der allein­erziehen­den Mutter, regis­triert jedoch sehr wohl, dass sie häufig zu spät zum Dienst erscheint.

Schon Mickeys Mutter starb Ende der Achtziger­jahre den Drogen­tod. Darauf­hin nahm die lieb­lose, gefühls­kalte Groß­mutter Mickey und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Kacey bei sich auf. Die beiden Mädchen waren unzer­trenn­lich, schliefen in einem Bett, vertrau­ten sich ihre Geheim­nisse an. Doch sie sind unter­schied­liche Charak­tere. Mickey ist zurück­haltend, intro­vertiert, bereit, Verant­wortung für die Jüngere zu über­nehmen. Kacey fiel durch unruhi­ges Verhalten und schrille Kleidung auf, setzte sich resolut für Schwächere, unge­recht behan­delte Mit­schüler ein. Nach Alkohol­exzes­sen, Medika­menten­miss­brauch und Schul­verwei­sen ent­fernte sie sich von Mickey. Als sie mit sech­zehn Jahren nach einer Über­dosis ins Kranken­haus einge­liefert wurde, warf die Groß­mutter sie aus dem Haus, hatte sie doch bereits mit ihrer Tochter alle Etappen der Sucht durch­litten und wollte die Hölle nicht noch einmal durch­leben. Damit war Kaceys Abstieg freilich vorge­zeich­net. Nun ist Kacey schon seit fünf Jahren ver­schwun­den und die Suche nach ihr Mickeys Haupt­anliegen neben der Fürsorge für ihren Sohn.

Im Übrigen belastet Mickeys Gewissen ein Ereignis aus ihrem Streifen­dienst. Mehr als zehn Jahre war sie mit dem erfah­renen älteren Poli­zisten Truman Dawes unterwegs gewesen, als ihn ein Klein­krimi­neller mit einem Base­ball­schläger nieder­schlug. Sie verfolgte den Aggressor, ließ ihn aber laufen, als er sie mit einer Waffe bedrohte. Seither fühlt sie sich schuldig, feige versagt zu haben. Aber Truman blieb bis heute ihr engster Ver­trauter.

An Trumans Stelle wurde Mickey ein spät­beru­fener Quer­einstei­ger zugeteilt, fast zehn Jahre älter als sie. Durch Angeberei und Streber­tum ver­scherzt sich der so unsym­pathi­sche wie uner­fahrene Eddie Lafferty von Anfang an die Sympathie seiner Kollegin. Dennoch muss sie natürlich mit ihm zu­sammen­arbei­ten, auch als an einem still­geleg­ten Bahn­gleis eine weib­liche Leiche gefunden wird. Immer wenn es sich wie hier um eine Drogen­tote handelt, fällt es Mickey besonders schwer, routi­niert ihren Job zu erledigen, denn augen­blick­lich schießt ihr durch den Kopf, das Opfer könnte ihre Schwester sein.

Der Plot dieses aufwühlenden Romans entwickelt sich langsam und in zwei Rich­tungen. Rück­blickend eröffnet sich uns die leid­volle Geschichte einer hoffnungs­losen, dys­funktio­nalen Familie. In der erzähl­ten Zeit voran­schrei­tend folgen wir mit Mickey der Spur eines Serien­killers, der junge Prostitu­ierte ermordet. Darüber hinaus lässt die Autorin aber mit beein­drucken­der Be­obach­tungs­gabe das deprimie­rende Setting der Handlung vor unserem inneren Auge erstehen. Die Wechsel­wirkung zwischen dem Stadt­bild und dem Schick­sal der Bewoh­ner schlägt sich in den realitäts­nahen, teils reportage­ähnli­chen Schil­derun­gen nieder (»stuckver­zierte Back­stein­häuser … vom Unglück ihrer Bewohner heimge­sucht … Gassen … hinter den Häusern …, als hätten diese sich über die Passanten geärgert und ihnen einge­schnappt die Kehr­seite zuge­wandt … der typische Geruch … die Eises­kälte [leer­stehen­der Fixer­häuser] mit ihren zuge­nagel­ten Fenstern … Matratzen … übersät mit Pappe und Müll­tüten … In einem Bade­zimmer fehlen Klo und Wanne: Es sind nur noch zwei gähnende Löcher im Boden vorhanden«). Da rotten ehemalige Fabrik­gebäude vor sich hin, Brach­land verwildert, in verfal­lenen Ruinen spritzen sich Abhän­gige gestreck­tes Heroin oder werfen aben­teuer­lich gemixte Pillen ein, in verwahr­losten Blocks finden Sucht­kranke Unter­schlupf und Hilfe im Entzug.

Mickey, die sich in dieser trost­losen Gegend mit traum­wandle­rischer Sicher­heit bewegt, könnte ein guter Cop sein, stünde sie nicht permanent unter emotio­nalem Druck. Die Angst, ihre Schwester in dieser Umgebung tot aufzu­finden, verengt sie immer stärker (»Ich kann fast mein Herz schmecken … Als wäre es irgendwie hochge­rutscht und versuchte, durch meine Kehle zu entwi­schen.«). Überdies belastet sie, wie wir von Anfang an spüren, ein düsteres Geheimnis, das sie nicht einmal Truman zu enthüllen wagt. Über Jahre versucht sie die Ge­schichte zu verdrän­gen, doch deren Spreng­kraft ist über­mächtig.

Stütze und Last zugleich ist Thomas, Mickeys intelligenter und sensibler Sohn, den sie über alles liebt. Wenn sie Schicht­dienst hat, muss sie ihn einer Baby­sitterin anver­trauen, wohl wissend, wie er seelisch und körper­lich unter ihrer Abwesen­heit leidet. Sie tut alles, um ihm zuteil werden zu lassen, was in ihrer eigenen Kindheit fehlte – Liebe, Bildung, Freude. Doch ihre Lebens­umstände konter­karieren ihre Bestre­bungen auf ergrei­fende Weise. Zum tragi­schen Kulmi­nations­punkt entwi­ckelt sich die liebevoll geplante kleine Party zu Thomas’ fünftem Geburts­tag in einer McDonalds-Filiale in einem besseren Wohn­viertel Phila­delphias. Nicht nur das Kind und seine Mutter, auch der Leser wird die quälende Szene niemals vergessen.

Liz Moores fesselnder, erschütternder und bitterer Kriminal­roman, von Ulrike Wasel und Klaus Timmer­mann kongenial über­setzt, beginnt mit dem Fund einer Leiche und endet mit der Geburt eines Kindes. Die Rahmung möchte man gern als Flämm­chen der Hoff­nung auf eine bessere Zukunft inter­pretie­ren. Doch weit gefehlt. Das Baby war bereits im Leib seiner drogen­süchtigen Mutter dem Tod geweiht. Kaum auf der Welt, schreit es vor Schmerzen und wird auf der Intensiv­station not­dürftig medika­mentös versorgt. Am Ende erweist sich »Long Bright River« Liz Moore: »Long Bright River« bei Amazon als »ein langer, leuch­tender Fluss verstor­bener Seelen«.

Dieses Buch ist eine triste Lektüre. Dennoch habe ich es in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2020 aufgenommen.

Nachtrag: Im Juli 2020 erschien übrigens ein weiterer Roman, der sich mit der Opioid­krise befasst: Lee Childs »Der Bluthund« [› Rezension].


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