Rezension zu »Das Lied vom Tun und Lassen« von Jan Böttcher

Das Lied vom Tun und Lassen

von


Belletristik · Rowohlt · · Gebunden · 316 S. · ISBN 9783498006587
Sprache: de · Herkunft: de

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Rezension vom 23.10.2011 · 4 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Der 60-jährige Musik- und Englischlehrer Manuel Mauss hat Sommerferien. Eigentlich könnte er jetzt im Garten seines Bauernhauses relaxen oder in dem alten ehemaligen Backhaus seine Musikanlage aufdrehen und seine Plattensammlung abspielen.

Doch zunächst muss er mit dem einarmigen Hausmeister sämtliche Werkbänke aus der Werkstatt im Keller der Privatschule auf den Dachboden schleppen. Mit seinem letzten Abi-Jahrgang hatte Mauss nämlich Instrumente gebaut. Aber damit ist nun endgültig Schluss.

Mauss ist ein Kauz, beliebt bei den Schülern, aber unbeliebt bei seinen Kollegen, die seinen sehr speziellen Unterrichtsstil teils neidisch belächeln, teils verurteilend ablehnen. Zwar gilt er als streng und konsequent, aber mit seinen Projekten biedere er sich bei seinen Schülern an, heißt es. Auch auf dem Pausenhof umgibt er sich gern mit ihnen, lädt sie zu offenen Diskussionsrunden ein, duzt sich mit ihnen. In seinem Musik-Leistungskurs hat er ein tolles Projekt durchgezogen, unter Einsatz aller modernen Medien. Fasziniert von dem freien Unterrichtstil erklärten viele Eleven Mauss zu ihrem Lieblingslehrer. Doch wie schnell Schüler ihre schulischen Bande lösen, auch ihre Favoriten ad acta legen, wird Mauss später leidvoll feststellen. Nach dem Abitur setzen einige von ihnen sein Projekt in die Praxis um, gründen die Musikband "Animal Museums", touren durch Frankreich und Spanien und geben Konzerte. Ihre Kontakte zu Mauss als Internet-Manager werden immer weniger.

Mauss' starke Orientierung auf seine Schüler offenbart seine Lebensunsicherheit. In den Pausen meidet er seine Kollegen bewusst; statt im Lehrerzimmer findet man ihn im Keller-Werkraum auf seinem Sofa liegend. Auch in seinem Dorf hält er einzig Kontakt zu einem anderen schrägen Vogel, Singer, der ein altes, baufälliges Haus gekauft hat und alles in Eigenarbeit renovieren möchte.

Clarissa Winterhof saß in Mauss' Abi-Jahrgang – eine sehr leistungsstarke Schülerin und eine Außenseiterin. Doch in den letzten Jahren hat sie sich gewandelt: Sie verweigert Leistungen, ist verschlossen, kleidet sich immer schwarz, sucht nach dem "Wir" in der Gruppe. In der Band ist sie integriert, aber wirklich glücklich und frei ist sie nicht. All ihre Gedanken, Gefühle und Ereignisse vertraut sie einem Tagebuch-Blog im Internet an. Sie ist die einzige, die mit dem Selbstmord ihrer Klassenkameradin Meret nicht so leicht fertig wird. Warum ist Meret vom Dach der Schule gesprungen?

Um dieser Frage nachzugehen, kommt auch ein Gutachter der Schulbehörde zur Inspektion: Johannes Engler hospitiert in Unterrichtsstunden, macht sich eine Bild vom Gebäude und vom Tatort, sammelt Eindrücke – und trifft auf Clarissa.

Engler ist geschieden (Frau und Sohn leben in Potsdam) und in Geldnöten. Er wirkt unsicher und orientierungslos. In seinem Pensionszimmer schüttet Clarissa ihm ihr Herz aus: Seit Merets Tod sei das Leben so sinnlos; die Ignoranz und die Trauerresistenz ihrer Klassenkameraden seien ihr unerträglich. Ihrer Vertraulichkeit und ihren Annäherungsversuchen kann Engler nicht widerstehen.

Jedem der drei Protagonisten, die sich begegnen, miteinander kommunizieren und Gemeinsames erleben, ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Was als eine Wahrheit erscheint, ergibt sich aus jeder jeweiligen Perspektive ganz neu, wird relativiert, gebrochen, in Frage gestellt. So glaubt Engler, Clarissa sei zudringlich geworden, während Clarissa ihn längst gerne los wäre, seine ständigen Anrufe nervig findet. Mauss wiederum interpretiert Clarissas Erscheinungsbild – sie sei abgemagert, weinerlich, verschlossen, aggressiv im Gespräch – als Folge von Liebesleid: Sie hatte was mit einem älteren Mann ...

Der junge Autor und Musiker Jan Böttcher, 1973 in Lüneburg geboren, hat zweifellos literarische und musikalische Qualitäten. Für seinen Roman "Geld oder Leben" erhielt er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2007 den Ernst-Willner-Preis. Dennoch hat mich "Das Lied vom Tun und Lassen" nicht recht fesseln können. Da wechseln Passagen im Berichtsstil, in Dialogform, teils sehr persönliche, dann wieder ganz sachlich-distanzierte einander ab, unterstützt durch Kursivdruck – alles gut ausgeführt, abwechslungsreich und funktional legitimiert, aber trotzdem wirkt diese Erzählweise konstruiert, zu stilisiert. Da obendrein (bzw. entsprechend) auch die drei Protagonisten eigenwillig charakterisiert sind, habe ich mich nie emotional berührt gefühlt. Bis zum Ende des Romans bleiben sie ihren Problemen verhaftet und künstlich. Außerdem hängt über allem die große Frage, warum Meret sich denn nun umgebracht hat. Wir erfahren, dass sie immer schon unter Depressionen litt, Tabletten dagegen einnahm, gemobbt wurde. Aber diese Spuren sind denn doch ein bisschen dürftig, und der Autor lässt den Leser auch hinsichtlich dieses Plots ratlos zurück. So setzt sich der Autor mit seinem Roman zwischen mehrere Stühle und besetzt keinen richtig: Will er das Suizid- oder das Mobbing- oder ein Schüler-Lehrer- oder ein Beziehungsthema bearbeiten, oder möchte er die Relativierung von Wahrheit gestalten, oder stand das sprachliche Spiel mit Perspektiven und Stilmitteln im Zentrum seiner Aufmerksamkeit?


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»Das Lied vom Tun und Lassen« von Jan Böttcher
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Kommentare

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Zu »Das Lied vom Tun und Lassen« von Jan Böttcher wurden 1 Kommentare verfasst:

humbet schrieb am 24.07.2013:

Die Rezension bringt es auf den Punkt! Dennoch lohnt es sich in jedem Fall, alle drei Charaktere zu lesen ... Wenig bis nichts geklärt - wie im Leben...?

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