Ein Krimi, eine Lovestory und noch viel mehr
Der historische Krimi "Todesinstinkt" von Jed Rubenfeld ist ein schwergewichtiger Schmöker von über 600 Seiten. Vor dem Hintergrund tatsächlicher historischer Ereignisse in Amerika und Europa entwickelt der Autor seine Fiktion. Zwei parallel verlaufende Handlungsstränge durchziehen den gesamten Roman.
Am 16. September 1920 erlebte Amerika den bis dahin größten Terrorakt seiner Geschichte. Vor dem Bankhaus J.P. Morgan an der Wall Street explodiert eine Bombe. 38 Menschen sterben, viele Unschuldige werden verletzt. 1944 schließt das FBI die Akten: Die Täter wurden nie gefasst; allein ein Verdacht – die Mutmaßung, es sei das Werk italienischer Anarchisten gewesen – blieb haften.
Welch eine Chance für Jed Rubenfeld, diese Lücke mit Inhalt zu füllen. Sein Protagonist, Jimmy Littlemore, Detective der New Yorker Polizei, wird auf akribische Weise die Hintergründe zu diesem Attentat aufdecken.
Natürlich hat er einen Gegenspieler beim FBI, der ihn ausbremsen will. Doch Littlemore lässt sich nicht beirren, erhält Unterstützung vom Finanzminister, wird nach Washington versetzt und hinterfragt eigenartige Zusammenhänge: Just am Tag der gigantischen Explosion wurden in einer höchst geheimen Aktion die amerikanischen Goldreserven vom Schatzamt in neue, sichere Tresorräume transportiert; ein Wachmann starb, Goldbarren verschwanden ... Kann das Zufall sein? Der Autor führt Littlemore mit Zeugen des realen Ereignisses und seines Umfeldes zusammen, wie zum Beispiel mit Edwin Fisher, einem Geheimagenten, der ein Zweiergespräch belauscht hatte, dessen Inhalt der geplante Wall-Street-Anschlag war. Littlemore deckt eine Schmiergeldaffäre auf, die fast zu einem Krieg zwischen Amerika und Mexiko geführt hätte. Wer sind die wahren Drahtzieher?
Im zweiten Handlungsstrang treffen wir Dr. Stratham Younger, Arzt und Psychoanalytiker, der in Begleitung einer jungen, hübschen Physikerin, Colette Rousseau, aus Frankreich nach New York gekommen ist. Sie sind mit Freund Littlemore in unmittelbarer Nähe des Anschlagsortes verabredet.
Dr. Younger hatte Colette im 1. Weltkrieg kennengelernt, als sie – damals ganz ungewöhnlich für eine Frau – einen Lastwagen lenkte. In dem befand sich ein Röntgengerät, das Younger bei seinen Operationen im Feldlazarett beste Dienste leistete. An ihrer Seite hatte Colette stets ihren jüngeren Bruder Luc, der nach dem Trauma eines Kriegs-Massakers in seinem Dorf das Sprechen eingestellt hatte. Younger verliebte sich in die unnahbare, spröde Wissenschaftlerin, doch sie wies sein Werben konsequent ab. Wahrscheinlich liebt sie noch immer den Mann, den sie im Krieg kennengelernt hatte, und nur die Suche nach dem Verschollenen treibt sie an. So reist sie durch halb Europa – und Younger immer hinterher.
Rubenfeld hat dem Roman den Titel "Todesinstinkt" (im Original "The Death Instinct") gegeben. Todestrieb – als Gegenpol zum Sexualtrieb – ist einer der umstrittensten Begriffe in Sigmund Freuds Theorien zur Psychoanalyse. Er äußert sich in Formen der Autoaggression bis hin zum Selbstmord. Viele Soldaten des 1. Weltkriegs kehrten derart traumatisiert zurück; niemand verstand ihr seltsames Verhalten, niemand konnte helfen. In der Handlung des Romans überzeugt Dr. Younger Colette, dass sie ihren Bruder bei Sigmund Freud in Wien therapieren lassen solle.
Über Colette findet eine weitere Koryphäe der Wissenschaften Eingang in die fiktive Handlung: Sie war nämlich eine der besten Schülerinnen von Madame Marie Curie, bis heute die einzige Frau, der zweimal ein Nobelpreis in unterschiedlichen Disziplinen verliehen wurde (1903 für Physik, 1911 für Chemie). Teile ihrer Biografie baut der Autor in seinen Roman ein. Und der Autor stellt uns horrormäßig vor Augen, wie furchtbar der falsche Umgang mit Radium ist, dem Element, das Marie Curie 1898 entdeckt hatte und lange nicht nur als unbedenklich, sondern gar als gesundheitsfördernd galt. In einer New Yorker Fabrik pinselten Frauen bis 1925 ohne jeglichen Schutz Leuchtziffern auf Uhren und erkrankten am "Radiumkiefer": Ihre Gesichter waren durch Zungen- und Lippenkrebswucherungen entstellt.
Hautnah lässt Jed Rubenfeld den Leser das Zeitgeschehen miterleben: in Amerika höchste Arbeitslosigkeit, die Prohibition, das gerade eingeführte Wahlrecht für Frauen und Neger, deren systematische Verfolgung durch den Ku-Klux-Klan; in Europa leiden die Menschen nach dem Weltkrieg bittere Not (Der Hunger ist so groß, dass sie sogar Hunde essen.) , und der böse Hauch des Antisemitismus weht durchs Land.
Insgesamt fühle ich mich allerdings erschlagen von dem allzu überfrachteten, allzu breit angelegten Handlungsumfang dieses Historienkrimis. Ein bisschen weniger wäre wohltuend, intensiver und nachhaltiger gewesen. Reichlich unnötig ist zum Beispiel die Einbindung von Sigmund Freud als handelnder Figur und des mit ihm verbundenen Begriffs des Todesinstinkts, der dann auch noch den Titel liefert. Ein psychisch kranker junger Mann muss für diese Verknüpfung herhalten, denn zum Wall-Street-Anschlag und damit zur eigentlichen Krimihandlung gibt es keinerlei Bezug.