Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt
von Jaroslav Kalfar
Die »JanHus1« ist Tschechiens erstes Raumschiff, und Jakub Procházka ihr Pilot. Begeistert verfolgt das ganze Land den Start in den Orbit, aber schnell wird die Mission eintönig. Turbulent wird es in der Kapsel, als Jakubs Frau Lenka per Video-Chat Schluss mit ihm macht. Das Nachspiel auf Erden bringt Erhellendes über den Helden, die Nation und ihre Menschen.
Jakub zwischen Himmel und Erde
Tschechien eine Raumfahrtnation wie die USA, Russland und China? Jaroslav Kalfar, in Prag geboren und mit fünfzehn Jahren in die USA emigriert, spielt den Kontrast zwischen diesem Höhenflug und den geläufigen Vorurteilen gegenüber seinem Vaterland genüsslich aus. In Böhmen, so denken viele, hausen Hinterwäldler mit »ausgeprägtem Hang zu Bier und Pornographie«. Ihr Land ist nicht mit Bodenschätzen gesegnet, kann niemanden durch ein »Megamilitär« einschüchtern und kein »Fischmonopol« unterhalten wie die Skandinavier. Aber schon während ihrer kommunistischen Vergangenheit waren die Tschechen aufmüpfig gegen den sowjetischen Hegemon. Jetzt werden sie erneut beweisen, dass sie »Mumm« haben und ein »Volk der Könige und Entdecker« sind. Die Welt wird beeindruckt den Atem anhalten, wenn die Tschechische Republik einen Astronauten ins All schießt.
Der Kraftakt kann gelingen, weil man ein unfertiges, nicht mehr benötigtes Teil aus der Schweiz übernehmen kann, eine ellenlange Liste patriotischer Sponsoren bereitsteht (darunter so bedeutende Firmen wie der Dentalbedarfanbieter »SuperZub« und der führende Elektronikhersteller »Cotol«) und weil man mit Jakub Procházka, Astrophysiker an der Karls-Universität, einen Fachmann mit der prestigeträchtigen Mission betrauen kann. Acht Monate wird er Zeit haben, die geheimnisvolle violette Staubwolke zu erforschen, die sich knapp ein Jahr zuvor zwischen Erde und Venus geschoben hat.
Im April 2018 hebt die »JanHus1« unter enthusiastischer Anteilnahme aller Böhmen von einem Kartoffelacker bei Prag ab, um Geschichte zu schreiben. Für den stolzen Pionier an Bord folgt ein elend langer, einsamer Aufenthalt in der Flugkabine. Er wird die stillen Stunden nutzen, um die Rede, die er halten würde, nachdem man ihm, wie zu erwarten, den Nobelpreis verliehen hätte, in den luftleeren Raum zu flüstern.
Leider bedrücken Jakub, der uns seine Geschichte selbst erzählt, auch in der Schwerelosigkeit bleierne Gedanken. Sie kreisen um Lenka, seine geliebte Gemahlin, die er wohl oder übel zurücklassen musste. Unglücklicherweise verlief das letzte gemeinsame Frühstückszeremoniell nicht so deftig, wie Lenka es bevorzugt. Verweigerte sich Jakub endlich einmal einem Ritual, das nie seinem Gusto entsprochen hatte, oder war ihm speiübel – oder gar »himmelangst«?
Ausgerechnet jetzt, wo Jakub in seiner Kabine gefangen und gänzlich abhängig von seinen Mitmenschen auf Erden ist, verweigert sich Lenka. Sie erscheint einfach nicht mehr zum wöchentlichen Videochat. Um Jakubs Psyche nicht ins Trudeln geraten zu lassen, übernehmen Profis die Suche nach der Abgetauchten und halten den Sternenreisenden ständig auf dem Laufenden über den neuen Lebenswandel der Zielperson. Beruhigen können ihn die Botschaften freilich nicht.
Nach dreizehn Wochen ist alle Faszination des kühnen Spektakels dahin. Jakub absolviert den vom Raumfahrtteam entwickelten Tagesplan, dann übernehmen Langeweile und innere Leere. Als die Überwachungskameras eine nach der anderen ausfallen und es hier und da in seinem Gehäuse zu knarzen beginnt, überkommen Jakub erste Zweifel am Erfolg der Mission. Wird er jemals sicher zurückkehren oder eher ins Bodenlose stürzen wie die Aktien des Kamera-Spenders »Cotol«? Immerhin kann er jetzt unbeobachtet alle Fesseln abschütteln, Trainingseinheiten weglassenund seinen Gelüsten nach Süßem und Alkohol frönen.
Das Geknarze verursacht ein unterwegs zugestiegener (fragen Sie nicht, wie) blinder Passagier. Seine Beschreibung spottet jeder Beschreibung, denn sie vereint sämtliche Klischees eines Aliens aus den Hollywood-Studios der letzten fünfzig Jahre. Aber er kann viel mehr als grausig ausschauen. Er hat angenehme Umgangsformen, ist ungemein gebildet und insofern eine Bereicherung jeder interstellar fliegenden Isolierzelle. Seine Fähigkeit, tief in das Wesen seines Gegenübers einzudringen, lässt Jakub anfangs an seinem Verstand zweifeln. »Es studiert mich bis tief hinein in meinen genetischen Code. Die Spitzen seiner Beine klimpern auf Erinnerungsfäden.«
Indem sie Jakubs Nutella-Vorräte dezimieren, philosophieren die beiden über Gott und die Welt, Leben und Tod, Liebe und Fortpflanzung sowie über den Verfall der Stadt Prag zu einem Konsumtempel. Während das Wesen aus einem anderen Universum angereist ist, um den Menschen, speziell sein einzigartiges Gehirn vor Ort (und das ist wörtlich zu verstehen) zu erforschen, gewinnt auch Jakub verschärfte Einblicke über Missstände in seinem eigenen Leben und sogar zur wechselvollen Historie seines Landes. So amüsierte sich Namenspatron Jan Hus am 6. Juli 1415 mit einer lustigen Konstanzer Witwe, während auf dem Ketzer-Scheiterhaufen an seiner Stelle ein schwindsüchtiger, todgeweihter Ersatzmann brannte.
Fantasievolle Skurrilitäten wie diese und wunderbar groteske Details sorgen in diesem Science-Fiction-Roman sui generis für gute Unterhaltung. Ebenso wichtig wie der amüsant angedichtete Größenwahn der kleinen Republik sind dem Autor allerdings seine ernsten Themenkreise, wie die düstere, mit allerlei Schuld beladene Vergangenheit, die bis heute nicht vollständig aufgearbeitet wurde. Dafür steht Jakubs zwiespältige Haltung zu seinem Vater. Der war einerseits ein liebenswerter, fürsorglicher Familienmensch, andererseits Kollaborateur der Sowjets und Mitglied der Geheimpolizei, der im Dienste des diktatorischen Regimes die eigenen Landsleute grausam folterte. Nach dem mysteriösen Unfalltod der Eltern vermisst Jakub ihre Herzenswärme und ihren Schutz; gleichzeitig schämt er sich für die Taten seines Vaters, dessen große Schuld wie ein Schandfleck an ihm haftet. Seine riskante Mission ins All betrachtet Jakub als Teil der Wiedergutmachung.
Insgesamt nimmt die Menschlichkeits- und Schuldproblematik mehr Raum ein als die den Titel gebende Geschichte über die böhmische Raumfahrt. Letztere ist eine Art Odyssee im Weltraum, erstere ist sehr erdnah in Böhmen verortet und bedarf der Himmelfahrt allenfalls als Initialzündung, Inspiration und Katalysator. Insofern wirkt Jaroslav Kalfars Debütroman »The Spaceman of Bohemia« (Barbara Heller hat ihn aus dem Amerikanischen übersetzt) ein wenig unentschieden zwischen Fantastik, Historie, Klamauk, Nachdenklichkeit, Ironie, Groteske und Philosophie.