Harry und Marcus mogeln sich durch
Wo bleibt denn bloß Marcus Goldmans neues Manuskript? Sein Agent und sein Verlag verlieren langsam die Geduld, und eine immense Konventionalstrafe droht ihm, wenn er nicht endlich ein erfolgversprechendes Konzept vorlegt. Denn bevor die ganze Welt nur noch von Barack Obamas sensationellem Einzug ins Weiße Haus spricht (der immer wahrscheinlicher wird), muss Goldmans zweiter Roman mindestens so viel Furore und Kasse abgeräumt haben wie sein gefeierter Erstling.
Doch der dreißigjährige Komet am Literaturhimmel bringt kein Wort zu Papier, die Quelle seiner geistigen Inspiration ist versiegt. In seiner Not erinnert er sich an seinen Ex-Professor und Mentor Harry Quebert, der ihm Leitsätze wie diesen nahegebracht hatte: »Worte sind schön und gut ... Aber schreiben Sie nicht, um gelesen zu werden. Schreiben Sie, um sich Gehör zu verschaffen.«
Kennengelernt haben sich die beiden, als Marcus sich 1998 am Burrows College, einer »bescheidenen Provinzhochschule« in Massachusetts, einschrieb; Harry, damals 57, leitete die literarische Fakultät. Er hatte sich die höheren Weihen der Literatur Mitte der Siebziger Jahre mit seinem preisgekrönten Roman »Der Ursprung des Übels« verdient. Die skandalöse Liebesgeschichte zwischen einem 34-jährigen Mann und einer Fünfzehnjährigen hatte damals ganz Amerika fasziniert. Bald wurden die beiden mehr als enge Freunde. Der alleinstehende, introvertierte Harry entwickelte eine Art Vater-Sohn-Beziehung zu Marcus, half ihm, das Handwerk des Schreibens zu erlernen und die Angst vor dem Literaturbetrieb abzulegen (»Wissen Sie, was ein Verleger ist? Ein gescheiterter Schriftsteller, dessen Papa reichlich Kohle hatte und es ihm ermöglichen konnte, sich das Talent anderer anzueignen.«).
Inzwischen genießt Harry ein beschauliches Leben in der Abgeschiedenheit des neuenglischen Kleinstädtchens Aurora, einem der wenigen Orte Amerikas, wo das Böse keine Chance hat. In »Goose Cove«, Harrys »Schriftstellervilla« auf den Klippen über dem Meer, hofft Marcus Kraft zu tanken, Inspiration zu erspüren, seine Schreibhemmung zu überwinden.
Doch die Ereignisse überrollen Marcus. Noch ehe er nach Aurora aufbricht, erfährt er von Harry am Telefon, was kurze Zeit später alle Medien in die Öffentlichkeit hinausposaunen: Auf seinem Grundstück wurde die Leiche der seit August 1975 verschollenen Nola Kellergan, 15, entdeckt – und daneben ein Manuskript von »Der Ursprung des Übels«; nun wird sein Autor unter Mordverdacht verhaftet; wird er verurteilt, droht ihm die Todesstrafe.
Marcus, in dessen Bücherschrank ein handsigniertes Exemplar des »Ursprungs« prangt, möchte seinem Mentor in der schwierigsten Phase seines Lebens zur Seite stehen. Er fährt umgehend nach Aurora, bezieht die Villa, kontaktiert seinen Anwalt, besucht Harry im Untersuchungsgefängnis und glaubt seinen Unschuldsbeteuerungen. Denn laut Polizeiakten wurde Nola am Tag ihres Verschwindens im August 1975 von einer alten Witwe beobachtet. Das schreiende Mädchen wurde auf der Straße von einem Mann verfolgt, der sie hinterrücks mit einem Hieb verletzt haben musste. Blutüberströmt schleppte sie sich in das Haus der Frau, der Täter folgte ihr und erschoss die Witwe. Seitdem fehlt jede Spur von Nola.
Doch in der bigotten Kleinstadt findet die aufreizendere Version vom entlarvten Prominenten größeren Anklang. Kein Mann, der die frühreife minderjährige Nola nicht begehrt hätte! Keine Mutter, die den berühmten Autor nicht als gute Partie für die eigene Tochter auserwählt hätte! Niemand, der die beiden nicht dafür verabscheut hätte, ein Techtelmechtel miteinander begonnen zu haben! Und jetzt zerreißt sich jeder den Mund darüber, dass der feine Professor in ihrer Mitte in Wirklichkeit ein perverser pädophiler Triebtäter ist ...
In der Tat sind die Indizien erdrückend, Harry kann zu seiner Verteidigung nicht viel beitragen, und Marcus wird unmissverständlich klar gemacht, dass seine Nachfragen bei den verschlossenen und von Vorurteilen geblendeten Dörflern unerwünscht sind, zumal er allerhand Schmutz aufwühlt. Hängen anfangs anonyme Nachrichten an der Tür (»Fahr nach Hause, Goldman.«), geht schließlich Harrys Villa in Flammen auf.
In was für ein Wespennest hat Marcus da hineingestochen? In Zusammenarbeit mit Gahalawood, einem sympathischen Staatspolizisten, führt er seine eigenen Ermittlungen, und nebenbei legt er damit das Fundament für seinen neuen Roman: »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert«.
Als zentrale Figur erweist sich Nola. War sie eine ›Unschuld vom Lande‹, oder unterhielt sie gar Beziehungen zu mehreren Männern? Könnte – trotz aller Heimlichkeit – doch jemand davon Kenntnis erlangt haben, was sich zwischen Harry und ihr abspielte? Je tiefer Marcus bohrt, desto mehr unerwartete Neuigkeiten kommen ans Tageslicht, wobei auch das bislang makellose Bild seines Meisters Risse erhält. Kaum haben wir uns von einer neuen Version der Wahrheit überzeugen lassen, müssen wir uns schon wieder auf die nächste Variante einstellen, und ganz am Ende sieht die Welt dann doch ganz anders aus ... Diese Strategie der permanenten Wendungen hat Autor Joël Dicker zum verwirrenden Vergnügen seiner Leser gut konzipiert und logisch stimmig realisiert.
Damit befindet er sich durchaus im Einklang mit der Prämisse, nach der seine beiden Schriftsteller-Kollegen Harry und Marcus bisher ganz flüssig durchs Leben gerauscht sind: »Das Leben ist eine Mogelpackung.« Schon an der Highschool hat sich Marcus als perfekter Hochstapler den Beinamen »Der Fabelhafte« verdient; seinen Abschluss hat er nur geschickter Mogelei zu verdanken. Und der berühmte Harry ist aus dem gleichen Holz geschnitzt: Niemand in New York kannte den Blender, der sein erstes Buch auf eigene Kosten in Brooklyn drucken ließ. Immerhin hatten die beiden Erfolg; etliche andere Figuren müssen hingegen zwar ebenfalls ständig mogeln, um ihren äußeren Schein zu wahren, bleiben aber auf der Seite der Loser, wie etwa ein reicher Unternehmersohn, der seine Homosexualität verbergen muss; ein Chauffeur mit furchtbar entstelltem Gesicht, der leidenschaftlich seiner Malerei frönt; ein Sektenprediger und seine Frau, die Gutes tun, um das Böse auszutreiben; ein Ehemann, der seine Frau nachts mit Schlaftabletten ruhig stellt.
Dieser Roman vereint diverse Genres: Er ist Krimi, amerikanisches Kleinstadtdrama, Lolita-Romanze und ein Seitenhieb auf den Literaturbetrieb. Auch wenn manche bereits bekannte Episode zum ersten, zum zweiten, zum dritten, zum x-ten Mal wiederholt wird, die Liebesgeschichte arg oberflächlich bleibt und die Briefe der Liebenden knapp an der Kante des Kitsches entlang schrappen, mag man das schwere Druckwerk nicht vor der 736. Seite aus der Hand legen, denn der Plot ist clever und sein Ausgang bis zum Schluss offen. So ist dem Schweizer Autor Joël Dicker mit »La Vérité sur l'affaire Harry Quebert« im Alter von gerade mal 27 Jahren gleich ein bemerkenswertes Werk gelungen, das 2012 die französischen Bestsellerlisten erstürmte, viele Literaturkritiker begeisterte, mit dem Prix Goncourt des lycéens, dem Grand Prix du Roman und dem Prix littéraire de la Vocation ausgezeichnet und inzwischen in mehr als dreißig Sprachen übertragen wurde. Die deutsche Version – übersetzt von Carina von Enzenberg – erschien im August 2013 bei Piper, und da schwappte der Hype um das Buch kurzzeitig auch nach Deutschland über. Für mich ist der Schmöker allemal gut gemachte Unterhaltungsliteratur, aber sicher kein dauerhaft leuchtender Stern am Literaturhimmel.