Rezension zu »Die Geschichte der Baltimores« von Joël Dicker

Die Geschichte der Baltimores

von


Familienroman · Piper · · Gebunden · 512 S. · ISBN 9783492057646
Sprache: de · Herkunft: fr

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Glück und Glas

Rezension vom 09.08.2016 · 16 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Der Schweizer Autor Joël Dicker meldet sich zurück. Nach seinem erfolg­reichen Best­seller-Debüt »Die Wahr­heit über den Fall Harry Quebert« ist jetzt der Nach­folger auf Deutsch erschienen. Im Mittel­punkt der »Geschichte der Balti­mores« steht erneut der Schrift­steller Marcus Goldman, der sich dieses Mal aber der eigenen Familien­historie an­nimmt. Denn »die Balti­mores« sind tat­sächlich der strah­lendere, glück­lichere Zweig der Goldman-Familie, der im neu­englis­chen Balti­more, Mary­land, er­blühte, während »die Mont­clairs«, also die Goldmans aus dem un­glamou­rösen Provinz­städt­chen Montclair, New Jersey, als Inbe­griff des Ver­sagens und der Schuld gelten. Dies ist jeden­falls die schlichte Welt­sicht, die Marcus' Groß­eltern kulti­vieren.

Ursprünglich gab es nur eine Familie Goldman, und es war die ange­sehenste der Gegend. Großvater Max Goldman betrieb eine florierende Firma für medizi­nischen Bedarf und legte damit den Grund­stock des Wohl­stands seiner Familie. Die Söhne Saul und Nathan sollten im Verlauf der Sech­ziger und Sieb­ziger Jahre das Unter­nehmen fort­führen. Beide schaffen sich eigene solide Grund­lagen: Nathan studiert Inge­nieur­wissen­schaften, steigt als Direktor in die Firma ein, heiratet und bekommt einen Sohn, Marcus. Saul wird (entgegen dem Wunsch des Vaters) Jurist, heiratet Anita und bekommt eben­falls einen Sohn, Hillel. Doch dann eskaliert ein Streit zu einem radikalen Bruch zwischen Saul und dem stolzen Patriar­chen Max. Obwohl die Familien einige Jahre später wieder zu­sammen­finden, haben sich ihre Wege zwischen­zeitlich in jeder Beziehung weit vonein­ander entfernt.

In den Neunzigerjahren wohnen die Großeltern in einer kleinen Wohnung in Miami, Saul mit Hillel in Balti­more und Nathan mit Marcus in Mont­clair. Es ist die Zeit, in der Marcus zwischen den beiden Gold­man-Zweigen pendelt, die lebende Verbindung bildet, was ihn später in die Lage versetzt, zum Chronisten der breit angelegten, ereignis­reichen Familien­saga zu werden. Schon früh hat er gelernt, dass er nicht mit golde­nen Löffeln im Mund geboren wurde. Seine Mutter verdient als Verkäu­ferin in einem Mode­geschäft ein wenig dazu, die Familie fährt einen mick­rigen Honda. In den Ferien, an langen Wochen­enden und an Feier­tagen aber lernt der Junge die andere Seite kennen. Bei den »Balti­mores« verbringt er die »schönste Zeit der Kindheit und Jugend«.

Die »Baltimores« – das sind Wesen einer anderen Dimen­sion, »Lieb­linge der Götter« im glei­ßenden Licht allum­fassen­den Glücks, von Erfolg und Reich­tum gekrönt, von den Groß­eltern hochge­schätzt und unver­blümt bevor­zugt. Onkel Saul, Star­anwalt, engagiert sich auch für sozial Schwächere, Tante Anita ist Ärztin, Cousin Hillel besucht eine Privat­schule. Sie wohnen in Oak Park, wo alles größer, schöner, »glück­licher, erfüll­ter, ehrgei­ziger« ist und selbst die sonn­tägli­chen Jogger »athle­tischer« daher­traben. Wenn Saul in seiner Chauffeur ge­steuer­ten Luxus­limou­sine aus seiner Kanzlei heim­kehrt, ver­sichern ihn die kaum wahr­nehm­baren Hand­zeichen zwischen dem Sicher­heits­be­diens­teten und ihm, dass er hier­her gehört, in eine Welt des und der Er­lese­nen, abge­schottet gegen jegliche Unbill, wo Dienst­boten alle läs­tigen Aufgaben im und am luxu­riösen, monu­mentalen Haus über­nehmen.

Der junge Besucher aus der Montclair-Gegenwelt wird hier voll­ständig absor­biert. Schon während der Zug­fahrt tauscht er seinen engen »Mont­clair-Anzug« gegen edles »Balti­more-Tuch«. Onkel und Tante ver­wöh­nen ihn groß­zügig, Cousin Hillel und er ver­stehen sich wie Brüder. Kürzlich hat die Familie einen Jungen aufge­nommen, der Saul in einem Heim für schwer Erzieh­bare aufge­fallen war. Woodrow Finn (»Woody«), etwa gleich­altrig wie die Cousins, stammt aus einer zer­rütte­ten Familie. Obwohl er wieder­holt wegen kleiner Delikte, zu denen andere ihn ange­stiftet haben, von der Polizei aufge­griffen wurde, steckt in ihm ein guter Kern. Ohne Wenn und Aber ist Woody als »Balti­more« integriert und lebt als solcher stan­des­gemäß in Saus und Braus.

Hillel, Woody und Marcus entwickeln sich zu einer unzer­trenn­lichen, brüder­lichen »Drei­faltig­keit«. Die »aller­besten Freunde« geloben ein­ander, ihr Blut ver­mischend, immer­wäh­rende Treue. Als sie fünf­zehn Jahre alt sind, nehmen sie die neu hinzu­gezogene sieb­zehn­jährige Alexandra Neville in ihren Bund auf. Wie kaum anders zu erwarten, finden Marcus und das Mädchen bald zuein­ander, denn beide sind Künstler­naturen. Später folgen beide ihren Erfolgs­spuren: Während die Song­writerin von Millionen Fans ange­himmelt wird, avanciert Marcus zum »auf­streben­den Stern am ameri­kanischen Literatur­himmel«.

Auch Sportskanone Woody öffnet sich eine glänzende Karriere. Der High­school-Trainer entdeckt sein Aus­nahme­talent, Woody trainiert hart und ehr­geizig, Hillel coacht ihn. Doch kurz vor Unter­zeich­nung eines mil­lionen­schweren Profi­vertrages in der National Foot­ball League fliegt er wegen Dopings auf. Woody beharrt auf seiner Unschuld, vermutet eine Ver­schwö­rung, stürzt ab, will nicht mehr bei den »Balti­mores« leben. Die Dramatik nimmt Fahrt auf, stürzt einer brodelnden Katastrophe ent­gegen, die sich schließ­lich in einer melo­drama­tischen Szene entlädt.

Marcus Goldmans Roman ist die Einlösung eines Versprechens an seinen geliebten Onkel Saul, eine Art Denkmal für seine Cousins, die Goldman-Jungs, und eine Abbitte für seine eigenen schuld­haften Ver­stri­ckun­gen. Dank seiner ausge­fuchsten Struktur kann man das Buch nur schwer zur Seite legen. Das Familien­epos wird in Rück­blenden auf­berei­tet, unter­brochen von dem Hand­lungs­strang um die Bezie­hung zwischen dem Erzähler und Alexandra, Jugend­freundin, Geliebte und Super­star. Diese Ein­schübe und jede Menge Brüche im Hand­lungs­verlauf sorgen dafür, dass wir immer dann, wenn die Spannung ihren Höhe­punkt erreicht, inne­halten und uns gedul­den müssen – die Fort­setzung folgt an anderer Stelle.

Obendrein kündigt bereits der Prolog eine verhängnisvolle Entwick­lung an, ein Unheil, das über fünf­hun­dert Seiten hin alles erzählte Glück wie eine dunkle, sich zu einem Gewitter auftür­mende Wolke über­schattet. So verfällt man den »Balti­mores« regel­recht, erwartet die ange­kündigte Katastrophe, wann und aus welchem Grunde die »Lieb­linge der Götter« wohl aus dem Paradies verstoßen werden. Auch dem Pro­ta­gonisten bleibt manches Geheim­nis über Jahre ver­borgen, manches Ereignis rätselhaft, bis er erst am Ende (im Jahr 2012) alle Zu­sam­men­hänge erfassen wird.

»Le Livre de Baltimore« Joël Dicker: »Le Livre de Baltimore« bei Amazon (übersetzt von Brigitte Große) ist aber kein Krimi, sondern ein emo­tions­gela­dener Unter­haltungs­roman voller schick­sal­hafter Wen­dungen. Vertrauens­volle Freund­schaft, Suche nach Aner­kennung, Erfolgs- und Gewinn­streben, Rivalität, Eifer­sucht und Neid sind starke Trieb­kräfte für großes Kino. Und Dicker lässt seine Tinte oft ziemlich dick auslaufen. Damit alles schön deutlich wird, gibt es nur schwarz oder weiß, oben oder unten, konträre Extrem­formen in allen Lebens­lagen. Ein paar Zwischen­töne, etwas Diffe­renzie­rung hätten der Realitäts­nähe gut getan und dem Buch etwas mehr Tief­gang verschafft.


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Kommentare

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Zu »Die Geschichte der Baltimores« von Joël Dicker wurden 1 Kommentare verfasst:

Lilia schrieb am 12.08.2020:

Nach etwas mehr als 100 Seiten wollte ich mal im Internet nachlesen, ob der Autor mich veräppelt und irgendwann der Satz kommt: Ok, ich hab in meinem Leben zu viele Hollywood—Schrottfilme gesehen und jetzt ist Schluss mit dem Klamauk, ab sofort erzähle ich die wahre Geschichte der Baltimores. Aber dieser Satz kam nicht und soweit ich sehen kann, warte ich auf den auch vergeblich. Das reinste Klischee bis hierher. Plakativ, überzogen, banal. Na gut, manchmal muss man mit einem Buch halt auch ins Klo greifen.

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