Über die Zerrissenheit einer Seele auf der Suche nach dem Glück
Diesen alten Bergbauernhof zu kaufen ist ein bewusster Entschluss: Journalist Richard, Ehefrau Selma und ihre beiden Söhne wollen das vierhundert Jahre alte Haus, das seit Jahren leer stand, von Grund auf wieder bewohnbar machen. Jede andere Hausfrau hätte protestiert: "so ein mittelalterliches Grottenloch!" (S. 11). Aber hier sind sie mitten in der Natur und weit weg von städtischen Umtrieben. Zoderer schildert mit Hingabe all die erforderlichen groben und feinen Tätigkeiten, die Zusammenarbeit der Familienmitglieder mit den Handwerkern und die intensive Naturstimmung. Bäume, Gras, Schnee und Regen evozieren Empfindungen, Assoziationen, Metaphern, Synästhesien.
Nach Jahren des Stadtlebens will Richard in dieser Abgeschiedenheit Abstand finden zu der heftigen Liaison mit einer Kollegin namens Ursula, die ihn verlassen hat, weil sie mit ihrer Nebenrolle nicht mehr zufrieden sein kann. Zwar ist die Zeit des Doppellebens beendet; zwar will er seiner Frau Selma, die er betrogen und belogen hat, keinen Schmerz mehr zufügen; doch innerlich hat Richard noch nicht abgeschlossen mit jener Beziehung. Das Haus wird seine Therapie: Er "arbeitet sich die Liebe vom Leib, schwitzt das Unglücklichsein aus den Poren" (S. 20). Mit den Jungen tollt er in der Natur, und mit Selma erlebt er wieder etwas, das er Glück zu nennen kaum wagt.
Dann – Ende der 1980er Jahre – wird Richard mehr und mehr im Ausland eingesetzt. In Berlin begegnet er Ursula, erfährt, dass sie mit einem Spanier verheiratet ist, in Barcelona lebt. Seine Gedanken umkreisen sie erneut, und sie hat keine Probleme damit, ihre Liebesbeziehung zu Richard wieder aufzunehmen.
Bei aller sprachlichen Ästhetik fand ich den Roman eher anstrengend zu lesen. Im thematischen Mittelpunkt steht Richards Zerrissenheit in seinen Beziehungen zu Frauen. Ständig neu reflektiert er seine Empfindsamkeiten. Dass er während des Mauerfalls, der wohl aufregendsten Zeit der neueren deutschen Geschichte, in Berlin arbeitete – noch dazu als Journalist -, dient Zoderer nur als Hintergrundfolie. Ich hätte mir in dieser durchaus reizvollen und potenzialreichen Konstellation öffentlicher und privater Gegebenheiten eine markantere Handlung gewünscht.
Immer wieder finden sich – anfangs häufig, gegen Ende immer spärlicher – kursiv gedruckte Absätze in erlebter Rede. Sie transportieren Richards Innensicht auf seine Beobachtungen, Sinneseindrücke, Gedanken, Reflexionen, Episoden; doch leider verhalfen mir auch diese psychologischen Miniaturen und sprachlichen Gemmen nicht zu einem rechten Zugang zum Protagonisten. Er ist mir durchweg fremd geblieben.
Was sind die "Farben der Grausamkeit"? Richard bezeichnet sich selber als Grausamkeitsspezialisten, der von einer Lebenswelt (der mit Selma) in die andere (der mit Ursula) zu wechseln imstande ist. An anderer Stelle sagt Richard, er sei "dankbar für seine Grausamkeiten gegen andere und gegen sich" (S. 72). Wenngleich "blutlos", seien sie immer unerträglicher geworden und hätten ihn zu Fragen genötigt, die "sein weißes Schafsfell über Nacht geschwärzt" hätten. "Schwarz war die Farbe seiner Wahrheit" (S. 72) – also grammatikalisch wie inhaltlich Singular; weitere symbolisch bedeutsame Farben sind mir nicht untergekommen.
Zoderers literarischer Anspruch ist sicher hoch anzusetzen, und seine virtuose Sprachmächtigkeit – beispielsweise in den opulenten Schauplatzschilderungen zu bestaunen und zu genießen – erfüllt ihn ebenso wie die Worte und Gedanken, die der Autor seinem Protagonisten in Mund und Seele legt. Doch wie äußert sich Ursula über ihren "katalanischen Poeten"? "Er ist ein guter Schriftsteller, auch wenn er kaum gelesen wird, zu kompliziert, was er schreibt, um von den Massen gelesen zu werden" (S. 295 f.) ...
Joseph Zoderer erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. die Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001) , den Hermann-Lenz-Preis (2003) und den Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2005).