Eine Hündinnennatur
Ihren richtigen Namen erfahren wir gar nicht. Als Kind nannten die Leute sie den »roten Bankert«, dann »Scheelauge«. Dabei schielt die Frau nicht, noch sieht sie irgendwie ungewöhnlich aus. Die Menschen bezeichnen sie so abfällig, weil sie ihnen unheimlich ist. Einen ihrem starken Wesen gerecht werdenden Namen gibt ihr erst der Mann, dem sie geradezu verfällt: »Wildauge«.
Im Frühjahr 1944 lebt die sonderbare Frau, die ihre Geschichte erzählt, in Petsamo, Lappland, hoch oben am Rande des Eismeeres. Sie ist 36 Jahre alt und unerfahren in der Liebe. Seit 1929 arbeitet sie als ungelernte Geburtshelferin, denn ihre Ausbildung erhielt sie nicht in einer Schule, sondern bei Aune Näkkälä, einer »saamischen weisen Frau«, die das uneheliche Töchterchen eines Kommunisten (daher »roter Bankert«) eine Zeitlang »als eigen Kind« bei sich aufgenommen hatte. Nichts als »Teufelszeug«, so die einhellige Meinung der anderen, hat Aune ihr beigebracht: Beschwörungsformeln, Zaubersprüche, Kräuterlatein, um allerlei Zipperlein zu vertreiben, wie »Schweineschmalz und Harz« als Wundsalbe, Gurgeln »mit Ofenruß und Salzwasser« gegen Bauchschmerzen, ein Trunk aus »Honig und Gemeinem Ziest« gegen die Melancholie.
Wenn sich eine Geburt ankündigt, schwingt sie sich aufs Rad, um zu helfen. Mit Fragen nach den Umständen der Schwängerung oder dem Vater hält sie sich nicht auf (seit die »Teutonen« im Land sind, »geht das Schlachtvieh ebenso flöten wie die Keuschheit der Mädchen«), sondern packt zu, wie sie kann, ohne Hemmungen, eine mit Schleim und Blut beschmierte Nabelschnur mit ihren Zähnen durchzubeißen. Für ihre Hilfe bezahlen kann sie niemand, denn die kriegsgebeutelten Menschen haben alle nichts zu beißen außer »Brot aus Flechten und Rinde«.
Im Hause des reichen Schnapshändlers Jouni Näkkälä nimmt ihr Schicksal eine entscheidende Wendung. Aune Näkkäläs Tochter Lispet erwartet ein uneheliches Kind, doch ihre Mutter verweigert dem sündigen »Deutschenflittchen« den Beistand. Aber »Scheelauge« holt den Säugling ans Licht der Welt (die im Übrigen nichts Gutes für den »behaarten Balg« bereithält). Die authentische Szene nordischer Folklore hält ein deutscher Offizier mit Kamera und Stativ für den »Lappland-Kurier« fest. Mit seinen blank gewichsten Stiefeln, dem Totenkopf auf der Uniformmütze, »Gestapo-Cape und SS-Runen am Kragen« fällt er »Scheelauge« auf, und als sein Blick in die Runde geht und er sie fokussiert – »der Blick eines Rentierbullen, der eine Rentierkuh gewittert hat« –, spürt sie eine tiefgreifende Veränderung in sich, eine nie gekannte, sehnende Weiblichkeit.
Der Deutsche, eher passiv und zurückhaltend veranlagt, spürt nichts von seiner Ausstrahlung auf »Scheelauge«, noch kann er ahnen, dass ihre Sehnsucht nach ihm so heiß lodert, dass sie ihm bedingungslos nachfolgen wird. Um ihm nahe zu sein, nimmt sie einen Posten im deutschen Kriegsgefangenenlager Titowka an, wo er stationiert ist. In dieser unmenschlichen Umgebung durchleben die beiden ihre kurze, intensive Liebe.
Als die Rote Armee heranrückt, flieht »Scheelauge«, als Kollaborateurin in größter Gefahr, im Oktober 1944 in eine entlegene Fjordlandschaft. In einer einsamen Holzhütte, einem Versteck, das beiden bekannt ist, fühlt sie sich sicher genug und schreibt ihre Geschichte auf, hoffend, dass ihr Geliebter noch vor Wintereinbruch bei ihr eintrifft. Doch er erreicht sie erst Anfang Februar, kurz nachdem sie, viel zu früh, die gemeinsame Tochter Helena geboren hat. Mutter und Kind sind von den Entbehrungen vollständig ausgezehrt. Während die Eltern im März 1945 unter unklaren Umständen erschossen werden, überlebt das kleine Mädchen und wächst in Jouni Näkkäläs Haus auf.
Wie aus dem »roten Bankert« »Scheelauge«, dann »Wildauge« wird, wie die »gefürchtete Matratzenwärmerin eines SS-Obersturmführers ... im Zweiglager 322 Titowka den Hengsten die Hoden abschnitt und die Arbeiten eines Todesengels verrichtete«, steht in den Aufzeichnungen, die ihre Tochter Helena Angelhurst erst im Jahre 1985 durch Zufall entdeckte. Auch Vater Johann Angelhurst hatte schon zuvor seine Kriegserlebnisse und Befindlichkeiten in Tagebüchern festgehalten. Aus diesen und weiteren Quellen hat die junge Autorin Katja Kettu, Helena Angelhursts Tochter, auf kreative Weise einen Roman gestaltet, der zugleich besticht, befremdet und provoziert, durch seine Sprache, seine Figuren und seine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen während der Kriegsjahre in Finnland.
Johann/Johannes Angelhurst ist vielleicht der bemerkenswerteste, sicher der vielschichtigste und gefordertste Charakter in diesem Roman. Wiewohl SS-Offizier, ist er weder brutal noch herzlos, sondern feinfühlig und eher eine Künstlernatur. Im September 1941 war er in der Ukraine im Einsatz und nahm dort am Massaker von Babi Jar teil. Dieses Erlebnis erschütterte ihn zutiefst, so dass er eine Neurose davontrug. Nach langem Lazarettaufenthalt wurde er als Dokumentar nach Lappland abgeordnet, um illustrierte Berichte über die »Brudervölker« zu verfassen.
Von seinen Traumata verfolgt und neuerlich beklemmenden Zuständen im Lager Titowka ausgesetzt, betäubt sich Johann mit starken Beruhigungsmitteln und flüchtet, wann immer sich die Gelegenheit bietet, in sein Steckenpferd, die Fotografie. Dort erträgt er die Welt, »wenn sie im Okular der Kamera auf dem Kopf steht«. Doch Lagerkommandant Hermann Gödel, mit dem ihn seit der Ukraine tiefe Feindschaft verbindet, bürdet ihm wieder Grauenvolles auf: »Unser Johann versteht sich aufs Graben von Gruben.« Ein »Schwimmbecken«, gaukelt sich Johann Angelhurst vor, bis er die »Sonderaktion 1005« drogenbenebelt, in Wahn verfallen hinter sich gebracht hat. Bevor die Russen kommen, müssen Massengräber ausgehoben, die Leichen daraus verbrannt, alle Spuren und Beweise des Geschehenen beseitigt werden.
Ein weiteres düsteres Geheimnis lauert hinter der weißgekalkten Tür des großen, von Stacheldraht umzäunten Gebäudes mit dem Schild »Operation Kuhstall«. Der Zutritt ist strengstens verboten.
Seine bösen Träume kann Johann nur der ungewöhnlichen Frau anvertrauen, die ihn verfolgt und die er ebenso liebe- wie respektvoll »Wildauge« nennt. Ihn beeindrucken die urwüchsige Kraft, die sie ausstrahlt, und ihre Furchtlosigkeit gegenüber dem gefährlichen Gestapomann, mit dem sie spricht wie mit ihresgleichen, während sie seine Stiefel und seinen Rock bürstet. Wenn er nach mehrtägiger Abwesenheit wieder auftaucht, bereitet sie ihm wohltuende Dampfbäder aus Vogelmilch, fügt Kräuterwasser hinzu, legt ihm ein heißes Lavendelhandtuch auf die Stirn. In ihrem Bannkreis fühlt er sich sicher, behütet und sonderbar stark.
Im Lager arbeitet die Frau als Krankenschwester. Neu eingelieferten Gefangenen lässt sie den Kopf scheren, den Körper entlausen, sie horcht Lungen ab, meldet Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten, vor allem aber »Vorhautlose«, damit sie in ein anderes Lager gebracht werden. Die »Mediziniza« führt auch kleine Operationen durch, wie Körperteile absägen und abgestorbenes Gewebe aus dem Fleisch schneiden. Wenngleich sie das ohne Desinfektionsmittel und ohne Betäubung scheinbar teilnahmslos erledigt, ist sie doch erschüttert von den menschlichen Wracks, die schlotternd vor ihr leiden. Lagerführer Gödel meint dagegen, sie seien selber schuld an ihrem Zustand. Mager seien sie, weil sie »keine Lust« haben, »für ihr Essen zu arbeiten«.
»Kätilö« ist ein drastischer, roher Kriegsroman und ein Liebesroman voller triebhafter Leidenschaften. Der dritte und erfolgreichste Roman der finnischen Schriftstellerin, Sängerin und Filmproduzentin Katja Kettu hat international Aufsehen erregt und wurde kontrovers aufgenommen. Allgemeine Anerkennung fand ihr sprachliches und gestalterisches Talent. So archaisch wie die Menschen und die Natur erscheinen, so urgewaltlich frei wirkt die zügellose, derbe, dann wieder zarte und poetische Sprache der Erzählerin. Ihr Spiel mit den Bedeutungen, Klängen, Rhythmen und Bildern der Wörter, die sie nach Belieben abwandelt, montiert oder frisch erfindet, verschafft ungeahnte Erfahrungen: »Ich bin kein Haariges Weidenröschen und keine Sumpfblüte, niemandes Schwanzbürste oder Lieblingsarsch, kein Wachstrichterling oder Blätterpilz, kein Hungerhappen und nicht der Leierkasten für die Jungs von der Feuerwehr, keine Miederklopferin oder Mietdroschkenhure, keine Steckdose, kein Soldatentrost und keine Spritztasche. Keine Entsafterin, keine Wackelsuse und keine Lapplandzulage, kein Passierschein, keine Visitenkarte, kein Tor zu Lappland. Das alles bin ich nicht.«
Natürlich können wir diese Kunststücke nur nachvollziehen, weil die Übersetzerin Angela Plöger ebenfalls eine Meisterleistung erbracht hat. Ihr Nachwort »Lapplandkrieg und (die) Wörterschlacht« erläutert höchst aufschlussreich und an Hand konkreter Beispiele, welche Hürden zu überwinden waren; äußerst lesenswert für jeden, der sich für Sprache und die Arbeit des Übersetzens interessiert.
»Wildauge«, die Erzählerin, ist ein Wesen, das dem Triebhaft-Animalischen näher steht als dem Zivilisiert-Kultivierten und keinerlei Tabus kennt. Mit ihrer »Hündinnennatur«, die im grausamen Kriegsgeschehen verwildert, kann man ihre Ausdrucksweise legitimieren und gewöhnt sich nolens volens an despektierliche, alltagsordinäre Formulierungen wie »Schwanz« und »Möse«, »markieren« und »bespringen«, »trächtig sein« und »kalben«, auch an unverhohlen ausgeführte Intimtätigkeiten wie »an den Achselhöhlen schnuppern«. Aber Leser haben Schamgrenzen – jede/r auf anderer Schwelle –, deren Verletzung sie mehr oder weniger schmerzvoll hinnehmen oder auch abblocken, indem sie das Buch nicht weiterlesen wollen oder können. In meiner Rezension möchte ich Ihre Schmerzgrenze nicht durch Zitate ausreizen, aber nicht verhehlen, dass die Autorin die meine mehrmals heftig übertreten hat. Mit fortschreitender Handlung trifft man häufiger auf Szenen, in denen Auswüchse sexueller Art derart obszön, ekelerregend und abstoßend beschrieben sind, dass das Lesen zur unzumutbar peinlichen Angelegenheit werden kann.