Rezension zu »Tagebuch eines Mörders« von Kerstin Ekman

Tagebuch eines Mörders

von


Kriminalroman · Piper · · Gebunden · 245 S. · ISBN 9783492054270
Sprache: de · Herkunft: se

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Der Geruch von Bittermandel

Rezension vom 29.07.2011 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Hjalmar Söderberg, 1869 in Stockholm geboren, ist bis heute einer der meistgelesenen und beliebtesten Schriftsteller des fin-de-siècle in Schweden. Nach seinem Debütroman "Verirrungen" (1885) erschien 1905 sein Meisterwerk "Doktor Glas". Dieser Roman, der nach verbreiteter Meinung gegen die Sitten und den guten Geschmack verstieß, löste damals einen Skandal aus und wurde besonders in den konservativen Kreisen der Gesellschaft als unmoralisch und abstoßend verabscheut. Männer leben ihren exzessiven Geschlechtstrieb in stinkenden Bordellen aus; die Beschreibungen der heruntergekommenen Frauen, die Hilfe bei Abtreibungen und der Heilung von Geschlechtskrankheiten bei zweifelhaften Hebammen suchen, sind ekelerregend. Söderberg thematisiert einen geplanten Mord, den er unter den gegebenen Umständen rechtfertigt; er weist dem Täter keine Schuld zu.

Kerstin Ekman hat nun in ihrem Roman "Tagebuch eines Mörders" den (fiktionalen) Arzt Dr. Pontus Revinge erschaffen, der schon frühzeitig von Söderbergs Romanen fasziniert ist. Auf meisterliche Weise verbindet Ekman den Revinge-Handlungsstrang – sein Leben bei den Eltern, das Studium als armer Bettelstudent, die Ausbildung zum Arzt, die Anstellung im allgemeinen Garnisonskrankenhaus und schließlich als Angestellter in der Praxis von Dr. Skade – mit dem des Schriftstellers Söderberg. Realität und Fiktion vermischen sich, da sie Biographisches und Textpassagen aus Söderbergs Romanen verwebt. Da trifft Revinge den Autor in einem Café; da ist es Revinge, der ihm den Hinweis gibt, wie man einen Menschen umbringen kann, ohne dass es nachgewiesen werden kann. Allein der zarte Geruch nach Bittermandel, den nur feine Nasen wahrnehmen, könnte auf ein Verbrechen hinweisen, bei dem Zyankali im Spiel ist. Doch Söderberg will die Pillen gar nicht sehen und verlässt fluchtartig das Lokal.

Trotzdem bildet sich Revinge ein, die Geschichte vom "guten Mörder Dr. Glas", die Söderberg Jahre nach dem Treffen veröffentlicht, sei von ihm initiiert worden. Und die Ähnlichkeiten sind ja in der Tat verblüffend: Dr. Pontus Revinge führt Tagebuch und tötet einen Menschen genauso wie Dr. Glas, der ebenfalls tötet und seine privaten Notizen festhält. Die Motive sind allerdings nicht die gleichen: Revinge mordet aus einer Laune heraus, während Glas einer Frau hilft, die ständigen Vergewaltigungen ausgesetzt ist.

Eine herausragende Stärke des Romans ist sein dichtes und beeindruckendes historisch-gesellschaftliches Zeitkolorit. Wie reich an Entbehrungen ist das Leben der Menschen im damaligen Stockholm: Kohleöfen, Schreiben bei Kerzenlicht und viele weitere Details hinterlassen tiefe Eindrücke.

Wir sind in einer Zeit, in der Frauen rechtlos sind, vom Wahlrecht noch nicht einmal träumen können. Gesellschaftlich und räumlich getrennt sitzen die Damen in ihren Kränzchen, während die Männer sich in Clubs oder Geheimbünden treffen.

Mit der Ärztin Ida Tjerning, einem rauchenden, Whisky trinkenden Mannweib mit Schlips um den Hals, lässt Ekman einerseits eine emanzipierte, zukunftsweisende Frau zu, andererseits wird Ida zur Gefahr für Revinge. Ida hinterfragt den plötzlichen Herztod, zweifelt die Aktenniederschrift Revinges an, schlägt eine Obduktion vor. Aber einem männlichen Familienversorger den Arbeitsplatz zu nehmen ist zu jener Zeit undenkbar, und so bleibt der Ärztin nur die Frauenheilkunde, das "Sumpfgebiet", in dem sie nur Katastrophen hervorrufen kann (S. 121).

In dieser Zeit Arzt gewesen zu sein scheint mir fast so schlimm wie im Schlachthaus zu arbeiten. Von Anbeginn an ekelt sich Revinge vor den Ausdünstungen und Gerüchen besonders der Frauen, deren Unterleib sein Arbeitsfeld ist. Hygiene ist noch ein Fremdwort. Seine Untersuchungsinstrumente könnte er bei Dr. Frankenstein entliehen haben ... Glücklich ist er, wenn er nur Rezepte schreiben muss, und ohne Hemmungen hilft er mit Opiaten, Laudanum und anderen süchtig machenden Präparaten.

Kerstin Ekman brilliert in ihrem Roman mit literarischen Stilmitteln. Wir lesen eine Sprache, die steif, umständlich und altertümlich wirkt und uns weit weg von unserer Moderne geleitet. Ekmans Darstellung des psychisch gestörten Dr. Pontus Revinge, der zum Geschlechtsverkehr nicht fähig ist, aber die Reinheit der Tochter Frida aus dem Arzthaushalt Skade zeitlebens schützen möchte, ist bestechend.

Es gäbe noch viel zu rezensieren, zu interpretieren, zu pointieren, aber ich will nicht noch mehr vorwegnehmen. Dieser absolut außergewöhnliche, sehr gute Krimi bietet neben bester Unterhaltung eigene, sehr individuelle Betrachtungsweisen.


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