01012028 – Tag des Weltuntergangs?
Im Sommer 2027 hat sich die Welt in ein Chaos verwandelt. Kriege toben, und Überschwemmungen, Vulkanausbrüche und andere Umweltkatastrophen machen weite Landstriche unbewohnbar. Wellen von Migranten aus ganz Afrika schwappen auf das europäische Festland. Das Fass läuft längst über. Großbritannien hat seinen Tunnel geschlossen. London hat größte Schwierigkeiten mit der Lebensmittelversorgung und der Stromzufuhr: Oft müssen die Menschen im Dunkeln sitzen und ohne Heizung auskommen. Junkies, Menschen ohne Wohnberechtigung und die Ärmsten der Armen haben unbewohnbare Häuser in verslumten Vierteln besetzt. Technisch hat die Stadt aufgerüstet. Kameras und Videoanlagen haben nahezu alle Straßenzüge und Plätze im Blick. Leider hat noch nicht jeder Bürger einen Chip unter seiner Haut, aber die Behörden arbeiten daran. Dann kann jedermann per Satellit permanent geortet werden. Wir sind in Orwells Zukunftsvisionen angekommen. In diesem Überwachungsstaat kann keiner mehr unbeschwert und glücklich leben.
Mutter Jem hatte ihren Sohn Adam und Oma Val immer davor gewarnt, nach London zu gehen, und freiwillig haben sie ihr Haus hinterm Deich am Meer auch nicht verlassen. Aber der Meeresspiegel war in den letzten Jahren bedrohlich gestiegen. Ehe sie von den Fluten des Hochwassers überspült würden, zwangen die Evakuierungsbehörden sie erst in ein Boot, dann in den Bus nach London. Im Sammellager begegnet Adam vielen Menschen. Sie stehen in Schlangen, um sich registrieren zu lassen. Gegen seinen Willen – in dem Gedränge kann er gar nicht anders – schaut ihnen Adam in die Augen, und was er bei den meisten Menschen sieht, macht ihm größte Angst: Es ist die Zahlenfolge "01012028", das Datum ihres Todestages, und gleichzeitig mannigfache, grausame Todesarten. Diese seherische Gabe, die er von Mutter Jem geerbt hat, ist ein Fluch für ihn, um derentwillen er den Kontakt zu anderen gemieden hat, zum Einzelgänger und Sonderling geworden ist und schon am ersten Schultag hier von einer Gang gemobbt wurde. Warum ist er nur mit Oma hierher gekommen? Sie werden mittendrin sein, wenn eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes über London hereinbricht. Werden auch sie sterben müssen wie so viele andere? Sein eigenes Datum kennt Adam nicht.
Im Kunstraum sollen die Schüler Portraits von ihrem Gegenüber zeichnen. Adam findet zunächst keinen Partner – bis sich ein Mädchen namens Sarah zu ihm setzt. In ihren Augen sieht er gleich, dass sie die 28 nicht hat, sie also noch viele Jahre leben wird. Aber warum betrachtet sie ihn so voller Grausen, voller Angst? Er kann nicht wissen, dass sie ihn wiedererkannt hat: Er ist der Junge aus den Albträumen, die sie Nacht für Nacht plagen. Sie schreit im Schlaf, wenn sie den Jungen mit seiner verbrannten, vernarbten Gesichtshälfte sieht, der ihr Baby ergreift und in ein brennendes Inferno rennt ... Sarah will nichts mit Adam zu tun haben, doch gleichzeitig spürt sie ein Gefühl von Wärme. Und Adam glaubt, das Mädchen gefunden zu haben, das er liebt.
Sarah wird jeden Morgen in einem edlen schwarzen Mercedes zur Schule gebracht. Sie kommt aus einem reichen Haushalt. Doch hinter der Fassade von Wohlhabenheit lebt ein Vater, der seine Tochter seit Jahren missbraucht. Jetzt ist Sarah 16 Jahre alt und schwanger, und sie muss weg, um sich und ihr Kind vor ihrem Peiniger zu schützen. Sie klaut Geld, packt ein paar Habseligkeiten, hat aber keinen Plan, wohin sie fliehen sollte. Auf dem Bahnhof lernt sie Meg kennen, die sie in ihre Wohnung mit acht weiteren Mädchen mitnimmt. Sie müssen für ihren Zuhälter anschaffen gehen. Hier kann Sarah nicht bleiben. Eine neue Zuflucht bieten ihr Vinny und seine beiden Kumpels, harmlose Drogenabhängige, die sich mit Dealen durchs Leben schlagen. Bei ihnen wird sie ihr Kind Mia gebären.
Adams und Sarahs Wege werden sich immer wieder kreuzen. Sarah wird klar, dass ihr Albtraum nicht nur ihr eigenes Schicksal vorhersieht, sondern das aller Londoner. Beide spüren eine Verantwortung, wollen die Behörden informieren. Doch wer wird ihnen schon glauben, dass so etwas Furchtbares wie ein Weltuntergang bevorstehe, und außerdem liegen doch Notfall- und Evakuierungspläne in den Schubladen ... Adam wird nicht locker lassen, um die Bevölkerung zu warnen, und sein Freund Nelson, der Computerfreak, hilft mit dem nötigen Know-How.
Dieses Jugendbuch wird jeden begeistern. Rachel Ward erzählt so hautnah, dass der Leser sich mitten ins Geschehen versetzt fühlt. Das Szenario, das sie vom Leben in einer Großstadt der näheren Zukunft ausmalt, hat Hand und Fuß, rechnet aktuelle Tendenzen hoch bis ins Jahr 2028 – und lässt uns erschaudern ... Auch ihr Sprachstil – passend zum Jargon der Sechzehnjährigen – trägt zur Glaubwürdigkeit des Inhalts bei.
Kapitelweise wechseln sich Sarah und Adam als Erzähler der Geschehnisse ab. Die subjektiven Nuancen der beiden Perspektiven ergänzen sich zu einem überzeugenden Gesamtbild.
Die beiden jugendlichen Protagonisten erleben, wie klein und machtlos sie sind. Gegenüber Polizei, Krankenhäusern, Behörden und anderen Institutionen haben sie keine Chance – alle sind vernetzt, Informationen werden blitzschnell weitergeleitet. So wird Adam wegen Mordes verhaftet, und Mia wird zu Pflegeeltern gegeben.
Neben den beiden Jugendlichen gibt es noch die schrullige Oma Val. Sie liebt ihren Nippes, ihre Gartenzwerge, dazwischen steht Opas Urne, von der sie sich niemals entfernen würde. Immer etwas stur und erst einmal skeptisch, kann man mit ihr Pferde stehlen, sobald sie schließlich überzeugt ist. Sie steht voll hinter ihrem lieben Enkel und kämpft für seine, aber auch für Sarahs Rechte. Für Sarah sind Liebe und Behütetwerden ganz ungekannte, neue Empfindungen: So hatte sie sich Familie immer vorgestellt.
Starke Gefühle und Erfahrungen wie Liebe, Hoffnung, Todesangst, Mut und Vertrauen machen diesen Jugendthriller mit Elementen eines Science-fiction-Romans zu etwas Außergewöhnlichem. Meine Top Empfehlung!
P.S.: Rachel Ward erhielt für ihr Debüt "Numbers (1) – Den Tod im Blick" zahlreiche britische Auszeichnungen und die Nominierung für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2011.